Aufsätze

Befördert die Genossenschaftsidee Good Governance in einem multinational agierenden Konzern?

Die Rewe Group ist in 14 Ländern Europas mit rund 323000 Beschäftigten, über 15000 Märkten und zirka 48 Milliarden Euro Umsatz (2011) einer der führenden Handels- und Touristik-Konzerne. Eigentümer sind die 1500 Kaufleute, die über vermögenshaltende Regionalgenossenschaften das Leitunternehmen, die Rewe-Zentralfinanz e. G., kontrollieren und damit Letztentscheider sind.

Rechtsform der Gesellschaft: noch zeitgemäß? Es stellt sich die Frage, welche Rolle spielen die Prinzipien und Grundwerte der Genossenschaft für eine Good Corporate Governance im Hinblick auf den gesamtwirtschaftlichen Erfolg des Genossenschaftskonzerns und seiner Mitgliedsunternehmen, und sind diese heute noch zeitgemäß?

Betrachtet man den deutschen Markt, stellt man fest, dass mit der Edeka und Rewe die Nummer eins und zwei im Lebensmitteleinzelhandel in der Rechtsform der e. G. agieren. Auf europäischer Ebene trifft man neben börsennotierten Unternehmen wie Metro, Carrefour und Tesco des Weiteren inhabergeführte wie Aldi, Tengelmann oder die Schwarz-Gruppe.

Mit den Unternehmergenossenschaften Edeka und Rewe sowie bedeutenden Konsumgenossenschaften wie die Coop und Migros Schweiz oder die Coop Italien ist der deutsche wie auch der europäische Einzelhandel mindestens gleichrangig und damit auffallend stark durch die Rechtsform Genossenschaft geprägt.

Das Beispiel Rewe Group zeigt, dass die Genossenschaftsidee in der fünften Kaufmannsgeneration ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, um stetige, stabile und herausgehobene Marktbedeutung zu erreichen. Die gelebten Prinzipien und Grundwerte wie

- Selbstbestimmung und demokratische Willensbildung,

- Unabhängigkeit und Generationenvertrag,

- freiwillige Selbstverpflichtung und Solidarität sowie

- kollektive und private Selbsthilfe

sind für die genossenschaftliche Governance von besonderer Bedeutung.

Basisdemokratie statt Meinungsdiktat

Die Selbstbestimmung findet grundsätzlich auf der Basis des gesetzlichen und satzungsmäßigen Förderauftrages für die Mitglieder statt, zielt also auf die Nutzenmehrung, den Member Value, der aus dem Erfolg beziehungsweise der generellen Tätigkeit der Genossenschaft folgt. Die Mitgliederentscheidungen werden also nicht von den Finanzmärkten oder Fremdinvestoren getrieben; es gibt somit tendenziell weniger Kurzfristentscheidungen, Übertreibungen oder unreflektiertes Herdenverhalten.

Rückkopplung durch die Eigentümer

Auch können Genossenschaften in der Regel nicht feindlich übernommen werden. Genau dies hat die Rewe Group im Jahr 2007 mit der erfolgreichen Abwehr der KKR und anderer Privat-Equity-Interessenten bewiesen, als durch Satzungsänderungen hohe Zustimmungsquoren für die Veräußerung des Unternehmens als Ganzes beziehungsweise wesentlicher Teile festgelegt wurden.

Die Rückkopplung des Vorstandes erfolgt also nicht durch externe Investoreninteressen, sondern durch die Eigentümer, die Rewe-Kaufleute, die durch die Leistungsbeziehung in Form bester Einkaufspreise sowie von modernen Vertriebs-, Logistik- und anderen Servicesystemen profitieren. Ein weiteres Merkmal der Selbstbestimmung ist die Entscheidung der Vorstands- und Aufsichtsgremien, wie viel Selbst- oder Innenfinanzierung mittels Gewinnthesaurierung in der Genossenschaft erfolgt oder im Umkehrschluss, wie viel den Mitgliedswirtschaften in Form von Dividende, günstigeren Einkaufspreisen oder Rückvergütungen unmittelbar zufließen.

Eindrucksvoll zeigt sich in der Rewe Group das Ergebnis dieses über Jahrzehnte praktizierten Abwägungs- und Abstimmungsprozesses zwischen dem langfristigen Gemeinschaftsinteresse der Bilanz- und Finanzstärkung der Genossenschaft einerseits und dem eher kurzfristigen Einkommensinteresse der Mitglieder andererseits. So beträgt per Ende 2011 das offene Eigenkapital der Gruppe fünf Milliarden Euro bei einer historisch niedrigen Quote der Finanzverbindlichkeiten; und gleichzeitig weisen die Rewe-Kaufleute im Jahre 2011 die höchste jemals erzielte und im Marktvergleich überdurchschnittliche Umsatzrendite aus.

