Philippe Oddo im Redaktionsgespräch mit Philipp Otto

"Die Antwort könnte in einer horizontalen paneuropäischen Konsolidierung liegen"

Philippe Oddo, Foto: ODDO BHF AG

Philippe Oddo ist im doppelten Wortsinn ein Grenzgänger zwischen Frankreich und Deutschland. Der geschäftsführende Gesellschafter des Bankhauses ODDO BHF lenkt von Paris und Frankfurt in sechster Generation das 170 Jahre alte Unternehmen, aus dem durch zahlreiche Zukäufe eine der größten inhabergeführten Banken der Eurozone geworden ist. Entsprechend beschäftigt ihn der Blick nach vorn auf die Zeit nach der Pandemie und die Positionierung des europäischen Bankgewerbes. Im Interview stellt er klare Nachteile der europäischen Banken gegenüber ihren asiatischen und US-amerikanischen Wettbewerbern, aber auch gegenüber den Tech-Giganten fest. Doch statt in den Ruf nach grenzüberschreitenden Fusionen einzustimmen, plädiert Oddo für eine klare Fokussierung der Banken auf ausgewählte Geschäftsfelder - woraus eine horizontale paneuropäische Konsolidierung resultieren könnte, die hochspezialisierte Anbieter hervorbringe. Diese "Industrial Champions" könnten dann sogar ausgegliedert und an der Börse notiert werden. (Red.)

Lieber Herr Oddo, was für ein Zufall, dass wir mehr oder weniger identische Namen haben - Sie die französische Variante und ich die deutsche ...

... stimmt, das ist ein amüsanter Zufall - aber auch irgendwie passend, wenn es um das Thema unseres Gesprächs geht. Unsere Namen sind ein Ausdruck dafür, dass trotz der Sprachgrenze viele Dinge in unseren beiden Ländern, Sprachen und Kulturen ähnlich sind. Wir sind Nachbarn im besten Sinne des Wortes.

Ausgehend von Ihren Wurzeln in Frankreich haben Sie eine echte multinationale europäische Bankengruppe aufgebaut, mit starken Standbeinen in Deutschland und neuerdings auch in der Schweiz. Damit ist die ODDO BHF-Gruppe eines der wenigen Beispiele für eine gelungene grenzüberschreitende Integration im Bankwesen. Was ist das Erfolgsrezept?

Ich glaube, dass es für den Erfolg entscheidend war und ist, die unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten zu verbinden und daraus ein Ganzes zu formen. Während für uns Franzosen zum Beispiel ein Konzept eher eine vage Idee darstellt, ist es für die Deutschen bereits bis ins Detail ausgearbeitet. In Frankreich ist man gerne dynamisch und flexibel, in Deutschland zählen vor allem Pünktlichkeit und Struktur. Letztlich geht es darum, das Beste aus beiden Ländern zu kombinieren. Und das hört nie auf, auch wenn ich sehr zufrieden bin mit dem, was wir bislang erreicht haben. Heute ist es bei uns mehr oder weniger egal, wo ein Kollege sitzt, ob in Paris, Frankfurt, Düsseldorf, Zürich oder an unseren anderen Standorten. Die Teams sind zum Teil multinational, es gibt Führungspositionen in allen Ländern, in denen wir vertreten sind, und im Vorstand der Gruppe sitzen Deutsche und Franzosen gemeinsam.

Was sind neben den Kulturen die größten Herausforderungen beim Aufbau einer grenzüberschreitenden Bankengruppe? Und wie sind Sie mit diesen umgegangen?

Die vielleicht größte Herausforderung war und ist der Umgang mit der immer noch unterschiedlichen Regulierung in den Ländern, in denen wir tätig sind. Das für sich genommen war schon nicht einfach, als wir "nur" in Frankreich und Deutschland aktiv waren. Seit mit Landolt die älteste Privatbank der Westschweiz zu uns gestoßen ist, ist es noch komplexer geworden - auch wenn wir natürlich mit unserem Standort Zürich schon lange in der Eidgenossenschaft vertreten sind und die dortigen Verhältnisse kennen. In je mehr Ländern man aktiv ist, desto komplexer wird es zum Beispiel die IT zu managen, weil diese ja nicht nur die jeweiligen Produkte adressieren, sondern natürlich auch die teilweise sehr stark unterschiedliche Regulierung abbilden muss. Da kommen schnell hochkomplexe Strukturen zustande.

