Rechtsfragen

PIN-Verfahren: Sammelklagen von Verbrauchernmöglich

Es ist schon erstaunlich, wie lange sich manche Themen als Dauerbrenner in der wirtschaftlichen und rechtlichen Auseinandersetzung halten. Ein solches Thema ist die Frage der Sicherheit des PIN-Systems für das bargeldlose Bezahlen und Geldabheben in Deutschland.

Die Ursachen dafür sind vielfältig. Eine davon sticht aber besonders ins Auge: Das mangelhafte Verständnis von Juristen von und für die Technik. Wenige Juristen sind bereit, sich intensiv mit den Fragen einer Technik zu beschäftigen, über die sie ein juristisches Urteil fällen müssen. Dabei bin ich der festen Überzeugung, dass nur ein Jurist, der die entsprechende Technik verstanden hat, in der Lage ist, sowohl komplizierte Gutachten zu verstehen, als auch die richtige Anwendung des Rechts auf technische Fragen vorzunehmen.

Beispiele für die Schwierigkeiten im Verhältnis Technik und Recht sind nicht nur die hier zu diskutierenden Fragen der PIN-Zahlung sondern etwa auch die Fragen der Videoüberwachung, des Kaufs von Waren und Dienstleistungen über das Internet oder die Frage der Mangelhaftigkeit von technischen Geräten und Software.

Seit rund 20 Jahren diskutieren Rechtsprechung und Literatur die Frage, ob die PIN, die für die Zahlung mit deutschen Zahlungskarten verwendet wird, "sicher" ist, also ob jemand in der Lage ist, ohne Kenntnis der PIN diese zu ermitteln. Dies kann durch Computerprogramme oder Ähnliches geschehen, aber auch durch die Weitergabe der Informationen aus den Kreisen von Banken und Softwareunternehmen, die mit den entsprechenden Programmen arbeiten.

Denn eines ist schon auffällig: Jedes Jahr gibt es Tausende von Fällen, in denen bei Missbrauch einer Zahlungskarte, beispielsweise durch die Abhebung von Geld am Automaten, der Karteninhaber behauptet, dass ihm die Karte gestohlen worden sei, er aber die PIN sorgfältig verwahrt habe, sie nicht auf der Karte stehe und sie auch niemand kenne. Sind es wirklich Tausende von bisher unbescholtenen Bürgern, die plötzlich zu Kriminellen werden? Verbunden noch mit der Gefahr der raschen Entdeckung, etwa durch Kameras oder auf anderem Wege? Ich persönlich wage dies zu bezweifeln.

Verbraucherzentrale klagt gegen Deutsche Bank und Postbank

Auch das Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) in Karlsruhe vom 5. Oktober 2004 (XI ZR 210/03) hat hier lange nicht die erforderliche Klarheit gebracht. Denn das Urteil, das in seinem Leitsatz den Eindruck vermittelt, die Sicherheitsfragen seien geklärt, lässt doch sehr viele Fragen offen, gerade was die gutachterliche Seite des Verfahrens vor dem Amts- und Landgericht Duisburg betrifft.

Dies hat Rechtsanwalt Hartmut Strube von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen in seiner lesenswerten Besprechung ausführlich geschildert (Strube, BKR 2004, 497). Er klärt über die technischen Hintergründe auf und widmet auch den Gegenargumenten gegen die Ansichten von Kreditinstituten et cetera breiten Raum.

Um endlich die Streitigkeiten rund um den Geldautomatenmissbrauch zu klären, hatte sich 2003 die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen dazu entschlossen, einige Musterverfahren einzuleiten. Diese richteten sich gegen die Deutsche Bank AG, die Deutsche Postbank AG, Stadtsparkasse Düsseldorf und die Euro Kartensysteme. Geltend gemacht wurden Ansprüche von 74 Geschädigten in Höhe von rund 85 000 Euro.

