Redaktionsgespräch mit Michael Völter

"Wir arbeiten seit 2018 am Aufbau eines durchgehenden Ökosystems für digitale Assets"

Dr. Michael Völter, Foto: Börse Stuttgart

Das von Corona geprägte Handelsjahr 2020 hat der Börse Stuttgart die höchsten Umsätze seit 2008 beschert. Michael Völter glaubt, dass die Deutschen in der Krise Wertpapiere für sich entdeckt haben. Denn auch im Januar dieses Jahres bleibt der Handelsumsatz in Stuttgart deutlich über dem Vorjahreswert. Eine wichtige Rolle spielt für den Handelsplatz zunehmend auch das Thema digitale Assets. Hier sei die Börse Stuttgart schon seit 2018 dabei, ein durchgehendes Ökosystem zu schaffen. Völter begrüßt, dass sich hier gesetzgeberisch einiges tut, findet aber noch Kritikpunkte. So findet er es verwunderlich, dass im neuen Gesetz für elektronische Wertpapiere, das 2021 verabschiedet werden soll, noch keine Aktien berücksichtigt werden. Kritik übt er auch daran, dass an einem Zentralregister für Wertpapiere festgehalten werde. Das würde nur Monopolstrukturen zementieren und Innovationen verhindern. Er fordert den Gesetzgeber zudem auf, den Aufschwung der Wertpapierkultur zu fördern und nicht mit neuen Gesetzen zu bremsen. (Red.)

Herr Völter, die Corona-Pandemie hatte zu Beginn des ersten Lockdowns für einen großen Schock an den Aktienmärkten gesorgt. Allerdings hatten sich die Kurse sehr schnell wieder erholt. Der Anstieg der Volatilität geht natürlich auch mit steigenden Volumina einher. Wie groß war dieser Effekt für die Börse Stuttgart?

Die Volatilität ist ein sehr wichtiger Faktor für die Handelsumsätze. Die Anleger nutzen in schwankungsintensiven Phasen ihre Chancen oder bauen Risiken ab. Der März 2020 war der volatilste Monat des letzten Jahres und bei uns mit 15 Milliarden Euro Handelsvolumen der umsatzstärkste Monat seit Oktober 2008. Im weiteren Jahresverlauf haben wir weiterhin erhebliche Marktschwankungen gesehen. Das spiegelt sich im Gesamtumsatz der Börse Stuttgart im Jahr 2020 von 111 Milliarden Euro wider. Damit liegen wir 63 Prozent über dem Vorjahr und haben das umsatzstärkste Jahr seit 2008 verzeichnet.

Es ist wichtig zu betonen, dass wir als Börse Stuttgart für Privatanleger auch in diesen turbulenten Zeiten unser hochwertiges Angebot aufrechterhalten konnten. Wir haben mit unserem hybriden Marktmodell auch in der Corona-Krise unsere Handelsprinzipien - engste Spreads, beste Ausführungspreise und höchste Handelsqualität - umgesetzt.

Aber waren die Systeme schon an der Belastungsgrenze oder war noch Luft nach oben?

Nein, überhaupt nicht. Unsere Systeme sind skalierbar, die IT kann weitere Kapazitäten zuschalten. Insofern kamen wir nicht in die Enge. Die Handelssysteme bewältigten die hohe Belastung ohne nennenswerte Ausfälle oder Störungen.

Es war zu lesen, dass es diesmal - anders als bei früheren Markteinbrüchen - vor allem die Privatanleger waren, die nach dem Einbruch beherzt zugegriffen haben und den Markt damit schnell stabilisiert haben. Können Sie als auf Privatanleger fokussierter Börsenbetreiber diese Beobachtung verifizieren?

Ja, das können wir bestätigen. Wir sind die Privatanlegerbörse Deutschlands. Wenn wir sehr hohe Handelsvolumina haben, lässt das auf sehr aktiven Handel von Privatanlegern schließen.

Wir glauben auch, dass die Deutschen in der Corona-Krise Wertpapiere für sich entdeckt haben: Es gibt ein hohes Interesse an Börse und neue Rekorde an Depoteröffnungen bei Online-Brokern. Viele Menschen dürften nach den starken Anstiegen der Märkte zuvor auf einen guten Zeitpunkt zum Einstieg gewartet haben. Wer das auch tatsächlich umgesetzt hat, lag damit richtig.

Stieg die Nachfrage dabei eher nach kleineren Werten mit hohem Potenzial oder waren eher die Blue Chips gefragt?

