Wer braucht eigentlich Europa?

Philipp Otto, Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Die Europäische Union ist schon alt. 1957 geboren feierte sie in diesem Jahr bereits ihren 62. Geburtstag. Doch statt sich auf den wohlverdienten Ruhestand in einer sicheren Welt vorzubereiten, muss sie sich ihre eigene Zukunft schaffen. Das ist ein gutes Stück Arbeit. Denn der äußere Druck steigt beständig an. Und selten zuvor waren die Spannungen innerhalb der Ländergemeinschaft so hoch wie derzeit. Machtverhältnisse verschieben sich. Die kleineren Mitgliedsstaaten organisieren sich besser und können so ihre Interessen mehr und mehr durchsetzen. Das hat nicht zuletzt das zähe Ringen um die Besetzung der neuen, nun endlich amtierenden EU-Kommission gezeigt. Den Länder- und Regierungschefs wollte es partout nicht gelingen, zweifelsfrei geeignete Kandidaten zu präsentieren, die das immer selbstbewusster werdende EU-Parlament dann quasi durchwinken muss. Dabei ging es mitunter gar nicht nur um die Qualifikation oder eine nicht immer einwandfreie Vorgeschichte, sondern es wurden auch schlicht Rechnungen beglichen, sprich Rache geübt.

Oder der Brexit. Man darf das Gefühl haben, dass der deutliche Wahlsieg Boris Johnsons vor allem eines bedeutet: Die Briten wollen endlich ihre Ruhe, sind die endlosen Diskussionen satt. Auch wenn das einen Austritt aus der Staatengemeinschaft mit unzweifelhaft unvorteilhaften Konsequenzen für das Vereinigte Königreich bedeutet. Das bringt auch Veränderungen für Europa. Zwar haben sich die Briten ohnehin nie so richtig zugehörig gefühlt, waren aber ein entscheidender Machtfaktor.

Oder Russland. Der östliche Nachbar ist unberechenbar und keineswegs bequem, was nicht zuletzt die Annexion der Krim gezeigt hat. Doch sind Sanktionen, Ausgrenzung und Provokation der einzige, der richtige Weg? Denn was bedeutet beispielsweise der vehemente Widerstand der USA gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 für Deutschland, das bei seiner Energieversorgung auf Kernkraft und Kohle eigentlich verzichten möchte? Oder Italien. Warum zum Teufel soll man sich an Verträge oder die Brüsseler Vorgaben halten, wenn es doch darum geht, Wähler zu gewinnen und zufriedenzustellen, denen Europa ziemlich egal ist. Oder der Umgang mit den Flüchtlingen, der die Staatengemeinschaft mehr und mehr spaltet, weil keine menschliche und zugleich vernünftige Lösung erzielt werden kann.

Wer braucht da eigentlich noch Europa? Immerhin kostet uns Brüssel sehr viel Geld. Die Antwort auf diese von Populisten so gern gestellte Frage ist relativ einfach: Wir alle!

In der Europäischen Union leben derzeit auf einer Fläche von gut 4,4 Millionen Quadratkilometern rund eine halbe Milliarde Menschen. Die Staatengemeinschaft ist von ursprünglich sechs Gründungsmitgliedern auf mittlerweile 28 Mitgliedstaaten angewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt des Europäischen Binnenmarktes beläuft sich auf rund 17,7 Billionen US-Dollar. Der Beitrag der EU zum Welthandel beträgt etwa 15 Prozent. Maßgeblichen Anteil hieran hat die Bundesrepublik Deutschland als bevölkerungsreichstes Mitglied und größte Volkswirtschaft, die für allein 8,2 Prozent der weltweiten Exporte steht. Damit liegt sie nur knapp hinter den USA, die es auf 8,7 Prozent bringen, aber schon spürbar hinter China, das alleine für 12,8 Prozent des Welthandels verantwortlich ist. Auf einen höheren Wert kamen zuletzt die USA im Jahr 1968.

Rechnet man aber zu den USA noch Kanada und Mexiko hinzu, dann kommt das vor wenigen Tagen neu geschlossene USMCA-Abkommen auf einen Exportanteil von 14 Prozent am weltweiten Güterhandel. Und der Zusammenschluss der zehn ASEAN-Mitgliedsstaaten mit sechs weiteren Ländern, darunter der Volksrepublik China, Australien und Japan, zur Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) steht bereits heute für einen Anteil von rund 40 Prozent. Tendenz steigend. Allein das schon belegt die enorme Wichtigkeit eines starken und einigen Europas. Deutschland wird sich bei allem Respekt alleine kein Gehör mehr verschaffen können. Nur die gemeinsame Stimme Europas wird sich zwischen einem immer schon starken Amerika und einem immer stärker werdenden China behaupten können. Das zeigt allein die Vergangenheit. Europa war bei der Wahrung seiner Interessen immer dann besonders erfolgreich, wenn es mit einer Stimme gesprochen hat. Die Bedeutung dieser Gemeinsamkeit wird in den kommenden Jahren angesichts der beschriebenen Entwicklungen sicherlich nicht geringer, sondern größer werden.

