Redaktionsgespräch mit Justus Lücke und Jens Ringel

" Der persönliche Vertrieb wird auch langfristig dominieren"

Justus Lücke, Foto: Versicherungsforen Leipzig GmbH

Der Klimawandel zeigt sich bereits in verschiedenen Facetten. Ein prominentes Beispiel hierfür stellt das Jahrhunderthochwasser im Ahrtal im Jahr 2021 dar, mit dessen Schäden die Versicherungsbranche noch heute intensiv beschäftigt ist. Derartige Entwicklungen haben dazu geführt, dass Investitionen in den Klimaschutz bei Versicherern mittlerweile ganz weit oben auf der Prioritätenliste stehen, so die Autoren. Es gebe aber auch weitere Herausforderungen wie zunehmende Cyberrisiken sowie Unsicherheiten über die Anzahl der drohenden Insolvenzen aufgrund der Corona-Maßnahmen. Bei all diesen Unwägbarkeiten sei der persönliche Draht zum Kunden sehr wichtig, um bei Fragen oder wichtigen Entscheidungen unterstützen zu können. Der persönliche Vertrieb werde daher nach Ansicht der Autoren auch langfristig der dominierende Vertrieb sein. Natürlich werde dieser aber auch vermehrt durch digitale Möglichkeiten unterstützt, um die Kunden auch in dieser Form abholen zu können. (Red.)

Herr Lücke, was sind die wesentlichen Themen, die die Versicherungswirtschaft aktuell beschäftigen und wie groß schätzen Sie das daraus resultierende Veränderungspotenzial ein? Wie sehr muss sich die Branche wandeln, um weiterhin erfolgreich zu sein?

Justus Lücke: Nicht erst seit Kurzem, aber aktuell ganz besonders, bewegt die gesamte Branche der Weg zum Kunden. Das heißt die Suche nach neuen Zugängen zu bestehenden, aber auch neuen Kundengruppen. Und das idealerweise zu geringeren Kosten als aktuell. Sei es über die Kombination von Leistungen in Ökosystemen, die Integration von Versicherungsleistungen in andere Produkte oder Dienstleistungen im Rahmen von Embedded Insurance oder auch ganz "klassischem" Online-Direktabschluss in Kombination mit Social Media.

Wenn die Branche es verinnerlicht, auch abseits der ausgetretenen Pfade nach innovativen Wegen zu suchen, dann kann sie auch zukünftig ihre Relevanz über alle Altersgruppen hinweg sichern. Hierfür muss sie sich aber einerseits noch mehr in die Gedanken der Kunden hineinversetzen, die Mechanismen von State-of-the-Art digitalen Geschäftsmodellen lernen und ganz klar auch die notwendigen technischen Voraussetzungen schaffen.

Welche elementaren Herausforderungen sehen Sie für die Assekuranz konkret im Jahr 2022, Herr Ringel?

Jens Ringel: Elementar ist das richtige Stichwort. Naturgefahren werden auch im Jahr 2022 ein relevantes Thema sein. Zum einen beschäftigen noch viele Schäden aus dem Jahr 2021, unter anderem aus dem Jahrhunderthochwasser im Ahrtal, die Versicherer und zum anderen gilt es, sich für die Folgen des Klimawandels zu wappnen. Die Prävention muss in vielerlei Facetten zunehmen, die Abdeckung der Risiken im Bestand und die Leistungsfähigkeit des Schadenmanagements. Weitere Herausforderungen sind die anhalten Cyberangriffe und die damit verbundenen Schäden sowie die generelle wirtschaftliche Entwicklung. Wir befinden uns in einer Niedrigzinsphase mit steigender Inflation. Darüber hinaus gibt es Unsicherheiten über das Anspringen der Konjunktur im Laufe des Jahres und die Anzahl der drohenden Insolvenzen aufgrund der Corona-Maßnahmen.

Wie macht sich die Branche fit für die digitale Zukunft?

