Türkei: Die Entstehung einer Krise

Dr. Martin Hüfner Chefvolkswirt, Assenagon Asset Management

So ganz überraschend kam die Zuspitzung der Verhältnisse in der Türkei in den vergangenen Wochen nicht. Seit vielen Jahren fährt das Land wirtschaftlich gesehen einen "heißen Reifen". Das Wachstum war sehr hoch. Es lag im Durchschnitt der letzten Jahre bei 6 bis 7 Prozent real pro Jahr. Zum Teil hing das mit dem hohen Bevölkerungswachstum und den vielen Flüchtlingen zusammen. Zum Teil spielten aber auch ehrgeizige Bauprogramme eine Rolle (beispielsweise der prunkvolle neue Präsidentenpalast in Ankara). Die Inflation war hoch. Sie hielt sich über die ganzen Jahre um die 10 Prozent, bevor sie in diesem Jahr bis auf 16 Prozent und mehr anstieg. Solche Preissteigerungen schaffen Ungleichheiten und Unzufriedenheit in der Bevölkerung, wenn sie über längere Zeit anhalten.

Die Leistungsbilanz war tiefrot. Im vergangenen Jahr betrug das Defizit über 5 Prozent des Sozialprodukts. So etwas muss natürlich finanziert werden. Lange Zeit ging das vergleichsweise problemlos. Die türkische Lira wertete sich nur maßvoll ab. Es ist aber klar, dass die Defizite und ihre Finanzierung Abhängigkeiten schaffen. Das beißt sich mit dem Selbstbewusstsein und dem Nationalismus des Präsidenten, der sich gegen jegliche Art von Abhängigkeit wehrt (auch gegen die, die sich aus den Regeln des internationalen Kapitalmarkts ergibt).

Insofern war es verständlich, dass der Wahlsieg von Recep Erdogan in diesem Jahr Unbehagen auf den Finanzmärkten hervorrief. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass Erdogan ökonomische Theorien vertritt, die nicht von allen geteilt wurden. Unter anderem lehnt er das Postulat einer unabhängigen Zentralbank ab. Er ist der Meinung, dass hohe Zinsen nicht helfen, die Geldentwertung zu verringern, sondern sie im Gegenteil eher noch anheizen. Einen Disput über eine so wichtige Frage kann sich ein Land leisten, das finanziell unabhängig ist, aber nicht eines, das auf das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte angewiesen ist.

In dieser Situation bedurfte es nur eines Funkens, um das Ganze zu einer Krise werden zu lassen. Dieser Funke kam durch die Politik. Erdogan wehrte sich, den amerikanischen Pastor Brunson nach seiner Haft in der Türkei wieder in die USA ausreisen zu lassen. Umgekehrt setzte Trump durch Zölle und Sanktionen die Türkei unter Druck, um die Heimkehr Brunsons zu erzwingen. Es verwundert nicht, dass durch diese Auseinandersetzung zwischen zwei autoritären Egomanen das letzte noch heile Porzellan zerschlagen wurde und die Krise eskalierte. Sie zeigte sich vor allem an den Devisenmärkten. Die türkische Lira brach ein. Sie hat sich seit Jahresbeginn in der Spitze um 60 Prozent abgewertet. Auch die Zinsen stiegen an. Der türkische Aktienmarkt brach ein. Bei den internationalen Investoren brach Panik aus. Jeder handelte nach dem Motto "Rette sich wer kann" und versuchte seine Gelder aus der Türkei zurückzuholen, in jedem Fall aber keine neuen Mittel in dem Land zu investieren.

So etwas hält auch eine Wirtschaft mit besserer Konstitution nicht aus. Was kann passieren? Es gibt zwei Worst-Case-Szenarien, die zum Teil zusammenhängen. Das eine ist eine Pleite der Türkei selbst. Es würde vermutlich nicht eine Staatspleite sein, denn der türkische Staat hat nicht so große Schulden. Die Probleme liegen bei den Unternehmen. Sie haben in den letzten Jahren außerordentlich viel Geld aufgenommen. Das geschah vor allem im Ausland und insbesondere in US-Dollar und Euro. Wenn jetzt die inländischen Erträge dieser Unternehmen unverändert bleiben, der Schuldendienst durch die Lira-Abwertung aber drastisch ansteigt, entsteht ein Mismatch, den viele nicht aushalten können. Betroffen sind auch die Banken aus dem In- und Ausland, die den Unternehmen Kredit gewährt haben und jetzt einen hohen Wertberichtigungs- beziehungsweise Abschreibungsbedarf haben.