Es gibt nur eine Handvoll Beispiele: ODDO BHF, aber auch spanische Banken oder die Unicredit haben bewiesen, dass Cross-Border-Banking funktioniert. Warum gibt es Ihrer Meinung nach trotzdem immer noch so wenige erfolgreiche grenzüberschreitende Fusionen in diesem Sektor?

Das liegt sehr stark an den kulturellen Unterschieden und mindestens ebenso sehr an den unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Jurisdiktionen. Viele Menschen scheinen sich zu scheuen, diese beiden großen und komplexen Themen anzugehen und zu lösen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass eine überschaubare, agile und private Bank dies besser bewältigen kann als große Konzerne, die noch mehr unterschiedliche Interessen abwägen und ausgleichen müssen, denken Sie nur an die Interessen der Aktionäre.

Technologie ist ebenfalls ein zentrales Thema, und zwar ein viel tiefergehendes als die sichtbare Digitalisierungsdebatte. BBVA und Santander zum Beispiel gehören zu den ganz wenigen Banken in der Welt, die sich über grenzüberschreitende Akquisitionen im Retailbanking erfolgreich entwickelt haben, und das nicht nur in spanischsprachigen Ländern. Denken Sie daran, dass Santander heute eine der größten britischen Retail-Banken und ein großer Kreditkartenanbieter in Deutschland ist. Deren Erfolg hat viel mit ihren IT-Plattformen zu tun, die BBVA und Santander in die Lage versetzt haben, übernommene Banken effizient an Bord zu nehmen. Beide haben gezeigt, dass IT eine strategische Kapazität ist, viel mehr also als nur eine Möglichkeit, Kosten oder Interaktionen mit Kunden zu optimieren. Diese Fähigkeit ist auch für Konkurrenten ziemlich schwer zu replizieren, da sie in der Architektur ihrer IT-Systeme selbst verankert ist.

Was denken Sie, wie es den europäischen Banken im Moment geht?

Im Großen und Ganzen geht es ihnen gut, trotz der Corona-Krise. Das Bankensystem ist stabil, soweit ich das sehen kann, und in der aktuellen Krise sind die Banken zum Glück, im Gegensatz zur Finanzkrise 2007/08, Teil der Lösung und nicht einmal mehr ein Problem. Nichtsdestoweniger zeigt eine tiefere Analyse auch, dass viele Länder in Europa immer noch "overbanked" sind und dass wir natürlich alle noch nicht wissen, wie sich die Pandemie entwickeln wird und welche Folgen das für den Finanzsektor haben wird. Denken Sie zum Beispiel an die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht in Deutschland. Viele Experten erwarten bis zum Ende dieses Jahres einen starken Anstieg der Insolvenzen, der trotz Rückstellungen nicht spurlos an den Bilanzen der Banken vorbeigehen wird. Hinzu kommt, dass sich die meisten europäischen Banken meiner Meinung nach in einem strategischen Dilemma befinden.

Was meinen Sie damit?

Meiner Meinung nach sind die meisten europäischen Banken im Vergleich zu ihren US-amerikanischen und asiatischen Pendants in einer geschwächten Position. Vor allem die US-Banken waren in den vergangenen Jahren viel profitabler als ihre europäischen Pendants. Das hat sich auch während der Corona-Krise nicht wesentlich geändert. Was kann man dagegen tun? Nun, Kostensenkungen sind endlich und grenzüberschreitende Fusionen und Übernahmen mit dem Ziel der Kostensenkung sind höchst unpopulär. Hinzu kommt, dass die Rahmenbedingungen für eine echte Banken- und Kapitalmarktunion immer noch lückenhaft sind, sodass die Vorteile grenzüberschreitender Transaktionen vor allem bei der Aktienbewertung nicht voll zum Tragen kommen.

Das hört sich nicht sehr optimistisch an.

