Redaktionsgespräch mit Christoph Boschan

" Die jüngere Generation weiß, dass sie am Aktienmarkt nicht vorbeikommt"

Christoph Boschan, Foto: Wiener Börse

Im Redaktionsgespräch mit dem Vorstandschef der Wiener Börse betont dieser, dass Tradition auch in der heutigen technologisch sehr schnelllebigen Zeit noch eine wichtige Rolle spiele. So sei der grundsätzliche Auftrag der 250 Jahre alten Wiener Börse immer noch derselbe. Da die Wiener Börse sehr stark international ausgerichtet ist, begrüßt Boschan alle Schritte, die die europäischen Kapitalmärkte stärken würden. Allerdings sei dabei stets darauf zu achten, dass dadurch der Kapitalmarktzugang für Unternehmen schneller, einfacher und billiger werde. Auf der anderen Seite des Marktes sei darauf zu achten, dass weite Bevölkerungsschichten in die Chancen des Kapitalmarktes inkludiert würden. Blicke man darauf, zeige sich, dass die Politik hier in den vergangenen zehn Jahren nichts vorangebracht hätte und Europa dadurch im Vergleich zu Asien und den USA deutlich verloren habe. Dadurch sieht er bei diesen einen großen Wettbewerbsvorteil im Rahmen der ökosozialen Transition. (Red.)

Herr Boschan, die Börse Wien wird heuer 250 Jahre alt und ist damit eine der ältesten Börsen der Welt. Spielt diese Tradition in der heutigen Zeit des superschnellen Wandels überhaupt noch eine Rolle?

Ja, absolut. In der vierteljahrtausendlangen Geschichte und trotz der technologischen Modernisierung hat sich an unserem grundsätzlichen Auftrag nichts geändert. Wir sind der zentrale Marktplatz für die Preisermittlung von Wertpapieren und schaffen mit unserem Angebot und unserer Zuverlässigkeit Vertrauen und Transparenz. Die Wiener Börse hat sich von ihren Anfängen als staatliche Organisation zu einem IT- Service- und Infrastruktur-Anbieter entwickelt. Kaum eine andere europäische Börse der gleichen Größenordnung in Europa weist heute einen vergleichbaren Diversifikations- und Effizienzgrad auf. Dieses Haus ist damit hervorragend positioniert.

Als "Spezialität" der Wiener Börse - wie auch der österreichischen Realwirtschaft - gilt vor allem die starke Orientierung nach Osteuropa. Können Sie für unsere Leser einmal kurz anreißen, wie die Wiener Börse sektoral und regional aufgestellt ist?

Die Wiener Börse AG betreibt die eigenen Börsenplätze Wien und Prag. Darüber hinaus kooperiert die Börsengruppe mit anderen Marktplätzen in Zentral- und Osteuropa und stellt drei weiteren Nationalbörsen das Handelssystem zur Verfügung. Wir bieten damit IT-Services für fünf Märkte, berechnen 150 Indizes und stellen mit der Konsolidierung von 12 Märkten den zentralen Daten-Hub in Zentral- und Osteuropa. Abnehmerseitig sind wir ebenfalls sehr international und bedienen damit eine Nachfrage, die zumeist aus Westeuropa, Großbritannien und Amerika kommt. Unser Haus ist breit aufgestellt: Neben dem dominanten Geschäftsfeld Handel & Listing von Wertpapieren tragen heute auch das Datengeschäft, IT-Services, die Zentralverwahrung in Prag sowie unsere Beteiligungen an Energiebörsen und Clearinghäusern der Region etwa die Hälfte unseres Ergebnisses.

Gibt es Pläne, das Geschäft in Osteuropa auszuweiten und weitere Märkte zu erschließen?

Die Wiener Börse kooperiert bereits mit den meisten Länder in der Region. Wir sind selbstverständlich immer offen für neue Kooperationen.

Die Wiener Börse ist mit dieser Fokussierung ein europäischer und sehr internationaler Player, was sich ja auch in der Struktur der Marktteilnehmer widerspiegelt. Wie wichtig wäre daher für Ihr Haus, dass die Europäische Union mit ihren Bestrebungen für die Kapitalmarktunion vorankommt? Welche Harmonisierungen auf EU-Ebene wären für die Wiener Börse die wichtigsten, die zunächst Priorität haben sollten?

Richtig, über 83 Prozent des Handelsvolumens österreichischer Aktien stammt von internationalen Marktteilnehmern. Auch die Abnehmer der Daten und Indizes sind überwiegend international. Die Wiener Börse begrüßt alle Schritte, die die europäischen Kapitalmärkte stärken. Die einfache Kontrollfrage lautet doch: Ist der Kapitalmarktzugang für Unternehmen schneller, einfacher und billiger geworden? Und wie sieht es auf der anderen Seite mit der Inklusion weiter Bevölkerungsschichten in die Chancen des Kapitalmarkts aus? Bleiben also die Überrenditen ein Privileg einer kleinen Finanzelite oder nicht? Die kritische Selbstreflektion aller politisch Handelnden müsste hier zur Erkenntnis führen, dass die vergangenen zehn Jahre nicht nur nichts vorangebracht haben, sondern wir im Vergleich zu Amerika und Asien sogar deutlich verloren haben. Diese beiden Konkurrenten haben nun im Rahmen der ökosozialen Transition in die CO2 -freie Zukunft mit ihren Kapitalmärkten einen riesigen Hebel und gewaltigen Wettbewerbsvorteil.