Wir haben im April und Mai 2020 eine ausgeprägte Markterholung gesehen. Wenn man die Handelsumsätze bei Inlandsaktien mit den beiden Vorjahresmonaten vergleicht, gab es an der Börse Stuttgart die höchsten Zuwachsraten bei DAX- und MDAX-Werten. Das heißt, die Blue Chips wurden am intensivsten gehandelt.

Der Volumeneffekt durch die anziehende Volatilität, war der nur vorübergehend oder merken Sie auch jetzt noch eine erhöhte Handelsaktivität?

Die Volatilität ging zwischenzeitlich wieder zurück. Derzeit sind wir auf mittlerem Niveau. Dennoch verzeichnen wir seit Jahresbeginn sehr hohe Handelsvolumina. Der Orderbuchumsatz an der Börse Stuttgart im Januar 2021 lag bei 11,5 Milliarden Euro und damit mehr als drei Milliarden Euro über dem Wert des Vorjahresmonats. Wir sehen einen sehr regen Handel, insbesondere bei Aktien, ETFs und verbrieften Derivaten. Ich will aber auch den Handel mit Kryptowährungen über unsere Bison-App nicht verschweigen. Hier sind die Umsätze auch aufgrund der Kursbewegungen des Bitcoins und anderer Digitalwährungen zuletzt massiv nach oben gegangen.

Es gibt Beobachtungen, dass die nachkommende Generation weniger Vorbehalte gegenüber Aktien und strukturierten Wertpapieren hat. Teilweise auch forciert durch Neobroker, wo man direkt am Smartphone traden kann. Doch diese "Gamification" wird durchaus von manchen auch kritisch gesehen. Könnte das der dringend benötigten Weiterentwicklung der Aktienkultur in Deutschland eher schaden oder wird es ihr guttun?

Die Neobroker haben sich am Markt etabliert und beleben den Wettbewerb. Sie führen auch neue Kundengruppen an Wertpapiere heran. Da leistet das einfache Traden einen Beitrag für die Wertpapierkultur.

Kritisch sehe ich dagegen das Verständnis von Geldanlage als unterhaltsames "Game" auf dem Handy. Die US-Trading-App Robinhood gibt digitale Belohnungen für jeden Trade. Das steht mittlerweile im Fokus der dortigen Aufsichtsbehörden. Ich halte das auch für überprüfungswürdig. Geldanlage als Computerspiel kann zu unreflektiertem Handeln verleiten. Da sind wir dann tatsächlich im "Gaming". Es gibt eine alte Börsenweisheit: "Hin und her macht Tasche leer." Es heißt zwar oft "Trading ohne Gebühren", es ist aber niemals umsonst. Man bezahlt über die Spanne zwischen An- und Verkaufspreis, den Spread. Wenn dadurch viele Anleger, die bis vor Kurzem nicht aktiv waren, unter dem Strich nicht erfolgreich sind, dann wird das zu Enttäuschungen führen und einen nachhaltigen Aufschwung der Aktienkultur verhindern.

Das Stichwort "Gamification" bringt uns auch zu einem wichtigen, neuen Standbein der Börse Stuttgart. Sie haben schon recht früh mit der App Bison den einfachen Handel für die Anleger via Smartphone mit Kryptowährungen ermöglicht. Wie entwickelt sich dieses Projekt, welche Volumina werden da derzeit erreicht?

Die Bison-App entwickelt sich sehr positiv. Wir haben dort derzeit 268 000 aktive Nutzer. Der Zuwachs allein seit Jahresbeginn liegt bei rund 24 Prozent. Im März 2020 waren es noch 100 000 aktive Nutzer. Es hat sich vieles getan: Das Handelsvolumen bei Bison lag 2020 bei 1,3 Mil liarden Euro und hat damit unsere Erwartungen weit übertroffen. Getrieben wurde das sicherlich auch durch den steigenden Kurs des Bitcoins zum Jahresende.

Wo ist hier aber nun der Unterschied in puncto Gamification zwischen Bison und den angesprochenen Trading-Apps?

Wir wollen mit Bison den Handel von Kryptowährungen so einfach wie möglich machen und haben hier auch den direkten Zugang zum Privatanleger. Ähnlich wie Neobroker bei Wertpapieren setzen wir mit Bison den Kryptowährungshandel unkompliziert um. Aber, Stichwort Gamification, bei Bison gibt es kein spielerisches Belohnungssystem, das zu möglichst häufigem Handeln anstachelt. Es geht hier lediglich um einfaches und verlässliches Handeln. Der Fokus unserer App liegt auf dem Nutzwert mit Features wie dem Kryptoradar, der mittels Künstlicher Intelligenz Tausende von Tweets auswertet und ein übersichtliches Sentiment für die handelbaren Kryptowährungen abbildet. Das ist aber nicht Gamification.