Das stimmt leider. Zudem ist die technologische Entwicklung so rasant, dass aus Sicht der Banken eine Disintermediation stattfindet, denken Sie an Themen wie Zahlungsverkehr, Crowd Lending oder Platzierungsplattformen für Schuldscheine oder Anleihen. Hinzu kommt, dass die Institute in der aktuellen Niedrigzinsphase zu wenig verdienen, kaum ihre Eigenkapitalkosten erwirtschaften und daher kein neues Kapital aufnehmen können. Nicht zuletzt dienen die hohen IT-Investitionen bei vielen Banken nach wie vor in erster Linie dazu, bestehende komplexe Verbundsysteme zu erhalten, die im Wettbewerb mit den Spezialisten nicht mithalten können. Das wiederum hindert die Banken daran, in großem Stil Knowhow von Fintechs einzukaufen, was sie technologisch wieder an die Spitze bringen könnte. Unterm Strich ist ihre "Währung" - damit meine ich die Aktienbewertung - im Vergleich zu den Technologieunternehmen zu schwach.

Das klingt wirklich nach einem ziemlich großen Dilemma. Aber es muss doch einen Ausweg geben, oder?

Aus meiner Sicht könnte die Antwort in einer viel stärkeren Fokussierung der Banken und einer damit einhergehenden horizontalen paneuropäischen Konsolidierung liegen, um echte Skaleneffekte erzielen zu können. Also nicht die grenzüberschreitende Fusion von ganzen Banken. Stattdessen sollten wir uns auf gemeinsame Stärken und besondere Expertise in bestimmten Bereichen konzentrieren. Ich denke, die Strategie der "National Champions" könnte durch eine Strategie der "Industrial Champions" ersetzt werden.

Was bedeutet das konkret?

Es gibt erste Beispiele, aber was noch fehlt, ist die Voraussetzung für solche Schritte, nämlich ein gemeinsamer europäischer Markt. Eine gemeinsame Banken- und Kapitalmarktunion mit einheitlichen Regeln - ein Level Playing Field auch im globalen Kontext - würde sicherlich helfen. Die EU-Kommission hat dazu bereits Pläne vorgelegt. Dennoch haben sich schon heute einige Unternehmen, wie zum Beispiel Amundi, sehr grenzüberschreitend ausgerichtet, hier im Bereich der Vermögensverwaltung. Einen ähnlichen Weg haben wir selbst im Equity Brokerage eingeschlagen. Ein Geschäftsfeld, das nach der Einführung von MiFID II von allen totgesagt wurde, erweist sich in der Zusammenarbeit von Natixis, ABN AMRO, BBVA und ODDO BHF als schlagkräftig genug, um auch in der veränderten regulatorischen Landschaft profitabel zu funktionieren.

Sie sehen also, wenn ich das richtig verstehe, wenigstens ein schwaches Licht am Ende des Tunnels. Aber zersplittert eine solche Kooperation nicht die ohnehin schon extrem kleinteilige europäische Bankenlandschaft noch mehr, als sie es heute schon ist?

Das glaube ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass dadurch weitere europäische Spezialisten entstehen, die im globalen Wettbewerb mithalten können. Das ist genau die Idee der "Industrial Champions", die in bestimmten Geschäftsfeldern zu wichtigen europäischen Akteuren werden und sogar weltweit wettbewerbsfähig werden könnten.

Dies ist ein echter Konsolidierungsprozess, der schon lange vor Covid-19 begonnen hat, aber sehr oft unterhalb des Radarschirms stattfindet, da die Käufer dazu neigen, ihn unauffällig zu gestalten. Es gibt aber ganz klar erfolgreiche Beispiele für diese Strategie. Die schon erwähnte Amundi ist ein klares Beispiel im Asset Management. Aber kennen Sie auch ALD (SG Group) und Arval (BNP Paribas Group)? Sie sind weltweit die Nummer 2 und Nummer 3 im Flottenmanagement und sehr profitabel. Santander ist einer der größten europäischen Akteure im Bereich Konsumfinanzierung. BNP Paribas ist der wichtigste nichtamerikanische Verwahrer von Wertpapieren weltweit und auch einer der wichtigsten Cash-Management-Anbieter in Europa. Dies ist definitiv kein Fragmentierungsprozess, sondern ein echter, starker und effizienter Konsolidierungstrend. Davon werden wir in den nächsten Jahren noch mehr sehen.