Ein weiterer Punkt, der in der öffentlichen Diskussion gerne verdreht wird: Deutschland ist zwar größter Zahler in der EU, profitiert aber auch am stärksten vom Europäischen Binnenmarkt. Die dadurch erzielten Einkommensgewinne summieren sich auf 86 Milliarden Euro im Jahr, wie aus einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung hervorgeht. Im Durchschnitt steigere der Binnenmarkt die Einkommen der EU-Bürger um rund 840 Euro pro Person, so die Studie. In Deutschland seien es 1046 Euro.

Und Deutschland profitiert damit auch vom Euro, der im Übrigen kein Preistreiber ist. Natürlich sind die Preise in den vergangenen zwanzig Jahren gestiegen und Waren und Dienstleistungen sind heute teurer als früher. Daran ist aber nicht der Euro schuld. Bezieht man nämlich Inflation und Kaufkraftsteigerung in die Berechnung mit ein, kosten die meisten Produkte genauso viel wie zu den vermeintlich guten, alten D-Mark-Zeiten. Lediglich Strom, Krankenversicherung und Benzin sind wirklich teurer geworden.

All das zeigt, wie wichtig es ist, schnell an der Zukunft Europas zu arbeiten. Die neue EU-Kommission hat als allererstes den Klima-Notstand ausgerufen und mit dem "Green Deal" ein Maßnahmenpaket verabschiedet, um Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent dieser Erde zu machen. Kosten: bis zu einer Billion Euro. Auch bei einem zweiten Megathema präsentiert sich die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufmerksam und angriffslustig: Bereits im Laufe der ersten 100 Tage im Amt will sie eine Gesetzesinitiative für einen "koordinierten Ansatz für die menschlichen und ethischen Auswirkungen der künstlichen Intelligenz" anstoßen und so die Digitalisierung auf dem Kontinent spürbar voranbringen.

Etwas zurückhaltender ist die neue Kommissionspräsidentin dagegen beim Thema Bankenunion. Zwar wirbt auch sie für eine gemeinschaftliche europäische Einlagensicherung, allerdings nimmt sie auch Rücksicht auf die Bedenken der deutschen Banken und Sparkassen, die mit ihren üppigen Sicherungstöpfen nicht für die Pleiten von Banken in anderen Ländern haften wollen. Von daher ist davon auszugehen, dass in Kürze ein überarbeiteter Vorschlag zu EDIS auf dem Tisch liegen wird.

Da kommt der Vorstoß von Olaf Scholz mit seinen Ideen zur Vollendung der Bankenunion gerade zur rechten Zeit. Und anstatt lediglich auf einer Einigung in Sachen EDIS herumzureiten, hat der Bundesfinanzminister europapolitisch außerordentlich geschickt ein ganzes Bündel von Themen in seinem Gesprächsangebot an die Regierungschefs und Finanzminister der übrigen EU-Mitglieder verpackt. Das erhöht zweifellos die Kompromissbereitschaft. Doch nicht nur in Sachen Bankenunion, auch bei der Kapitalmarktunion und dem großen Projekt einer europäischen Zahlungsverkehrslösung muss das Jahr 2020 zum Jahr des Durchbruchs werden.

Doch immer wieder zeigen sich die Probleme einer Staatengemeinschaft mit zwar festen Regeln, aber doch einer Menge nationaler Souveränität und nationaler Freiheiten. Es gibt schlicht höchst unterschiedliche nationale Interessen, die gemeinsame Maßnahmen zur Festigung des europäischen Binnenmarktes erschweren. Die Stärkung von Forschung und Entwicklung ist wichtig und richtig. Aber braucht es nicht auch grenzüberschreitender Vorstöße zur Schaffung europäischer Champions nach dem Vorbild von "China 2025" - in der Industrie, der Realwirtschaft und bei den Banken? Die Antwort sollte ein Mehr an Europa sein, kein Weniger. Denn noch einmal: Wir alle brauchen Europa!

Ich wünsche Ihnen allen einen guten Start in ein gesundes, erfolgreiches und glückliches Jahr 2020! Bleiben Sie uns gewogen.

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