Befugnis der Verbraucherzentrale gerichtlich geklärt

Rechtsgrundlage für diese Verfahren ist nach Ansicht der Verbraucherzentrale Art. 1 Paragraf 3 Nr. 8 des Rechtsberatungsgesetzes (RBerG). Danach darf die Verbraucherzentrale auch selber abgetretene Ansprüche von Verbrauchern geltend machen, wenn ein verbraucherrechtlicher Zusammenhang besteht und die Ansprüche mit den Aufgaben der Verbraucherorganisation im Zusammenhang stehen.

Die Verbraucherzentrale vertritt die Auffassung, dass sie damit keiner besonderen Erlaubnis für die Rechtsberatung bedarf und die Aktivlegitimation für die Klage besitzt. Doch dies haben die Gerichte bis zum Urteil des BGH unterschiedlich gesehen:

- Verneint haben die Klagebefugnis das Landgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 26. September 2005 - 2/25 O 614/03 -ZIP 2006, 463 - Euro Kartensysteme) und das Oberlandesgericht Düsseldorf (Urteil vom 28. Oktober 2005 - I-16 U 160/04 = WM 2006, 32 - Stadtsparkasse Düsseldorf).

- Bejaht haben die Klagebefugnis das Landgericht Bonn (Urteil vom 17. März 2005 - 3 O 657/03 = WM 2005, 1772 -Postbank) und das Landgericht Düsseldorf (13 O 527/03 - Citibank).

Am ausführlichsten hat das Oberlandesgericht Düsseldorf seine Ablehnung der Aktivlegitimation begründet. Es vertritt die Auffassung, dass für eine Klagebefugnis nach Art. 1 Paragraf 3 Nr. 8 des Rechtsberatungsgesetzes besondere Voraussetzungen vorliegen müssen. Es sei erforderlich, dass die gerichtliche Geltendmachung der abgetretenen Forderungen durch eine Verbraucherorganisation im Interesse des Verbraucherschutzes erforderlich sei. Dies sei hier nicht gegeben, da die Fragen des Missbrauchs der Geldautomatennutzung sich auf diesem Wege nicht klären ließen, sondern immer im Wege individueller Verfahren zu klären seien.

Doch dieser - in der Literatur durchaus kritisierten - Auffassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, hat sich jetzt der gleiche Senat des Bundesgerichtshofes, der die Grundsatzentscheidung zum Kartenmissbrauch im Jahr 2004 gefällt hatte, in seiner als Leitentscheidung aufzufassenden Entscheidung vom 14. November 2006 nicht angeschlossen. Mit seinem zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung des Gerichts (BGHZ) vorgesehenen Urteil hat der Senat wichtige Wege hin zum Verbraucherschutz eröffnet. Der Leitsatz der im Dezember veröffentlichten Entscheidung lautet im vollen Wortlaut:

"Die gerichtliche Einziehung von Forderungen durch Verbraucherzentralen ist gemäß Art. 1 Paragraf 3 Nr. 8 RBerG im Interesse des Verbraucherschutzes erforderlich, wenn sie nicht nur Individualinteressen, sondern auch einem kollektiven Verbraucherinteresse dient und eine effektivere Durchsetzung dieses Interesses ermöglicht."

Verbandsklage muss effektiver als Individualklage sein

Damit wird die Grundaussage der Entscheidung schon deutlich. Der Bundesgerichtshof vertritt im Gegensatz zum Oberlandesgericht Düsseldorf die Auffassung, dass an die Anwendung der "Nummer acht" nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden dürfen. Allerdings bejaht auch der Bundesgerichtshof, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Klagebefugnis nach Paragraf 3 Nr. 8 RBerG bejaht werden kann.

So muss die Verbandsklage nicht nur zur Durchsetzung der Verbraucherinteressen sinnvoll sein, sondern sie muss auch effektiver als die Individualklage sein. Dies kann der Fall sein, wenn der Verband über aussagekräftigere und repräsentativere Informationen zur Streitfrage verfügt oder aber das Beweispotenzial besser und gründlicher ausgeschöpft werden kann.

Der Bundesgerichtshof grenzt damit die Klagebefugnis nach Paragraf 3 Nr. 8 RBerG zu den Unterlassungsklagen nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) und dem Unterlassungsklagengesetz ab, die weit ausgelegt werden.