Jens Ringel: Die Branche ist bereits sehr lange digitalisiert, dies bedeutet auch ein Erbe von vielen veralteten digitalen Anwendungen, bei denen bereits in den vergangenen Jahren begonnen wurde, diese durch neue Systeme abzulösen. Zusätzlich investieren die Versicherer zunehmend in die Prozessautomatisierung und die Schaffung neuer Schnittstellen, um sich auf die künftigen Anforderungen unter dem Stichwort Open Insurance vorzubereiten. Abschließend kann man auch noch auf zahlreiche Projekte im Bereich Künstliche Intelligenz verweisen.

Wie schätzen Sie das Potenzial von KI bei Versicherern ein?

Jens Ringel: Langfristig ist das Potenzial sicher sehr hoch, da es für das Thema vielfältige Anwendungsbereiche in Versicherungen gibt. So wird bereits heute KI in der Sprach- und Bilderkennung, der Prozessteuerung und -automatisierung oder auch in der Betrugserkennung eingesetzt. Auch wenn viele Piloten in der Vergangenheit sicher nicht alle hochgesteckten Anforderungen erfüllen konnten, so sind doch gerade in den vergangenen zwei Jahren Fortschritte erzielt worden. Voraussetzung für den Einsatz von KI sind jedoch oftmals Daten in entsprechender Qualität und Quantität. Dies ist heute sicher noch eine Herausforderung für viele KI-Projekte, welche sich künftig mit der zunehmenden Digitalisierung und einem steigenden Datenbewusstsein verringern sollte.

Die Krise hat der Digitalisierung einen Schub verliehen. Was wird sich beim Kundenverhalten ändern? Welche Auswirkungen wird das auf den persönlichen Vertrieb haben?

Justus Lücke: Der Kunde an sich war auch schon vor der Corona-Krise digitalaffin. Der wesentliche Sprung, und damit auch eine Chance insbesondere für den persönlichen Vertrieb, ist hier die breite Nutzung von Videomeetings. Sicherlich gibt es heutzutage fast niemanden mehr in der Bevölkerung, der nicht im privaten oder beruflichen Umfeld regelmäßig entsprechende Tools nutzt. Ansonsten wird sich ein Trend der vergangenen Jahre noch mehr verstärken: die Online-Recherche. Versicherer, die hier keine Möglichkeit des Online-Abschlusses bieten, werden nachhaltig ins Hintertreffen geraten. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf den persönlichen Vertrieb. Für diesen wird es unerlässlich sein, digitale Tools in sein Angebot zu integrieren, zum Beispiel Social-Media-Content-Marketing, Online-Direktabschluss über die Homepage, Terminvereinbarungs-Tool und Videoberatung.

Droht der Branche der Kontakt zum Kunden abhandenzukommen, wird es den Vermittler langfristig noch geben?

Justus Lücke: Auch wenn in der Corona-Krise immer nur vorrangig von der Digitalisierung gesprochen wurde, so hat sich doch auch hier die Bedeutung des persönlichen Kontaktes gezeigt. Denn insbesondere in unsicheren Zeiten möchte der Kunde sich noch einmal rückversichern, wenn er eine Entscheidung treffen muss. Und dies kann nun einmal am Ende nur ein Mensch.

Daher bin ich davon überzeugt, dass der persönliche Vertrieb auch langfristig noch der dominierende Vertrieb sein wird, insbesondere bei einem Low-Interest-Produkt wie Versicherungen. Er wird aber durch digitale Tools unterstützt, um die Kunden auch in der digitalen Welt abzuholen und den Kontakt nicht zu verlieren. Aber ja, auch Kundenzugänge, wo der Versicherer eher in den Hintergrund tritt wie die Integration in E-Commerce-Angebote, werden mehr an Bedeutung gewinnen.

Plattformen als alternative Vertriebskanäle: Wie viel Potenzial steckt eigentlich wirklich hinter diesem bekannten Buzzword für die Branche? Und welche Auswirkungen wird das auf den Wettbewerb haben?

