DIGITALISIERUNG

"Ein digitaler Vertrieb schafft zeitgemäße Kontaktformen" Interview mit Edgar K. Geffroy

Edgar K. Geffroy, Foto: E. K. Geffroy

Um in Vertriebsangelegenheiten mit der modernen Zeit mithalten zu können, muss ein Unternehmen gewohnte Denkmuster durchbrechen. Denn mit sporadischen Webmeetings und vereinzelten Online-Angeboten für Kunden ist es nicht getan. Edgar K. Geffroy ist ein Verfechter des digitalen Wandels und weiß genau, was Firmen brauchen, um bei den Kunden zu punkten. Er nennt es Clienting. Im Interview spricht er über die Einflussfaktoren und Strate gien, die den Umschwung hin zum digitalen Vertrieb erfolgreich werden lassen. (Red.)

Herr Geffroy, In ihrem Buch "Das Einzige, was stört, ist der Kunde" haben Sie die Clienting-Strategie als Erfolgsmodell skizziert. Was steckt dahinter?

Clienting ist von der Grundidee her eine Kundenlehre, die den individuellen Kunden in den Mittelpunkt stellt. Keine Produkte. Die zentrale Aussage ist, mit dem eigenen Geschäft zu helfen, damit die Kunden selbst besser leben oder selbst bessere Geschäfte machen. Helfen ist also das maximale Prinzip. Kundenzufriedenheit geht vor Profit. Es geht darum, dem Kunden genau das zu bieten, was dieser haben möchte. Und dafür muss man mit den Augen des Kunden schauen. Nicht mit den Augen eines Verkäufers. Denn der Kunde hat ganz andere Probleme.

Sie plädieren für den digitalen Vertrieb. Was verstehen Sie darunter?

Viele verwechseln das Thema Digitalisierung damit, dass sie beispielsweise eine Online-Konferenz durchführen. Aber eigentlich geht es um viel mehr. Richtig begriffen hat man das Konzept erst, wenn man in der Lage ist, mittels Digitalisierung einen Zusatznutzen stiften zu können, der vorher nicht möglich gewesen ist. Dieses Prinzip lässt sich auch im Vertrieb anwenden. Ein digitaler Vertrieb schafft zeitgemäße, neue Erlebnis- und Kontaktformen mit dem Ziel intensiver Kundenbeziehung. Das wirkt sich natürlich auch auf die Wachstums- und Verkaufschancen aus.

Ist die Kundenorientierung in den letzten Jahren besser geworden?

Nicht unbedingt. In Teilbereichen haben die Verantwortlichen es verstanden. Aber in vielerlei Hinsicht beobachte ich immer noch eine Produktlastigkeit. Viele Unternehmen denken zwar mittlerweile in Richtung Customer-Experience. Vergleicht man das aber mit der Clienting-Strategie, stellt man fest, dass diese weiter geht als die meisten dieser Customer-Experience-Ansätze. Ich behaupte, 90 Prozent der Unternehmen sind immer noch produktlastig. Es bleibt also noch sehr viel zu tun.

Das gilt auch für digitale Kunden- und Vertriebsstrategien. Natürlich gibt es Firmen, die im Laufe der Jahre dadurch zum Marktführer geworden sind. Oder die durch Corona ihre Strategie angepasst haben. Es gibt Unternehmen, die deutlich signalisieren, dass sie in den digitalen Vertrieb eingestiegen sind und zum Beispiel auch Online-Beratung anbieten. Da hat sich in den vergangenen Monaten einiges getan. Nicht alle halten noch an dem Grundsatz fest, man müsse sich persönlich sehen. Aber wer immer noch glaubt, dass man auf bewährte Art und Weise weitermachen und damit durch die Corona-Krise kommen kann, wird das Nachsehen haben. Denn Covid-19 hat eine grundlegende Veränderung hervorgerufen.

Hiervon sind im Übrigen auch die Finanzdienstleister nicht ausgenommen. Natürlich gibt es auch unter ihnen Vorreiter. Aber insgesamt denke ich nicht, dass diese Branche besser aufgestellt ist als andere. Schließlich haben wir alle Digitalisierung nicht gelernt. Ich behaupte mal, in Sachen Digitalisierung sind es auch nur drei bis fünf Prozent, die wirklich digitale Vertriebsstrategien und Konzepte entwickelt haben. 95 Prozent nicht. Das ist die Herausforderung, die wir haben. Selbst die Startups haben noch nicht konsequent genug das virtuelle Verkaufsgespräch genutzt.