Entscheidung und Verantwortung

Selbstbestimmung und Unabhängigkeit drücken sich generell in der Wahl der Aufsichtsräte aus den Mitgliederreihen aus. Der Aufsichtsrat wiederum entscheidet über die strategische Ausrichtung der Genossenschaft und über die Vorstandsbestellung.

Die Spitzenpositionen werden nicht notwendigerweise aus dem Kreis der Kaufleute besetzt. Dies stellt eher die Ausnahme dar, da die Genossenschaftsmitglieder in der Regel nicht über die Expertise zur Führung von besonderen Geschäfts- und Funktionsfeldern wie Logistik, IT oder wie im Beispiel über Auslandserfahrung oder Touristik-Know-how verfügen. Die Rewe-Kaufleute als Mitglieder und Eigentümer können also die Entscheidungen nicht abschieben. Es besteht somit der für die marktwirtschaftliche Ordnung ideale Zustand, dass Entscheidung und Verantwortung unmittelbar zusammenfallen.

Effiziente, demokratische Entscheidungsprozesse

Für die Rewe Group und ihre Kaufleute gilt - wie für alle erfolgreichen Genossenschaften -, dass die demokratischen Entscheidungsprozesse effizient sein müssen. Es ist also für eine ausgewogene Balance zwischen Top-down-Führung zur Durchsetzung strategischer Ziele und Konzepte und an der Mitgliederbasis für Akzeptanz der operativen Entscheidungen zu sorgen. Gewährleistet wird diese Effizienz dadurch, dass die Rewe-Satzungen und Geschäftsordnungen für alle Mandatsträger gleichermaßen verpflichtend sind. Damit sind die Gremien gut unterrichtet und vorbereitet und können schließlich kompetent entscheiden. In der komplexen Holdingstruktur an der Spitze der Gruppe wie auch in den jeweiligen Mitgliedsunternehmen kommt es insbesondere darauf an, dass die Wettbewerbsfähigkeit als Ganzes und für den Einzelnen sowie die kosten- und marktwirksamen Größenvorteile mit ihren Skaleneffekten und Geschwindigkeiten genutzt werden.

Den Aufsichtsgremien ist es über Generationen hinweg gelungen, durch kluges Urteilsvermögen und marktkonforme Rekrutierungsmethoden für Top-Managementqualität über alle Führungsstufen zu sorgen.

Als Partner in die Zukunft

Die genossenschaftstypische demokratische Willensbildung ist weiterhin in der Aufbau- und Mitwirkungsstruktur auch für mehr operative Entscheidungen verankert. Das Bottom-up-Prinzip ist 85 Jahre nach Gründung vitaler denn je. In regionalen und nationalen Gremien werden nicht nur Entscheidungen transparent gemacht, sondern vielmehr wird über die für das Einzelhandelsgeschäft vor Ort wichtigsten vertrieblichen, warentechnischen oder logistischen Angelegenheiten beraten. Dabei schlägt sich die komplette Erfahrung der Mitglieder in Richtungsentscheidungen unmittelbar nieder. Dies gilt auch für Entscheidungen über den Außenauftritt, Werbekonzepte, Standortpolitik sowie die Betreiber- und Vertriebsformate der Marke. Das Rewe-Partnerschaftsmodell nimmt dabei eine zentrale Rolle in der Zusammenarbeit zwischen den Kaufleuten und der Organisation ein. Etwa die Hälfte der mehr als 3000 Rewe-Supermärkte wird als Filialen geführt, die insbesondere aus der HL- und Minimal-Leibbrand-Ära stammen.

Ausgeklügelte Arbeits- und Kompetenz-Verteilung

Mit steigendem Anteil betreiben selbstständige Unternehmer, das heißt die, die sich gegenüber der Organisation freiwillig selbstverpflichtet haben, den aus dem klassischen Rewe Genossenschaftsbereich hervorgegangenen Teil der Rewe-Märkte. Diese Unternehmer, die gleichzeitig Mitglieder einer der zuvor erwähnten besitzhaltenden Regional-Genossenschaft sind, gründen mit der Rewe eine OHG im Verhältnis 80 zu 20.