Der Bitcoin ist ja ein extrem schwankendes Asset: Das Tagesminus oder -plus ist heute zeitweise größer als der gesamte Kurs vor neun Monaten. Korreliert das auf Bison gehandelte Volumen mit dem Kursverlauf? Anders ausgedrückt: Ist der Handel nach dem jüngsten Einbruch spürbar weniger geworden?

Starke Marktschwankungen wirken sich selbstverständlich auf den Handel aus. Wir sehen erhöhte Handelsvolumina, wenn die Kurse stark nach oben gehen, aber auch bei Kurseinbrüchen. Das gilt also in beide Richtungen. Entscheidend ist für uns, dass der Handel auch in turbulenten Marktphasen einfach und verlässlich ist. Im Januar 2021 hat sich das Handelsvolumen über Bison nochmal deutlich erhöht. Wir liegen hier weit über dem Vorjahresdurchschnitt und haben an Spitzentagen über 60 Millionen Euro Handelsvolumen erreicht.

Nicht wenige Beobachter befürchten ja eine Blasenbildung beim Bitcoin. Sollte das tatsächlich der Fall sein und diese Blase tatsächlich platzen. Befürchten Sie nicht, dass die Enttäuschung der Anleger aufgrund der großen Verluste, die die Anleger auf Bison dann erleiden würden, negativ auf die Börse Stuttgart zurückfallen würde?

Eine Börse ist eine Handelsplattform, an der ein breites Spektrum von Wertpapieren gehandelt werden kann und soll. Ähnliches - auch wenn es keine Börse ist - gilt auch für den Handel mit Kryptowährungen auf Bison. Wir versuchen mit einem zuverlässigen Rahmen einen reibungslosen Handel anzubieten. Es ist immer die Entscheidung des Kunden, in welche Assets er investiert. Ich glaube, unsere Anleger verstehen das auch.

Die dem Bitcoin zugrunde liegende Blockchain-Technologie bietet natürlich noch viel mehr Anwendungsmöglichkeiten. Eine davon ist die Tokenisierung von Wertpapieren. Die Börse Stuttgart hat dafür auch die Börse Stuttgart Digital Exchange (BSDEX) geschaffen. Auch in der Verwahrung der digitalen Assets ist die Gruppe aktiv. Wie ist hier die Strategie und wann rechnen Sie damit, dass tokenisierte Assets aus den Kinderschuhen wachsen und ein echter Markt entsteht?

Wir arbeiten seit 2018 am Aufbau eines durchgehenden Ökosystems für digitale Assets. Wir wollen hier Mehrwerte entlang der gesamten Wertschöpfungskette schaffen - für Privatanleger, aber mit der BSDEX auch für institutionelle Kunden. Die BSDEX entspricht den Anforderungen institutioneller Akteure im Handel von digitalen Assets. Wir haben dort 2020 das Bankhaus Scheich als ersten institutionellen Teilnehmer und Liquiditätsspender angebunden. Unsere Krypto-Verwahrgesellschaft Blocknox hat 2020 bei den Aufsichtsbehörden die notwendige Erlaubnis fristgerecht beantragt und wird in diesem Zuge zum regulierten Finanzdienstleister. Sie sehen, dass wir sehr intensiv in diesem Markt arbeiten. Ich kann Ihnen aber keine genaue Timeline für weitere tokenisierte Assets geben. Der Markt ist dabei sich zu entfalten, doch der Gesetzgeber hat hier noch große Aufgaben.

Reden wir hier eher von zwei bis drei Jahren oder längerfristiger?

Wenn der Gesetzgeber auf deutscher und EU-Ebene die notwendigen Grundlagen geschaffen hat, denke ich, wird das relativ schnell gehen. Das Interesse ist groß und die Gespräche mit potenziellen Emittenten sind sehr positiv. Alle warten auf den Startschuss.

Was genau muss hierfür noch regulatorisch passieren auf nationaler sowie auf EU-Ebene?