Justus Lücke: Das Potenzial von Plattformen muss man differenziert sehen. Das direkt hierüber generierte Geschäft ist vor allem als Chance zur Generierung von Leads zu sehen. Das Beitragspotenzial ist aufgrund des häufig recht kleinteiligen Versicherungsschutzes zumindest nicht enorm. Wenn dies jedoch komplett digital abgewickelt wird, ermöglicht es doch eine mehr als attraktive Marge. Im Gegensatz zu den weiteren Vertriebswegen fördern Plattformen aber eher ein Oligopol. Denn frei nach dem Prinzip "Winner takes it all" kann nur ein Versicherer seine Produkte über eine Plattform anbieten. Und langfristig erhöht dies natürlich auch den Margendruck, da die Plattformen den Wert ihres Kundenzugangs immer mehr zu monetarisieren wissen. Das Potenzial voll ausschöpfen kann man aber nur, wenn man die über solche Plattformen generierten Leads mit zielgruppengerechten Cross-Selling-Angeboten adressiert.

Ab 2022 gilt ein neuer Höchstrechnungszins in Höhe von 0,25 Prozent anstatt 0,9 Prozent, den Versicherer ihren Kunden bei Neuabschlüssen zusagen dürfen. Welche Auswirkungen könnte das auf die Nachfrage und das Produktangebot haben?

Justus Lücke: Ein paar Auswirkungen sind direkt offensichtlich. Die Riester-Rente, bei welcher der Beitragserhalt zum Rentenübergang verpflichtend war, wird bis auf ein kleines Angebot an Netto-Tarifen vom Markt verschwinden. Auch weitere Angebote mit (hohen) Beitragsgarantien werden immer mehr an Relevanz verlieren. Insbesondere seit 2020 zeigt sich ein deutlicher Trend hin zu Produkten ohne jedwede Garantie in der Aufschubzeit. Das heißt, die Kunden erkennen, dass man auf Garantien verzichten muss, um in Zeiten von historischen Niedrigzinsen überhaupt noch Chancen auf eine auskömmliche Rendite zu haben.

Welche neuen und veränderten Risiken werden relevant, auch in Bezug auf die noch andauernde Pandemie?

Jens Ringel: Wie bereits vorhin angesprochen nehmen die Cyberrisiken zu. Gerade durch die Pandemie haben sich in vielen Unternehmen die Arbeitsmodelle verändert. Die Unternehmens-IT musste sich stärker öffnen und bietet damit auch mehr Angriffspunkte für Cyberangriffe. Neben den direkten Cyberschäden treten auch immer mehr indirekte Schäden ( Silent Cyber) hervor, welche bisher noch nicht in ausreichendem Maße erkannt und berücksichtigt werden.

Stichwort Bancassurance: Gewinnt hier der Vertrieb von Versicherungsprodukten in Banken oder Sparkassen eine neue Relevanz?

Jens Ringel: Die Erzielung von Provisionseinnahmen wird für Banken immer wichtiger. Sie stehen unter hohem Kostendruck, der Wettbewerb hat sich in den vergangenen Jahren stark intensiviert und die Kunden suchen nach einer Rundumbetreuung in finanziellen Fragen. Daher sollte der Vertrieb von Versicherungsprodukten über die Banken wesentlich mehr Gewicht bekommen. Ob dieser Vertrieb in Form einer Tippgeberschaft, als Ausschließlichkeit für einen Versicherer oder über den Maklerstatus erfolgt, hängt von den individuellen Rahmenbedingungen der einzelnen Bank ab. Wichtig ist jedoch, dass die Banken den kulturellen Schwenk zur ganzheitlichen Finanzberatung schaffen. An der Absicherung von finanzierten Werten und der Arbeitsfähigkeit und damit dem Einkommen der Bankkunden haben auch Banken ein vitales Interesse. Aus unserer Studie zum Thema Bancassurance wissen wir, dass auch Kunden Interesse an einer Ansprache haben. Daher sollte das Thema bei den Banken eine hohe Relevanz auf der Agenda haben.

Können PSD2 und bessere technologische Anbindungen dazu beitragen, dass Banken den Absatz von Versicherungsprodukten steigern können?