Und die Geschichte endet damit nicht: Diese hochspezialisierten Institute könnten ausgegliedert und als Technologieunternehmen positioniert werden. Im nächsten Schritt wäre eine Börsennotierung denkbar, um auf diese Weise eine neue Währung für Akquisitionen zu erhalten. Schauen Sie sich Amundi und ALD an: Beide wurden als eigenständige Unternehmen an die Börse gebracht, um aus eigener Kraft weiterzuwachsen.

Klingt logisch. Bedeutet es aber auch, dass sich die Branche mehr oder weniger komplett neu erfinden muss?

Ich denke, für Banken führt kein Weg daran vorbei. Siemens könnte ein Vorbild für die Finanzindustrie sein, auch wenn das auf den ersten Blick seltsam klingt. Aber lassen Sie mich erklären: Siemens hat sich immer wieder sehr erfolgreich neu erfunden. Siemens hat immer wieder und gerade in der jüngeren Vergangenheit Geschäftsbereiche wie Chips (Infineon) oder Gesundheit (Siemens Healthineers) oder Energie (Siemens Energy) ausgegliedert, eigenständig an die Börse gebracht und damit eine Akquisitionswährung für sich und den ausgegliederten Geschäftsbereich geschaffen. Mit hervorragendem Erfolg an den Märkten.

Aber die Welt, in der ein solch riesiger Technologiekonzern agiert, ist eine völlig andere als die Welt, in der Finanzinstitute sich behaupten müssen.

Ja und nein. Natürlich kann man die Bereiche, in denen ein so riesiges, technologisch und geografisch weitverzweigtes Unternehmen wie Siemens tätig ist, nicht eins zu eins mit uns Banken vergleichen. Aber es geht um das Prinzip, mit dem Siemens seit vielen Jahren erfolgreich agiert: einzelne Themenbereiche auszulagern, um sie noch erfolgreicher zu machen. Und der Mutterkonzern hat dabei immer etwas davon.

Um ehrlich zu sein, bin ich immer noch skeptisch. Deshalb noch einmal die Frage: Ist so etwas in der Finanzbranche wirklich denkbar?

Zugegeben, das Prinzip wird selten angewendet, aber es gibt Beispiele - auch in Deutschland und auch im Bankwesen. Denken Sie an die deutschen Sparkassen und den genossenschaftlichen Sektor. Die schrittweise Zusammenlegung der IT der gesamten Sparkassenorganisation oder der Genossenschaftsbanken in den vergangenen zwei Jahrzehnten war ein solcher Schritt, der - wenn ich richtig informiert bin - sehr erfolgreich war. Das war zwar auf Deutschland beschränkt, aber warum sollte so etwas nicht auch grenzüberschreitend funktionieren?

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Corona-Krise?

Die aktuelle Krise kann als Katalysator für die von mir skizzierte Entwicklung wirken, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen erhöht sie den Druck auf alle Beteiligten, etwas zu tun, und zum anderen ist es typisch, dass in Krisen neue Wege gedacht, gewagt und dann oft auch gegangen werden. Es ist also durchaus möglich, dass sich gerade durch die gegenwärtigen Herausforderungen ganz neue Möglichkeiten für alle Banken und in allen europäischen Ländern eröffnen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die europäische Bankenlandschaft ganz anders aussehen wird als heute, wenn wir die Folgen der Corona-Pandemie vollständig verdaut haben. Es wird wohl noch ein paar Jahre dauern, aber wir sollten diese Krise wirklich auch als Chance begreifen, mutig nach vorn gehen und unsere Stärken im globalen Wettbewerb ausspielen.

Philippe Oddo Geschäftsführender Gesellschafter und Vorsitzender des Vorstands, ODDO BHF AG, Frankfurt am Main
Noch keine Bewertungen vorhanden


X