2021 dürfte das Gesetz für elektronische Wertpapiere in Deutschland verabschiedet werden. Das betrifft aber nur Inhaberschuldverschreibungen und Fondsanteile, die dann ohne papierhafte Globalurkunde emittiert werden können. Aktien sind hier noch nicht enthalten. Wir halten das Gesetz für einen Meilenstein, aber sehen auch kritische Aspekte. So haben wir hier nun wieder ein Zentralregister für Wertpapiere, was bestehende Monopolstrukturen in der Verwahrung fortschreibt. Das ist ein Hemmnis für Wettbewerb und den Einsatz innovativer Technologien. Der zweite Kritikpunkt wäre aus unserer Sicht, dass bei Kryptowertpapieren mit dezentralem Register ein Handel an der Börse nicht möglich ist, sondern nur ein Over-the-Counter-Handel. Der Grund: Diese Kryptowertpapiere erfüllen die Voraussetzungen für die Einbuchung ins Effektengiro bei den Zentralverwahrern nicht. Wir als Börse fordern natürlich auch die Handelbarkeit an der Börse für alle elektronischen Wertpapiere. Da sind wir im Hinblick auf Anlegerschutz und Transparenz Vorkämpfer. Neben Deutschland eröffnet die EU mit dem Pilot-Regime für die Distributed-Ledger-Technologie weitreichende Möglichkeiten für neue Marktinfrastrukturen. Allerdings steht hier der Gesetzgebungsprozess noch am Anfang und dauert typischerweise zwei bis drei Jahre.

Glauben Sie, das digitale Assets den klassischen Wertpapieren den Rang ablaufen werden?

Aus heutiger Sicht ist das schwierig zu beurteilen. Wir erwarten aber keine komplette Verdrängung der klassischen Wertpapiere, denn wir haben hier schon heute sehr effiziente Strukturen. Aber wir glauben an eine Koexistenz. Das heißt, es wird in Zukunft für unterschiedliche Formen von Wertpapieren unterschiedliche Abläufe geben. Ich sehe einen besonderen Vorteil der Tokenisierung eher in neuen Anlageformen. Wir können damit Güter fungibel machen, die das bislang nicht sind. Nehmen wir industrielle Investitionsgüter: Man könnte beispielsweise über Token in Maschinen, Fahrzeugflotten oder Energieinfrastruktur investieren. Emittenten können ihre Finanzierungskosten nach Pay-per-Use-Modellen an die tatsächliche Nutzung der finanzierten Güter koppeln. Das schafft neue Möglichkeiten in den Märkten. Dort wollen wir tätig sein.

Themenwechsel. Etwas überraschend - im März 2020 wurde sein Vertrag ja erst für vier Jahre verlängert - wurde zuletzt der Abschied von Alexander Höptner, ehemals Geschäftsführer der Börse Stuttgart und Euwax, bekannt gegeben. Er war ja bekannt dafür war, die Digitalisierung der Gruppe mit großen Schritten voranzutreiben. Was waren die Gründe für den überraschenden Abschied?

Herr Höptner hatte sich entschieden, die Gruppe zu verlassen. Er war vier Jahre bei uns und suchte eine neue Herausforderung. Die hat er gefunden und bat darum, aus seinem Vertrag entlassen zu werden. Er ging auf eigenen Wunsch und wir respektieren das. In Bezug auf die Vertragsverlängerung: Ich glaube nicht, dass ihm das letztlich angenommene Angebot bei seiner Vertragsverlängerung im März 2020 bekannt war.

Es gab Gerüchte, dass er aufgrund von Meinungsunterschieden in der strategischen Ausrichtung gegangen ist. Können Sie das verifizieren?

Überhaupt nicht! Die heute vorliegende Strategie wurde ja schon vor einigen Jahren von allen Gremien der Gruppe Börse Stuttgart beschlossen. Die Strategie hängt bei uns nicht von einzelnen Personen ab. Das gesamte Haus sieht den klassischen Wertpapierhandel und das Geschäft mit digitalen Assets als die zwei Standbeine der Gruppe. Beide haben gleichberechtigt eine hohe strategische Bedeutung. Gemeinsam bilden sie ein solides strategisches Fundament für die Zukunft.

Gibt es schon einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin?

Derzeit nehmen die angestammten Geschäftsführer Dragan Radanovic und Stefan Bolle die Aufgaben von Herrn Höptner mit wahr. Wir haben auch einen Plan für die Nachfolge, aber wir können noch nichts verkünden. Nach der Personensuche folgt noch die Zustimmung der Aufsichtsbehörden, deshalb bitten wir da noch um etwas Geduld.

Ein wichtiges Thema für die Börsenbetreiber ist die Konsolidierung. In Europa hatte die SIX Group zuletzt die BME gekauft und die Euronext hat sich die Borsa Italiana Group einverleibt. Für regionale Börsenbetreiber ist das eher selten der Fall, vor allem nicht grenzüberschreitend. Auch hier ging die Börse Stuttgart andere Wege. Erst jüngst haben Sie die bessere Integration der skandinavischen Tochter Nordic Growth Market - immerhin zweitgrößte schwedische Börse - mit dem Handel in Deutschland bekannt gegeben. Hierfür wurde eigens ein entsprechendes Segment in Stuttgart geschaffen. Die Übernahme erfolgte 2008. Warum erst jetzt die Verzahnung?