Das zweite Szenario ist vielleicht noch schlimmer. Es kommt von den Ansteckungseffekten, die von der Krise in der Türkei ausgehen können. Viele Schwellenländer befinden sich schon jetzt in erheblichen Schwierigkeiten. Die Gründe sind die Aufwertung des US-Dollar und die steigenden Zinsen bei gleichzeitiger Verlangsamung der Konjunktur. Sie führen dazu, dass die Einnahmen dieser Länder langsamer wachsen und gleichzeitig die Ausgaben durch den steigenden Schuldendienst immer größer werden. Die internationalen Finanzmärkte sind immer weniger bereit, in die Bresche zu springen und die Lücke zu schließen. Wenn jetzt die Türkei in Schwierigkeiten kommt, ist es für diese Länder schwer, sich vor einer Ansteckung zu schützen.

Die Devisenmärkte (die das Gras immer zuerst wachsen hören) haben schon reagiert. Eine Reihe von Schwellenländerwährungen haben sich bereits abgeschwächt. Wenn die Türkei-Krise noch länger anhält, ist eine allgemeine Schwellenländerkrise nicht auszuschließen. Erinnerungen an die Lateinamerika-Krise in den achtziger Jahren und an die Asien- und Russland-Krise vor der Jahrhundertwende werden wach. Ein Wiederaufleben der großen Finanzkrise 2007/2008 muss nicht befürchtet werden. Sie hatte wegen des Fokus auf die amerikanischen Immobilienmärkte und die Probleme der Banken andere Gründe.

Die weitere Zuspitzung der Türkei-Krise ist also denkbar. Sie ist aber keineswegs zwangsläufig. Aus der Sicht des außenstehenden Ökonomen erscheinen die Probleme lösbar. Das Einfachste wäre eine politische Entspannung zwischen der Türkei und den USA. Die Türkei müsste den Pastor ausreisen lassen, die USA müssten daraufhin die Sanktionen beenden. Das wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Ob Trump und Erdogan hier über ihren Schatten springen können, ist freilich ungewiss.

In jedem Fall müsste sich die Türkei wieder um Vertrauen auf den internationalen Märkten bemühen. Dazu reicht nicht, dass das Land von Katar 15 Milliarden US-Dollar zugesagt bekommen hat. Der Betrag ist viel zu klein, um die Kassen wieder zu füllen. Wichtiger wäre eine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds. Er könnte genügend Geld zur Verfügung stellen. Er würde dafür aber Bedingungen hinsichtlich einer Vertrauen schaffenden Wirtschaftspolitik stellen. Ob solche Bedingungen mit dem Selbstbewusstsein des türkischen Staatschefs vereinbar sind, ist allerdings offen. Schwer zu sagen ist auch, ob die Amerikaner als Mitglied des IWF einem Kredit an die Türkei zustimmen würden.

Noch ist der Karren in der Türkei noch nicht so weit in den Dreck gefahren, dass eine politische Kehrtwende in dem Land selbst nicht mehr helfen würde. Geholfen hat in den letzten Wochen die Zusage, dass die Türkei keine Kapitalverkehrskontrollen ergreifen will. Notwendig wäre darüber hinaus ein unmissverständliches Bekenntnis zum Prinzip der Unabhängigkeit der Notenbank. Ferner wären auch Zinserhöhungen erforderlich, um die Inflation zu bekämpfen. Mit solchen Maßnahmen müsste es gelingen, langsam wieder Vertrauen aufzubauen. Man muss aber wissen: Je länger die gegenwärtige Situation anhält, umso schwerer ist es, aus dem Schlamassel wieder herauszukommen.

Dr. Martin Hüfner , Chefvolkswirt, Assenagon Asset Management

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