Wie an vielen anderen Börsen in Europa ist auch bei Ihnen die Handelsaktivität durch die Corona-Pandemie Volatilitäts-bedingt stark angestiegen. Doch bei den meisten ist auch nach dem Paniksturz im März 2020 die Handelsaktivität höher geblieben. Mehr noch, es wird generell, gerade bei den jüngeren Menschen, endlich einmal eine steigende Affinität zum Investieren am Aktienmarkt festgestellt. Ohne Zinsen bleibt einem ja auch nicht viel anderes übrig ... beobachten Sie in Österreich Ähnliches?

Ja, die jüngere Generation hat definitiv auch in Österreich erkannt, dass man am Aktienmarkt nicht vorbeikommt, wenn man Vermögen aufbauen möchte. Sicher ist rund um das Thema Gamestop und Meme Stocks auch sehr viel Spekulation im Gange. Von jeder dieser historischen Blasen blieben sicherlich langfristige Anleger übrig. Auch in der breiten Bevölkerung sehen wir steigendes Interesse am Aktienmarkt. Statistiken der Oesterreichischen Nationalbank zufolge investierten österreichische Privatpersonen 2020 so viel in Aktien und Fonds, wie die letzten 20 Jahre nicht. Der Andrang bei unseren Weiterbildungskursen an der Wiener Börse Akademie bestätigt das hohe Interesse.

Sie haben kürzlich die Zahlen zum Geschäftsjahr 2020 präsentiert und ein Wachstum in nahezu allen Bereichen verkündet. Wie zufrieden waren Sie mit diesem Geschäftsjahr?

Corona brachte den Markt 2020 gehörig ins Wanken. Das kurbelte die Börsenumsätze an. Ein Börsenbetreiber hat diese Umsatzquelle jedoch wenig unter Kontrolle. Was mich daher zufriedener macht, ist, dass unsere Strategie erfolgreich war und die Wiener Börse ihre Einnahmequellen gut diversifiziert hat. Ohne die Initiativen der vergangenen Jahre - wie etwa den neuen Marktsegmenten, dem Anschluss zusätzlicher Liquiditätsanbieter, dem Feiertagshandel sowie überhaupt der Fokus auf Internationalisierung - wäre das Umsatzwachstum weit schwächer. Auch der Fokus auf die beste Marktqualität im Orderbuch machte sich bezahlt.

Ins Auge sticht bei den Zahlen das Geschäft mit den Anleihe-Listings, das ja geradezu explosiv gestiegen ist. Vor allem die Listings von ausländischen Emittenten wuchsen exponentiell. Woran lag das?

Mit strategischen Vertriebsanstrengungen und einem Topserviceangebot wurde der Vienna MTF als börsengeregeltes Segment in europäischen Finanzkreisen bekannt gemacht. So konnte die Wiener Börse signifikant Marktanteile gewinnen. Mit 3 217 Anleihen übertraf die Anzahl neuer Bonds im ersten Halbjahr 2021 bereits jene des Gesamtjahres 2020. Der Großteil davon stammt von internationalen Serienemittenten wie der spanischen Großbank BBVA und dem Finanzdienstleister Marex Financial. 2021 kamen mehr als 70 neue Emittenten hinzu. Neben dem rasanten "Auslands-" Wachstum, kann die Wiener Börse auch auf eine solide inländische Emittentenbasis zählen.

Sie berichten dabei aber nur über die Zahl der Listings. Wie sieht es denn mit dem Volumen aus, ist das auch so stark gestiegen?

Ja, auch das Emissionsvolumen stieg parallel dazu an. Per Juni 2021 wurden im heurigen Jahr Anleihen mit einem Emissionsvolumen von 98,6 Milliarden Euro begeben. In der Vergleichsperiode des Vorjahres waren es 80,9 Milliarden Euro. Das zeigt den Kapitalbedarf auf Emittentenseite (Banken, Republik Österreich und Unternehmen). Das gesamte aushaftende Anleihenvolumen an der Wiener Börse per Juni 2021 betrug 571,4 Milliarden Euro. Da die Börse am Emissionsprozess nicht beteiligt ist, berichten wir nicht schwerpunktmäßig über dieses Volumen.

Rechnen Sie mit weiteren neuen Großkunden in diesem Segment und damit mit einem anhaltend hohen Wachstum bei der Zahl der Listings?

Wir haben im Anleihensegment eine klare Wachstumsstrategie formuliert. Großkunden zu gewinnen ist herausfordernd, aber wir sind zuversichtlich. In den nächsten Jahren werden wir unser Vertriebsteam und die Präsenz am Markt weiter ausbauen und rechnen daher mit weiter steigenden Listing-Zahlen.