Grundsätzlich sind wir als Gruppe mit Börsen in drei Ländern tätig: Deutschland, Schweden und die Schweiz. Das macht uns besonders. Die drei Standorte wollen wir so intensiv wie möglich miteinander verzahnen. Wir nutzen die strategischen Vorteile eines Marktes auch für die jeweils anderen. Mit der NGM arbeiten wir seit 2008 sehr intensiv zusammen. Wir haben zunächst den skandinavischen Markt für verbriefte Derivate weiterentwickelt und auch unsere Kontakte zu Emittenten von Deutschland nach Schweden gebracht. Andererseits hat sich in Schweden seit Beginn der 2010er-Jahre eine großartige IPO-Kultur entwickelt. Diesen Vorteil wollen wir jetzt in Deutschland zugänglich machen und perspektivisch auch in der Schweiz.

An der NGM betreiben Sie ja das ungewöhnliche Modell des Kickbacks von Ordergebühren an die gelisteten Unternehmen. Wie sind die Erfahrungen damit und ist das auch für den deutschen Markt in der Überlegung?

Wir geben an der NGM 25 Prozent der Handelsgebühren an die Unternehmen zurück. Wir sehen, dass dieses Angebot attraktiv ist, und sind hier in der Tat einzigartig. Als Akteur im Markt muss man sich solche Unique Selling Points überlegen. Der Markt in Deutschland unterscheidet sich allerdings doch recht deutlich von Schweden, daher werden wir das Modell hierzulande nicht einführen.

Sind weitere grenzüberschreitende Übernahmen in der Überlegung?

Stand heute steht nichts direkt auf der Agenda. Wir sind aber immer wieder in lockeren Gesprächen mit anderen, kleineren Börsen in Europa.

Kommen wir zum Themenblock Regulatorik. Es finden Konsultationen zur MiFID II Richtlinie statt. Erleichterungen werden diskutiert. Erhoffen Sie sich davon weiteren Rückenwind für das Handelsgeschäft mit Privatanlegern?

Wir setzen uns immer für die Belange der Privatanleger ein. Das gilt auch bei MiFID II, dort gibt es derzeit ja einen Quickfix. Dieser schafft die Zielmarktbestimmung für Unternehmensanleihen mit "Make-Whole-Klauseln" ab. Das ist ein erster Schritt für die bessere Handelbarkeit von solchen Wertpapieren. Jetzt muss nur noch die PRIIPs-Verordnung angepackt werden. Wir haben derzeit circa 50 Prozent der in Stuttgart gelisteten Corporate Bonds, die aufgrund der PRIIPS-Regulierung nicht für Privatanleger handelbar sind. Insofern sind hier weitere Nachbesserungen für Privatanleger dringend notwendig.

Welche regulatorischen Agenda-Punkte werden im noch jungen Jahr für Handelsinfrastrukturbetreiber am wichtigsten sein?

In Summe ist es für uns wichtig, dass die Wertpapierinvestments von Privatanlegern und die Wertpapierkultur generell gefördert werden. Die Deutschen haben ja die Wertpapiere in der Corona-Krise wieder für sich entdeckt. Ich würde daher die Bundesregierung dringend auffordern, diesen Aufschwung der Wertpapierkultur durch entsprechende Rahmenbedingungen zu fördern und nicht durch neue Gesetze zu bremsen. Hierfür steht beispielhaft das Jahressteuergesetz mit seiner Neuregelung der Verlustverrechnung bei Termingeschäften, die wir für schädlich halten. Von weiteren steuerlichen Belastungen sollte dringend abgesehen werden. Vielmehr würde ich mir wünschen, dass vor dem anstehenden Bundestagswahlkampf alle Parteien ein Konzept entwickeln, wie die Vermögensbildung mittels Wertpapieranlage reguliert und gefördert werden soll. Dann haben wir als Wähler die Auswahl zwischen den einzelnen Vorschlägen und können auch bei dieser Thematik tatsächlich entscheiden. Ziel sollte sein, die Anlagekultur zu fördern. Es gibt ja nur noch wenige Anlagemöglichkeiten, um in diesem Niedrigzinsumfeld Vermögen aufzubauen.

Und es wäre auch eine wichtige Unterstützung, um aus dem ökonomischen Corona-Tal herauszukommen ...

Dem ist so!

Dr. Michael Völter Vorsitzender des Vorstands, Vereinigung Baden-Württembergische Wertpapierbörse e.V., Stuttgart
 
Noch keine Bewertungen vorhanden


X