Jens Ringel: Sicher helfen diese Technologien, den Kunden zum Beispiel über die Nutzung eines Financial Home, also einem Angebot, das möglichst alle finanziellen Aktivitäten auf einer Plattform bündelt, einfacher anzusprechen und an das Bankhaus zu binden. Der wesentliche Teil dabei ist aber, dass die Kunden auch auf für sie passende Versicherungsangebote angesprochen werden. Dies kann in einem persönlichen Gespräch oder über die Plattform erfolgen.

Die PSD2 kann dabei unterstützen, institutsübergreifend eine Gesamtübersicht zu erstellen und Handlungsbedarfe abzuleiten. Mit Blick auf den Betreuungsschlüssel sind solche technologischen Anbindungen auch notwendig, um den Kunden ein hohes Maß an Selfservices bis hin zum Vertragsabschluss zu ermöglichen.

Ebenfalls durch den steigenden Digitalisierungsgrad arbeiten viele Mitarbeiter von zu Hause aus. Damit steigen allerdings auch die Gefahren von Cyberattacken. Eine Gefahr für die Versicherer oder eher Ertragspotenzial für neue Services?

Justus Lücke: Kurzfristig ergeben sich für Versicherer sicherlich zusätzliche Risiken, langfristig werden aber die Chancen überwiegen. Zwar zeigen sich aktuell bereits mehr Cyberschäden in den Policen der Versicherer, da es sich hier aber nicht um großflächig vorhandene Sicherheitslücken handelt, sind diese nicht existenzbedrohend. Durch diese Schäden steigt aber insbesondere auch die Wahrnehmung des Risikos und führt damit zu mehr Abschlüssen in der Cyberversicherung. Und das ist dringend nötig, denn trotz der vielen großen Schadenereignisse der vergangenen Jahre ist die Abdeckung im Markt immer noch nicht auf einem ausreichenden Niveau. Man merkt aber auch, dass sowohl Preise als auch Bedingungsumfang sich immer mehr dem erhöhten Risiko anpassen.

Inwieweit hat die Pandemie dazu beigetragen, dass die Zahl von Versicherungsbetrug zunimmt?

Jens Ringel: Die Frage ist direkt nicht so einfach zu beantworten. Zum einen rufen krisenhafte Situationen immer auch Betrüger auf den Plan, wie man an den Betrügereien rund um Masken und Corona-Schnelltests sehen konnte, zum anderen führten und führen Corona und die beschlossenen Maßnahmen für viele Menschen und Unternehmen zu einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass insbesondere bei schlechten Wirtschaftslagen die Betrugsneigung steigt. Bereits im Sommer 2020 wurde ein Anstieg der Betrugsfälle in den USA prognostiziert. Mit Blick auf dieses Jahr und auf die unklare wirtschaftliche Situation ist von einem Anstieg der Betrugsversuche auszugehen. Seien es Unternehmen, die bisher durch die angepassten Regelungen zur Offenlegung unerkannt in Schieflage sind, Klein- und Einzelunternehmer, die Beihilfen zurückzahlen müssen oder Privatpersonen, die in den vergangenen beiden Jahren in finanzielle Schieflage geraten sind, für alle Gruppen besteht die Gefahr, dass einzelne Vertreter eine finanzielle Sanierung über Versicherungen probieren.

Der Klimawandel zeigt sich bereits in verschiedenen Facetten. Inwieweit wird dies die Diskussion über eine flächendeckende Verbreitung von Elementarversicherungen weiter befeuern?

Jens Ringel: Die Diskussion darüber wird weiter zunehmen. Bei vielen Elementarereignissen entsteht die Situation, dass nach Wiederaufbauleistungen vom Staat gerufen wird, welchen dann insbesondere im engen zeitlichen Zusammenhang mit Wahlen auch nachgekommen wird. Meist in der Form, dass nur die etwas erhalten, die nicht anderweitig abgesichert sind. Dies führt zu Anreizen, gegebenenfalls auf den Versicherungsschutz und die damit verbundenen Kosten zu verzichten. Daher ist der verpflichtende Einschluss einer Elementarschadendeckung in die Gebäudeversicherung sicher ein möglicher Schritt oder gar die obligatorische Verpflichtung sein Haus gegen bestimmte, unter anderem elementare Risiken zu versichern.