Wie wird der digitale Vertrieb zum Erfolg?

Der digitale Vertrieb funktioniert quasi wie ein dritter Vertrieb. Es gibt einen Innendienst, es gibt einen Außendienst und es wird einen digitalen Dienst geben. Wahrscheinlich wird ein Teil der Verkäufer ausschließlich virtuelle Kundengespräche führen. Das ist einfach die natürliche neue Form der Kommunikation. Corona treibt diese Entwicklung voran. Und der Vertriebsmann muss sich anpassen. Insofern haben die Unternehmen die Nase vorn, die jetzt einen digitalen Vertrieb aufbauen. Ein Viertel bis ein Drittel werden innerhalb der nächsten Jahre nicht mehr in der konventionellen Form im Vertrieb tätig sein.

Wichtig bei der Umstellung sind zwei Dinge. Erstens müssen Sie natürlich ein Werkzeug haben, mit dem Sie Wissen organisieren können. Also beispielsweise ein Digitalisierungstool. Zweitens geht es darum, die Denkweise zu verändern. Vor allen Dingen in den Köpfen der Top-Entscheider. Die Grundthematik ist, dass der Mitarbeiter ein enormes Wissen hat, das wir aktivieren und in Verbindung mit den digitalen Möglichkeiten zum Vorteil des Kunden einsetzen wollen. Das Thema Mitarbeiter wird jetzt zum ersten Mal eine entscheidende Rolle spielen. Neben den digitalen Aspekten kommt es auf Empathie und Persönlichkeit an. Aber auch da sind wir ganz weit in dem Bereich, dass die meisten das noch gar nicht sehen.

Sind komplexe Produkte nur bedingt für den digitalen Vertrieb geeignet?

Viele Betriebe denken in der Tat, dass sie einen Vertriebsmann benötigen, weil sie erklärungsbedürftige Produkte führen. Ich stell das bewusst infrage. Persönlicher Kontakt ist gerade bei komplexen Angelegenheiten und auch für die Kundenbeziehungen wichtig, das stimmt schon. Aber das kriegen Sie auch über ein digitales Gespräch hin. Natürlich ersetzt das nicht den direkten Austausch. Aber es ergänzt das auf eine ideale Art und Weise.

Als Verkäufer haben Sie zwei Jobs. Einerseits müssen Sie ein perfekter Beziehungsmanager sein. Andererseits sind Sie ein Wissensexperte. Das heißt, Wissen wird zu einem der wichtigsten Schlüsselerfolgsfaktoren. Ist es schon, nur in den meisten Unternehmen nicht genutzt. Und da kommt dann der Verkäufer als Berater ins Spiel. Wenn er über Spezialwissen verfügt, das weiter geht als das, was rein digital sein wird, hat er den Trumpf in der Hand.

Der Verkauf komplexer Produkte über das Internet lässt sich mittlerweile kombinieren, wenn nicht sogar erheblich weiter in Richtung Digitalisierung ausbauen. Momentan mögen digitale Verkaufsgespräche vielleicht in zwei oder drei Prozent der Firmen etabliert sein. Wenn man aber die Digitalisierung sinnvoll nutzt, kann man das steigern. Zum Beispiel mittels virtueller Kundengespräche bei einfachen Fragen, was auf 80 Prozent der Anliegen zutreffen dürfte. Da kann der Vertriebsmann dann mit seinem Fachwissen weiterhelfen.

Von Kunden hört man oft, dass sie den direkten Kontakt nicht missen wollen. Wird sich das auch verändern?

Der Kunde nutzt die digitalen Möglichkeiten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was Sinn macht. Banking ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn Sie den Bedarf nach mehr intensiver Beratung haben, gehen Sie zu einem Menschen. Wenn Sie aber viele Dinge gelöst haben wollen, gehen Sie zum Bankschalter oder holen sich die Informationen online. Genau diese Entwicklung werden wir künftig feststellen. Sie müssen bedenken, dass das Jahr 2020 eine dramatische Veränderung in der Kommunikation gebracht hat. Online-Kommunikation ist normal geworden. Wenn ich um 22 Uhr erst Zeit habe, dann erreiche ich vor Ort in einer Bankfiliale niemanden mehr. Aber es könnte Online-Beratung geben.