Durch eine ausgeklügelte Arbeits- und Kompetenz-Verteilung, die über den Gesellschaftsvertrag und die Geschäftsordnung festgelegt ist, wird das Zusammenspiel der Stärken beider Partner, dem Rewe-Kaufmann im lokalen Markt einerseits und dem Genossenschaftskonzern auf den nationalen und internationalen Märkten andererseits, möglichst optimal zur Entfaltung gebracht. Der dadurch generierte Kooperationsbonus kommt somit der Genossenschaft als Ganzes sowie jedem einzelnen Mitglied als sogenannte Kooperationsrente zugute.

Hilfe zur Selbsthilfe

Das Prinzip der Selbsthilfe und der Grundwert der Solidarität haben auch in der modernen Rewe weiterhin große Bedeutung. Die Selbsthilfe findet hinreichend Ausdruck in der Form der Kooperation selbst und dem kollektiven Netzwerk aller Kaufleute unter dem gemeinsamen Dach. Da Genossenschaften grundsätzlich nach ökonomischem Kalkül handeln, gilt das Leistungsprinzip. Darin macht die Rewe Group keine Ausnahme. Mitglied der Genossenschaft kann nur derjenige werden oder bleiben, der aktiv einen Lebensmitteleinzelhandel betreibt, der auch seine berufliche Grundlage bildet. Sowohl kaufmännische Qualifikation als auch unternehmerisches Handeln sind für die Mitgliedschaft unabdingbar.

Anders verhält es sich mit der Kapitalausstattung, die durch genossenschaftliche Förderprogramme und insbesondere die Ausgestaltung des Rewe-Partnerschaftsmodells bei Berufsstartern von der Gemeinschaft dargestellt werden kann. Hier gilt charakterliche und berufliche Eignung vor Kapitalvermögen. Dies geschieht ganz im Sinne der Solidarität der Kaufleute untereinander. Ein jeder, der einen Beitrag zum Ganzen leistet, genießt auch die Stärke der Organisation.

Das zeigt sich zum Beispiel in den Einzelfällen, in denen tüchtige Kaufleute unverschuldet in Not geraten sind - sei es durch übermäßigen lokalen Konkurrenzdruck oder negative externe Einflussfaktoren. Hier wird unbürokratisch und solidarisch geholfen. Es besteht dafür ein ungeschriebener Kodex, der sowohl für die Mitglieder, die Aufsichtsgremien als auch das Management gilt.

Bedeutungsverlust freiwilliger Ketten

Betrachtet man die Entwicklung der Einzelhandelsstrukturen insbesondere in den Verbundgruppen - freiwillige Ketten und Genossenschaften - über die vergangenen 65 Jahre in der Marktwirtschaft, ergibt sich folgendes Bild: Die freiwilligen Ketten haben stark an Bedeutung verloren. Einzig die Markant, in erster Linie Verrechnungskontor und weniger eine Einkaufskooperation mit Fullservice-Funktion für die angeschlossenen Einzelhandelsunternehmen, hat eine bis heute anerkannte Marktstellung. Die bis weit in die neunziger Jahre oft lokal und regional herausragenden Kaufleute der freiwilligen Kette Spar dagegen sind 2006 vollständig als Kunden und Mitglieder von der Edeka übernommen worden.

Die Ursachen für das Verschwinden der Spar am deutschen Markt liegen final an der mangelnden Mitsprache der Einzelhändler, also an den fehlenden Eigentums- und Kontrollrechten an der Spar-Gesamtorganisation. Externe Finanzinteressen standen massiv gegen die Leistungsanforderungen der Mitglieder und führten somit letztlich zum vollständigen Aus der Vertriebsmarke Spar am deutschen Markt.

Gesellschaftlich wertvoll

Obwohl die Rewe Group zum überwiegenden Teil in Geschäftsfeldern - beispielsweise Touristik und Discount - tätig ist, die nicht mehr von Mitgliedsunternehmern geführt werden, bleibt festzustellen, dass die "alte Dame" Rewe wie in den Gründerjahren nach genossenschaftlichen Prinzipien und Werten handelt. Die Gruppe beweist, dass die Genossenschaftsidee auf diesen Erfolg einen entscheidenden Einfluss hat. Das genossenschaftliche Selbstverständnis, die daraus erwachsene Führungskultur und die damit verbundene langfristige, generationenübergreifende Ausrichtung schaffen für alle Stakeholder Sicherheit und Stabilität, ob Mitglieder, Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten oder das gesamte sozioökonomische Umfeld. Das Wirken der Genossenschaft ist gesellschaftlich wertvoll.

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