Wirtschaftsnobelpreis

Wegbereiter der Arbeitsmarktforschung

Der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften 2021 geht zur Hälfte an den gebürtigen Kanadier David Card, während sich die zweite Hälfte der Amerikaner Joshua D. Angrist und der Niederländer Guido W. Imbens teilen. Alle drei lehren in den USA: Card an der University of California in Berkeley, Angrist am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Imbens an der Stanford University. Mit dem diesjährigen Preis werden drei herausragende Wissenschaftler geehrt, denen wir bahnbrechende Beiträge auf dem Gebiet der angewandten empirischen sowie methodischen Forschung zu verdanken haben. Sie haben entscheidend die Credibility Revolution in der datengestützten ökonomischen Analyse geprägt. Warum bedurfte es überhaupt einer solchen Revolution? Nun, spätestens in den 1980er Jahren gerieten weite Teile der bis dato betriebenen empirischen Forschung unter massive Kritik. Edward Leamer prangerte die fehlende Robustheit ökonometrischer Ergebnisse an, David Hendry beklagte die mögliche Manipulation von Resultaten durch Data-Mining und Christopher Sims die Beliebigkeit beim Setzen von Ausschlussrestriktionen zur Identifikation ökonometrischer Modelle. Hinzu kam die Lucas-Kritik, der zufolge Verhaltensänderungen vorauschauender Individuen Erkenntnisse über die Wirkung von Politikmaßnahmen entwerten. Insbesondere das Unvermögen, in empirischen Analysen Aussagen über kausale Wirkungen zu treffen, wurde als entscheidendes Manko empfunden.

Die Credibility Revolution ist als Antwort auf diese weitgehend berechtigte Kritik zu verstehen. Der Verdienst der diesjährigen Preisträger besteht darin, gezeigt zu haben, wie belastbare Kausalanalysen auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften möglich sind. Als Idealsituation ("Goldstandard") gilt dabei ein randomisiertes kontrolliertes Experiment, das allerdings teils aus ethischen, teils aus Gründen des Aufwandes und der Machbarkeit nur in eher seltenen Fällen durchgeführt werden kann. Auf Kausalbeziehungen ist jedoch auch aus der Auswertung "natürlicher Experimente" zu schließen.

Die Kunst liegt darin, Situationen aufzuspüren, in denen sich für eine Gruppe von Individuen verhaltensrelevante Faktoren exogen verändern, während diese bei einer Kontrollgruppe konstant bleiben. Unter bestimmten Bedingungen lässt sich dann ein kausaler Effekt identifizieren. Besonders eindrucksvoll sind die mit einem solchen Forschungsdesign erzielten Ergebnisse dort, wo sie etablierte Vorurteile in der Profession infrage stellen oder widerlegen. Ein Musterbeispiel dafür ist eine Untersuchung, die Card zusammen mit seinem leider viel zu früh verstorbenen kongenialen Koautor Alan Krueger konzipiert und durchgeführt hat. Darin ging es um die Auswirkungen des Mindestlohns auf die Beschäftigung im Niedriglohnbereich. Betrachtet wurden die Unterschiede in der Beschäftigungsentwicklung in Fast-Food-Restaurants in zwei benachbarten US-Bundesstaaten, New Jersey und Pennsylvania. Zu Beginn der 1990er Jahre war der Mindestlohn in beiden Staaten mit 4,25 Dollar pro Stunde gleich hoch. In New Jersey wurde er 1992 auf 5,05 Dollar angehoben, während er in Pennsylvania unverändert blieb. Die vorherrschende Meinung war damals, dass eine spürbare Mindestlohnerhöhung zu Beschäftigungsverlusten führen müsse. Anhand von eigens erhobenen Daten konnten Card und Krueger nun aber zeigen, dass dies nicht der Fall war. Im Gegenteil, es zeichnete sich in New Jersey gegenüber dem Nachbarstaat sogar eine leicht günstigere Beschäftigungsentwicklung ab.

In "Myth and Measurement", dem in der Folge erschienenen einflussreichen Buch von Card und Krueger, wurden neben den empirischen Resultaten auch theoretische Erklärungen vorgestellt. Das Buch war der Startschuss zu einer Fülle von empirischen Mindestlohnstudien weltweit. Auch wenn das sich daraus ergebende Bild keineswegs einheitlich ist, so hat sich aus dem Ansatz von Card und Krueger doch im Ergebnis zu einer Neubewertung des Mindestlohns als arbeitsmarktpolitischem Instrument geführt.* Ein weiteres inzwischen "klassisches" natürliches Experiment, das Card nutzte, war der Flüchtlingszustrom von 125 000 Kubanern im Jahr 1980 nach Südflorida (Mariel Boat Lift). In Miami wurde dadurch das Arbeitskräftepotenzial in wenigen Monaten um etwa 7 Prozent erhöht. Anhand dieser quasiexperimentellen Ausweitung des Arbeitsangebots ließen sich kausale Effekte auf das lokale Lohn- und Beschäftigungsniveau identifizieren. Wie bei Card steht auch Angrist für den Design-orientierten Ansatz in der Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung. Gemeinsam mit dem Ökonometriker Imbens wurde er aber auch für eine methodische Innovation ausgezeichnet: Diese erlaubt die Ausnutzung natürlicher Experimente unter allgemeineren Bedingungen (heterogene Gruppen und unscharfe Zuordnung).

Die Arbeiten der Preisträger stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Zusammen haben sie gezeigt, dass der ständig erweiterte methodische Werkzeugkasten mächtige Instrumente bereithält und mit der Credibility Revolution ein erfolgreicher Weg beschritten wurde. Unterstützt durch die Fortschritte in der Computertechnik und der immer besseren Verfügbarkeit von Mikrodaten für die Forschung hat die empirische Forschung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften heute einen enormen Stellenwert. Neben beispielsweise Randomized Control Trials oder Regression Discontinuity spielt verstärkt auch Machine Learning eine Rolle im Curriculum ökonomischer Doktorandenprogramme. Gerade auch in der Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Ungleichheitsforschung werden diese Methoden sehr erfolgreich eingesetzt. So lernen wir dank der diesjährigen Preisträger beständig mehr über die kausalen Wirkungen von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen, institutionellen Regelungen oder von Investitionen in das Bildungssystem. Und der Prozess, der durch die Credibility Revolution angestoßen wurde, birgt noch viele nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten.

Prof. Dr. Joachim Möller, Professur für Volkswirtschaftslehre, Universität Regensburg

* Eine Studie für Deutschland zeigt, dass der 2015 eingeführte Mindestlohn in der Summe zu keinen signifikanten Beschäftigungsverlusten geführt hat. Siehe: Reallocation and Minimum Wages: Evidence from Germany, Dustmann, C., Lindner, A., Schönberg U., Umkehrer, M., vom Berge, P., erscheint in: Quarterly Journal of Economics.

Prof. Dr. Joachim Möller , Professur für Volkswirtschaftslehre, Universität Regensburg
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