Welche Lösungen bietet die Branche hierfür schon an und welche Maßnahmen müsste auch noch der Gesetzgeber ergreifen?

Jens Ringel: Die Branche hat in den vergangenen Jahren viel an der Versicherbarkeit von Elementarrisiken gearbeitet. Darüber arbeiten viele Versicherer und Rückversicherer an frühzeitiger Risikoerkennung und Prävention, zum Beispiel mit der Erstellung von Flutkarten für Starkregenereignisse. Investitionen in Klimaschutz stehen bei Versicherern weit oben auf der Prioritätenliste.

Die Diskussion über die Pflichtversicherung muss aber über die Versicherungsbranche ausgeweitet werden. Banken sollten bereits bei der Bewertung von Finanzierungsanfragen prüfen, inwieweit für das geplante Projekt Elementar- respektive Klimarisiken bestehen. Schwierig wird es, wenn das Haus bereits steht und anschließend ein Versicherungsschutz gesucht wird. Diese Diskussion gilt es aber auch auf die öffentliche Hand auszuweiten, zum Beispiel auf die sorgsamere Prüfung für die Erteilung von Baugenehmigungen hinsichtlich klimainduzierter Elementarrisiken. So ist es sicher nicht ratsam, alte Flussauen oder gar alte Flussläufe als Bauland auszuweisen.

Ab August 2022 müssen Kunden vor dem Verkauf von Versicherungsanlageprodukten befragt werden, inwieweit ESG-Kriterien berücksichtigt werden sollen. Da allerdings gerade beim Thema Nachhaltigkeit noch viele Unklarheiten vorhanden sind: Wie könnte und sollte der Vertrieb hier geschult werden, um eine adäquate Beratung anbieten zu können?

Justus Lücke: Der regulatorische Rahmen im Kontext Nachhaltigkeit ist sicherlich noch ein "Moving Target". Dies ist insbesondere auch durch die vielen unterschiedlichen und nicht unbedingt konsistenten Gesetze bedingt, sei es die Offenlegungsverordnung, die Taxonomie-Verordnung, die Anpassung der IDD et cetera. Und es ist richtig, dass der größte Hebel zur Verbreitung nachhaltiger Altersvorsorgeprodukte die Schulung des Vertriebes ist. Denn dieser traut sich aktuell in vielen Fällen nicht, das Thema anzusprechen, auch wenn nachweislich ein großes Interesse der Kunden daran besteht. Durch die IDD wird er jedoch in absehbarer Zeit dazu gezwungen.

Es ist aber wichtig, hier nicht auf die finale gesetzliche Regelung zu warten, sondern schon vorher aktiv zu werden. Dies ist auch durchaus möglich, da die grundlegende Definition nachhaltiger Investments schon länger fix ist. Und auch wenn es aktuell zum Beispiel Bestrebungen gibt, auch Atomenergie als nachhaltig zu definieren, so besteht kein Zwang, diese auch in nachhaltige Investments zu integrieren. Über die transparente Definition und Kommunikation von Ausschlusskriterien oder Impact Investments kann hier schon sehr viel erreicht werden im Vertrieb.

Stichwort Sharing Economy: Regulierungsbedürftig oder große Chance für Versicherer?

Jens Ringel: Die Frage ist aus zwei Blickwinkeln zu betrachten. Aus Sicht der Versicherung, analog zu den Lending-Plattformen im Bankenbereich, ist der große Erfolg der Peer-2-Peer-Versicherer bisher ausgeblieben. Dort gab es zumindest auch für den deutschen Markt Regulierungsansätze. Aus der Kundenperspektive ist die Sharing Economy sicher ein interessantes Geschäftsfeld, in dem auch einige Versicherer aktiv sind. Die Herausforderung besteht in der Versicherung der Nutzung und weniger des Besitzes. Zum Beispiel müssen viel stärker das Fahrverhalten des Fahrers und die einzelnen Fahrten in die Kalkulation einfließen, um eine risikoadäquate Bepreisung zu erzielen. Der Trend zur Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung wird künftig solche Modelle noch viel stärker fördern, sodass die frühzeitige Auseinandersetzung mit dem Thema eine große Chance darstellt.