Banken, die sich an diesen Wandel nicht anpassen, haben aber das Nachsehen. Von 2 500 Banken heute werden bis zum Jahr 2030 150 bis 200 in Deutschland überleben. Die Bank N26 hat mittlerweile sechs bis sieben Millionen Kunden. Die Deutsche Bank hat inklusive Postbank 19 Millionen Kunden. Banken werden immer mehr von spezialisierten Geldhäusern und Fintechs angegriffen. Kunden gehen heute nicht mehr zur Bank. Und es wird auch immer mehr differenziert. Letztlich entscheidet ja der Kunde, ob ein Online-Termin reicht oder ob er persönlich in eine Filiale geht. Und das ist das, was die meisten gar nicht verstanden haben. Natürlich mag das bei 60-Jährigen, 70-Jährigen vielleicht noch anders aussehen. Aber man muss heute dem Kunden ermöglichen, dass es keinerlei Bruch in der Kommunika tion gibt. Das ist der entscheidende Schlüsselfaktor.

Ich habe Anfragen von Banken, wie sie den digitalen Vertrieb insbesondere mit Videoberatung ausbauen können. Denn jetzt ist die Zeit gekommen, in der sich das etablieren kann. Im Einzelhandel dasselbe. Gerade im Lockdown bietet sich Online-Beratung wunderbar an. Eine Online-Modenschau und der Kunde wählt dann aus, welche Kleidungsstücke er zur Anprobe nach Hause geliefert bekommen möchte. Aber es wird alles nicht genutzt. Das ist so unvorstellbar, wieviel Geschäftspotenzial dadurch verloren geht.

Was bedeutet dieser Wandel für den Arbeitsfaktor Mensch? Gerade auch im Finanzwesen, wo oft fundiertes Fachwissen gefordert ist?

Der Arbeitsfaktor Mensch ist in fünf bis zehn Jahren nicht mehr der, der er heute ist. Die heilige Kuh Vertrieb wird geschlachtet werden müssen, ob wir wollen oder nicht. Ich sage nicht, dass es keine Verkäufer mehr geben wird. Ich sage nur, dass wir ein Viertel bis ein Drittel der Verkäufer, die wir heute haben, in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht mehr haben werden. Darauf müssen wir uns einstellen. Es wird eine Kombination zwischen beiden entstehen. Aber der Vertriebsmann muss sich wesentlich anpassen an diese neue Welt und ich glaube, der Umdenkprozess hat noch nicht angefangen.

Nehmen Sie mal als Beispiel UBS. UBS hat seinen besten Vermögensberater genommen, hat ihn mit einem Künstlichen-Intelligenz-System so ausgestattet, dass er Kunden zu nahezu allen Fragen Antwort geben kann. Dahinter steckt aber eine Maschine. Man hat so den Top-Vermögensberater digitalisiert; also auch wirklich physisch, optisch sieht er genauso aus. Vielleicht kann er nicht die kompliziertesten Fragen beantworten, aber 80 Prozent der Fragen kann er lösen. Bei erklärungsbedürftigen Produkten gibt es natürlich immer noch eine ganze Menge Chancen. Je komplexer es wird, umso mehr Rat ist gefragt. Aber das betrifft eben nur 20 Prozent.

Eignet sich der digitale Vertrieb für Business-to-Business genauso wie für Business-to-Consumer?

Der B2B-Vertrieb glaubt, aufgrund der Komplexität seiner Produkte wird es digital nicht geben. Da wird er sich eines Besseren belehren lassen müssen. Allerdings wird es aus meiner Sicht gar keine große Differenzierung geben zwischen B2B und B2C, sondern es wird sich jetzt die Spreu vom Weizen trennen. Betriebe, die das machen und Betriebe, die sich nicht weiterentwickeln. Insofern muss sich zuerst die Einstellung der Unternehmer und Verkäufer ändern. Es ist eine große Chance, die Digitalisierung zu nutzen. Letztendlich ist das ja nichts anderes als ein Werkzeug. Und dieses Werkzeug sollte man zum Vorteil der Kunden einsetzen, um ihnen einen höheren Nutzen zu stiften. Zum Beispiel, dass wahlweise auch um 22 Uhr noch ein Online-Gespräch stattfinden kann. Wenn einer nicht will, kann er nach wie vor persönlich kommen.