In Europa gab es zuletzt eine Reihe von M&A-Transaktionen am Markt für Handelsinfrastrukturbetreiber. Die Schweizer SIX Group hat beispielsweise die Spanier übernommen, die Euronext hat die Börse Oslo und die Borsa Italiana gekauft. Wird die Wiener Börse auch eine aktive oder passive Rolle bei der Konsolidierungswelle spielen?

Im Hinblick auf Effizienz der Börsenbetreiber ist vor allem die technologische Komponente wesentlich. Die Wiener Börse hat mit der Deutschen Börse einen langjährigen und verlässlichen Partner. Damit sind wir sehr gut aufgestellt. Auch unser Netzwerk in Osteuropa ist partnerschaftlich organisiert.

Kommen wir zum Thema Kryptowährungen und Blockchain. Manche Börsenbetreiber halten sich bei diesem Thema noch vornehm zurück, andere wie die Börse Stuttgart beispielsweise geben rund um das Thema Vollgas. Wie sieht Ihre Strategie in diesem Themengebiet aus?

Wichtig ist die Differenzierung zwischen Kryptowährungen und deren technologischer Basis. Die Blockchain-Technologie kann möglicherweise im Rahmen der übergeordneten digitalen Transformation unseres ökonomischen Systems wichtig sein. Wir beobachten potenzielle Einsatzgebiete genau. Sobald eine reife Technologie entsteht, prüfen wir die Möglichkeiten, unsere Produkte und Dienstleistungen zu verbessern. Als Handelsplatz bieten wir wie andere Börsen auch unseren Kunden die Möglichkeit, Produkte zu handeln, die auf "Kryptowährungen" basieren.

Glauben Sie, dass es Wertpapiere in mittlerer bis ferner Zukunft nur noch digital, tokenisiert sozusagen, geben wird?

Dieser Weg ist eingeschlagen. Mit der Anfang 2021 vom Nationalrat beschlossenen Novelle des Depotgesetzes wurde die digitale Sammelurkunde in Österreich Realität. Die Ausstellung einer physischen Papierurkunde ist für Schuldverschreibungen und Investmentzertifikate nicht mehr Voraussetzung. Der Wertpapierhandel ist seit rund 25 Jahren vollelektronisch organisiert. Nicht nur institutionellen Investoren, auch Privatinvestoren steht eine breite Auswahl digitalisierter Handelszugänge zur Verfügung.

Der Druck auf die gesamte Gesellschaft allgemein, aber vor allem auch auf die Finanzindustrie hin zu mehr Nachhaltigkeit wird immer größer. Mit welcher Strategie will die Wiener Börse diesen Wandel unterstützen und sich selbst für eine nachhaltige Zukunft fit machen?

Als Infrastrukturplattform unterstützen wir nachhaltige Unternehmen, wenn sie als solche zu uns kommen. Das Thema ESG begleitet uns seit über einem Jahrzehnt: Seit 2008 berechnet die Wiener Börse den VÖNIX-Nachhaltigkeitsindex, einen der ersten nationalen Nachhaltigkeitsindizes. 2009 wurde mit CECE SRI der erste CEE-Nachhaltigkeitsindex gelauncht. Die Green- und Social Bonds-Plattform wird von zahlreichen Unternehmen genutzt. Ich bin überzeugt, dass der Kapitalmarkt ein entscheidender Faktor auf dem Weg in eine CO2 -neutrale Zukunft sein kann. Innovation, auch auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit, braucht Kapital. Bei den bestehenden Unternehmen erlebe ich, dass Management und Investoren Nachhaltigkeit als Thema stark verinnerlicht haben.

Herr Boschan, Ende 2020 wurde ihr Vertrag von der Wiener Börse AG vorzeitig um fünf weitere Jahre verlängert. Wohin soll sich die Wiener Börse zum Ende dieser Amtszeit entwickeln, welche Projekte wollen Sie in dieser Zeit angehen?

Wir möchten die vor vier Jahren entwickelte, erfolgreiche Strategie fortsetzen. Wir sehen Wachstum in allen Geschäftsfeldern. Die Wiener Börse wird weiterhin die führende Handelsplattform für österreichische Aktien sein. Das erreichen wir mit Tophandelsqualität, moderner Handelstechnologie und die Anbindung weiterer Handelsteilnehmer. Für österreichische Unternehmen sind wir ein serviceorientierter Partner und bieten verlässlichen Service und Sichtbarkeit, vom mittelgroßen Unternehmen bis zum Prime-Market-Kandidaten. Österreichischen Anlegern bieten wir weiterhin Zugang zu internationalen Anlagemöglichkeiten.

Im Anleihengeschäft werden wir uns in Europa als feste Größe verankern. Unseren Partnerbörsen stehen wir als IT-Dienstleister beiseite. Auch zum Daten-Geschäft gibt es einen klaren Wachstumsplan. Um die Zukunft unseres Hauses ist mir keineswegs bange.

Christoph Boschan Vorsitzender des Vorstands, Wiener Börse AG, Wien
 
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