Das Durchschnittsalter der Angestellten ist in der Branche recht hoch. Wie werden oder wie sollten junge Talente gewonnen werden?

Justus Lücke: Die Versicherungswirtschaft ist die Branche der tausend Berufe mit vielen spannenden Aufgabenfeldern. Leider hat sie, teilweise selbst erarbeitet, nicht den besten Ruf. Die Betriebszugehörigkeiten in den Unternehmen zeigen aber hohe Werte, sodass die Branche in der Innenwahrnehmung durchaus attraktiv scheint. Dies gilt es nach außen in den Arbeitsmarkt zu transportieren. Durch die neuen Regelungen zum mobilen Arbeiten in vielen Unternehmen, die zunehmende agile und digitalisierte Arbeit, die attraktive Vergütung in der Branche und die frühzeitige Ansprache an Schulen und Hochschulen mit Praktika sowie geförderten Abschlussarbeiten können die Versicherer durchaus einige Anreize setzen. Wichtig ist dabei eine zeitgemäße Ansprache der jungen Talente.

Wie schätzen Sie die Zukunft der Altersvorsorge ein? Und welche Aufgaben sehen Sie auf die Lebensversicherer und Pensionskassen zukommen?

Justus Lücke: Die Zukunft der Altersvorsorge wird definitiv kapitalmarktnäher sein. Denn auch bei gegebenfalls steigenden Zinsen werden langfristig nur über Aktien, Infrastruktur et cetera relevante Renditen erwirtschaftet werden können. Dies wird sich auch immer mehr auf den Rentenbezug ausweiten. Da sich die Renditen im Allgemeinen immer stärker angleichen werden, werden perspektivisch auch die Kapitalanlagekosten immer stärker in den Fokus rücken, zum Beispiel durch weitere ETFs oder andere passive Investments. Aber aufgrund der steigenden Lebenserwartung wird auch die Absicherung durch eine lebenslange Rentenzahlung immer wichtiger. Gegebenenfalls wird es auch analog dem niederländischen Modell zu einer stärkeren Trennung von Anspar- und Rentenphase kommen. Hierauf müssen die Versicherer und Pensionskassen insbesondere durch neue, vor allem illiquide Investments reagieren sowie eine größtmögliche Produktflexibilität.

Was erwarten Sie oder wünschen Sie sich von der neuen Bundesregierung für die Versicherungssparte?

Justus Lücke: Die Bundesregierung hat viele relevante Altersvorsorgethemen im Koalitionsvertrag festgehalten. Sei es die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige, die "Aktienrente" oder die teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente. Dies zeigt den generellen Trend, die Altersvorsorge unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes wieder stärker an den Staat zu binden. Ich wünsche mir hier insbesondere, dass der Staat alle Vor- und Nachteile und Opportunitätskosten bei seinen Entscheidungen berücksichtigt. Denn einerseits ist der Staat nach meiner Erfahrung nicht der bessere Kapitalanleger und andererseits machen solche Konstruktionen ähnlich den skandinavischen Staatsfonds eigentlich nur Sinn, wenn sie durch externe Erträge wie aus der Ölproduktion Norwegens gespeist werden, nicht aus Steuergeldern. Und generell sollten diese Produkte anbieteroffen ausgestaltet werden. Denn zum Beispiel die häufig kritisierten hohen Kosten der Riesterrente resultierten insbesondere aus der ausufernden Regulatorik.

Justus Lücke , Geschäftsführer , Versicherungsforen Leipzig GmbH, Leipzig
Jens Ringel , Geschäftsführer , Versicherungsforen Leipzig GmbH, Leipzig

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