Der Kunde hat nicht die Lösung, der weiß aber das Problem. Und wenn Sie eine Lösung dafür schaffen, dann können Sie der Problemlöser Ihres Kunden werden und haben dadurch Ihren eigenen Markt geschaffen. Der digitale Vertrieb ist so ein Markt. Und die virtuelle Beratung ist ein Werkzeug.

Wie hat die momentane Ausnahmesituation den Blick auf das Thema verändert?

Es hat sich eigentlich alles geändert. Plötzlich sind Dinge hoffähig, sprich digitale Kommunikation, die vorher überhaupt keiner haben wollte. Wir werden nie mehr in die Situation zurückkehren, in der wir vorher gewesen sind. Die Digitalisierung hat eine völlig andere Einstellung bei den Menschen hervorgerufen. Es ist eine Riesenchance aus meiner Sicht, wie man den digitalen Vertrieb vor den Wettbewerbern nach vorne bringt.

Was sind denn die größten Vor- und Nachteile?

Nicht anzufangen, ist der größte Nachteil. Denn der Erste, der anfängt, hat ja nun einmal ein erheblich besseres Chancenpotenzial. Letzten Endes geht es aber gar nicht um Vor- oder Nachteile. Die größte Herausforderung liegt in den Köpfen der Entscheider und Verkäufer.

Es gibt sieben Fähigkeiten, die ein Verkäufer in der digitalen Zukunft braucht. Er muss zum Beispiel das Thema Kundenfokussierung, also auf Basis der Clienting-Thematik, noch einmal ganz anders aufbauen. Die meisten Verkaufsgespräche werden falsch geführt. Man präsentiert etwas und hofft, dass der Kunde das dann versteht. Das ist ein völlig falscher Ansatz. Sie müssen digital denken. Denn es wird keine Branche geben, die an der Digitalisierung vorbeikommt. Also muss man digital denken lernen. Das ist das Entscheidende dabei.

Beschleunigt der digitale Wandel die Disruption des 21. Jahrhunderts?

Disruption ist ja letzten Endes etwas zu schaffen, was in der Form vorher nicht gewesen ist. Beim digitalen Betrieb würde das etwas sein, das die bisherigen Kundenmuster neu entstehen lässt. Disruption ist insbesondere mit der Clienting-Strategie sehr gut erklärbar. Sie müssen sich nur die Fragen stellen: Was wäre schön, wenn es das geben würde? Was ist etwas, was der Kunde dringend braucht, aber noch gar nicht nachfragt, weil er nicht weiß, dass es das gibt? Damit verdient man am meisten Geld. Die jetzige Situation beschleunigt das, weil die Unternehmen natürlich alle unter Druck stehen. Wobei es auch stimmt, dass die Digitalisierung ein Treiber der Disruption ist.

Was empfehlen Sie Unternehmen der Finanzbranche?

Das Wichtigste ist tatsächlich damit anzufangen, das Thema digitale Kommunikation konkret anzufassen. Eventuell einen dritten, digitalen Dienst aufzubauen. Dahinter kommen dann noch weitere, andere Customer-Relationship-Management-Themen. Aber das Komplexe können Sie auch hier reduzieren. Das Thema digitale Kommunikation in den Vordergrund stellen und loslegen.

Ich empfehle dringend, das Thema digitaler Vertrieb zu einer Chefsache zu erklären und ganz oben auf die Agenda zu setzen, was erforderlich sein wird, um in dieser digitalen Welt zukünftig eine führende Rolle spielen zu können. Entwickeln Sie eine digitale Kundenstrategie und nehmen Sie Ihre Mitarbeiter mit auf diesen Weg.

Der Mitarbeiter ist eines der wichtigsten Aktivposten zukünftiger Unternehmen, denn er hat das Wissen im Kopf. Es ist nirgendwo organisiert, strukturiert und systematisiert. Und wenn Sie dieses Wissen aktivieren und die Mitarbeiter dadurch motivieren, das zum Nutzen des Kunden einsetzen, dann haben Sie ein völlig neues Unternehmen.

Edgar K. Geffroy, Düsseldorf, ist selbstständiger Strategieberater und Vertriebsexperte.
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