Kollektives Verbraucherinteresse an der Rechtsfrage als Voraussetzung

In Zukunft bedarf es also für die Zulässigkeit einer Verbandsklage nach Paragraf 3 Nr. 8 des Rechtsberatungsgesetzes (eine ähnliche Regelung wird es auch im neuen Rechtsdienstleistungsgesetz - RDG - geben): Vorliegen eines kollektiven Verbraucherinteresses an der Klärung der zugrunde liegenden Rechtsfragen, insbesondere durch Bündelung von Verbraucherinteressen gerade bei kleinen Beträgen, Gefahr unverhältnismäßig hoher Prozesskosten für den einzelnen Verbraucher, bessere Sachkenntnis des Verbands zur Darlegung der Sach- und Rechtsfragen.

Insgesamt gelingt dem XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes eine überzeugende Begründung zur Zulässigkeit der Klage der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Die Entscheidung ist auch inhaltlich in vollem Umfang zu begrüßen.

Gerade in einer Zeit, in der Wirtschaftsunternehmen davon profitieren, dass Verbraucher sich nicht wehren können und wollen, ist die Verbandsklage ein sinnvolles Instrument zur Durchsetzung und Klärung wichtiger Rechtsfragen.

Bündelung von Verbraucherklagen erleichtert

So wird das Instrument zum Beispiel zurzeit auch genutzt, um klären zu lassen, ob Verbraucher für Vorteile der Nutzung von Waren, die mangelhaft sind, ein Entgelt zahlen müssen oder nicht. Ohne eine Verbandsklage, die sich hier um einen Wert von rund 70 Euro drehte, wäre diese Frage erst langwierig im Weg durch die Instanzen zu klären gewesen.

Jetzt muss sich der Europäische Gerichtshof mit dieser wirtschaftlich wichtigen Frage und der Auslegung der entsprechenden EU-Richtlinie befassen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes bedeutet allgemein, dass nunmehr Verbandsklagen der Verbraucherorganisationen erweitert werden und bei entsprechender Bündelung Unternehmen damit rechnen müssen, sich einem gleichwertigen Gegner ausgesetzt zu sehen. Für sie wird es schwerer zu versuchen, aus unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen Vorteile zu schöpfen, wie es leider immer noch geschieht. Aus rechtspolitischer Sicht ist daher die BGH-Entscheidung richtig.

Bezogen auf die Geldautomatenfälle ist nunmehr die Klagebefugnis in allen fünf Verfahren endgültig geklärt.

Nunmehr kann endlich in die Sachprüfung rund um das PIN-Verfahren eingestiegen werden. Die entsprechend zu klärenden Fragen hat Strube in seinem Beitrag (BKR 2004, 497) bereits ausführlich angesprochen. So wird zu klären sein:

- Wie genau funktioniert das PIN-Verfahren mit der 128-Bit-Verschlüsselung? Hier ist zu hoffen, dass die Banken nunmehr einem Gutachter die Möglichkeit geben, sich inhaltlich mit dem Verfahren auseinander zu setzen.

- Welche anderen Möglichkeiten des Missbrauchs können gegeben sein, wenn man davon ausgeht, dass der Kontoinhaber nicht selber an dem Missbrauch beteiligt war?

- Wie ist der Stand der technischen Tricks bei der Ausspähung von Geheimzahlen an Geldautomaten oder anderen Zahlstellen?

Es ist zu hoffen, dass nach den langen Jahren der Diskussion rund um die PIN die Verbandsklageverfahren nunmehr endlich für rechtliche und tatsächliche Klarheit sorgen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wird jetzt - wie die anderen Gerichte auch - eine entsprechende Sachprüfung vorzunehmen haben. Es darf mit Spannung abgewartet werden, wie die Verfahren ausgehen. Und es ist zu hoffen, dass die Kreditinstitute und Kartenunternehmen diese Verfahren nunmehr voll unterstützen und fördern.

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