Aufsätze

Eurokrise: Risikosummen systematisch überschätzt

Als im Heft 10-2010 dieser Zeitschrift (Seite 515ff.) Überlegungen präsentiert wurden, wie astronomische Risikoschätzungen (damals bezogen auf Subprime-Kredite) auf ein realistisches Maß zurückgeführt werden können und dabei eine Win-Win-...-Win-Situation entsteht, war nicht abzusehen, dass schon so bald eine vergleichbare Situation auftreten würde.

Diesmal geht es um die Staatsanleihen der PIIGS-Länder, genauer gesagt, welche aggregierte Risikosumme sinnvollerweise für Banken in der EU anzusetzen ist. Wie damals ist es wiederum der IWF, der mit seinen Schätzungen im Global Financial Stability Report (GFSR) öffentlich zugänglichen Anlass dafür gibt, dass man bei den überaus beachtlichen Größen einer Mehrfacherfassung aufgesessen ist.

Doppelzählung

Ausgangspunkt für die Skepsis gegenüber den IWF-Zahlen war damals die Überlegung, dass einerseits das ausgewiesene Risikopotenzial unplausibel hoch erschien und andererseits an den originären Schuldverhältnissen häufig derivative Kontrakte hängen. Da Letztere zunächst nur zu einer Umverteilung des potenziellen Schadens aus Ersteren führen, aber höchstwahrscheinlich Eingang in die aggregierte Risikomenge gefunden haben, erschien eine Mehrfacherfassung nahe liegend. Gleichzeitig wurde gezeigt, wie durch eine konsolidierte Betrachtung nicht nur diese "Doppelzählung" aufzuheben ist, sondern auch, wie man durch einen geeigneten Mechanismus daran vorzugsweise von staatlicher Seite - verdienen sowie durch falsche Einschätzungen bedingte gefährliche Zweitrundeneffekte für den Kapitalmarkt und die gesamte Volks- beziehungsweise Weltwirtschaft verhindern kann.

Da dies insbesondere auch über CDS bei Staatsanleihen der Fall ist, kann für die aktuelle "Krise" ein analoger Befund erwartet werden. Daher wird nachfolgend zunächst kurz auf die einschlägigen Aussagen des IWF rekurriert, bevor gezeigt wird, wie die Problematik der Risikovorsorge-Pyramide diesmal sinnvoll zu berücksichtigen ist.

Der GFSR vom September 2011 und seine Rezeption

Auf Seite 21 seines Global Financial Stability Report vom September 2011 taxiert der IWF die "Cumulative Spillovers from High-Spread Euro Area Sovereigns to the European Union Banking System" auf 300 Milliarden Euro. Vergleicht man dies mit den ehemaligen Schätzungen zum Abschreibungsbedarf in der Subprime-Krise, wo der IWF in der Spitze auf über vier Billionen US-Dollar kam, liegt man also ziemlich genau eine Zehnerpotenz unter dem damaligen Schreckensszenario. Allerdings bleiben 300 Milliarden Euro für die europäischen Banken eine zumindest kurzfristig kaum zu stemmende Last, und so überrascht es nicht, dass nach zwischenzeitlichen Andeutungen am 12. Oktober 2011 EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso den Banken nicht gerade sanft eine deutliche Eigenkapitalerhöhung nahe legte beziehungsweise staatliches Eingreifen für ein Nichtbefolgen dieser Vorgabe avisierte.

Zunächst unter der Hand und kurz darauf öffentlich wurde eine Anhebung der Quote für hartes Eigenkapital auf neun Prozent gefordert - wohlgemerkt binnen neun Monaten! - und Ende Oktober 2011 auf dem EU-Gipfel abgesegnet. Der daraus resultierende Finanzierungsbedarf liegt nach Schätzungen von Morgan Stanley bei etwa 275 Milliarden Euro, also nicht weit entfernt von der bereits im September geäußerten IWF-Schätzung, sodass eine nicht ganz unverbundene Existenz der Bewertungen von IWF, EU-Kommission und Morgan Stanley zu erwarten ist.

Betrachtet man diese freilich genauer, so kommen mehr als nur leichte Zweifel an ihrer Relevanz auf. So werden die 200 Milliarden Euro in PIIGS-Anleihen als "spillovers on European bank exposures" genannt. Was damit gemeint ist, wird nicht hinreichend definiert. Die für Griechenland ausgewiesenen 60 Milliarden Euro sind beispielsweise weniger als die allgemein geschätzte Exposure der europäischen Banken, aber deutlich mehr als selbst bei den größten bislang genannten Haircuts fällig würde.

Mehrfacherfassungen

Die zur Gesamtsumme fehlenden 100 Milliarden Euro lässt der IWF auf der derselben Seite 21 seines GFSR vom September aus einer anderen Quelle fließen: "... bank asset prices in the high-spread euro area have fallen in concert with sovereign stresses, leading to a rise in the credit risk of interbank exposures." Richtig an dieser Aussage ist zunächst, dass es auf das Risikovolumen und nicht die Exposure selbst ankommt. Problematisch bleibt hingegen, dass wie bei der vormaligen Schätzung des Risikovolumens in der Subprime-Krise Mehrfacherfassungen vorkommen, welche hier allerdings im Gegensatz zu damals auch noch mittelbar zugegeben werden (vergleiche Hervorhebung).

Neben der problematischen Unschärfe der allein relevanten Ausgangsgröße entsteht also auch hier unzulässigerweise eine zumindest zweistufige Risikovorsorge-Pyramide, während für die korrekte Ermittlung des Risikos auf Systemebene - wie in Heft 10-2010 beschrieben - eine konsolidierte Sicht erforderlich wäre. Wie weit das dann zu ermittelnde Ergebnis von der IWF-Schätzung abweichen würde, soll hier nicht thematisiert werden. Es spricht allerdings einiges dafür, dass zumindest auf der Basis heutiger Erkenntnisse ein deutlich geringerer Betrag resultieren würde. Immerhin hat diesmal sogar der IWF eingeräumt, die 300 Milliarden Euro "may reflect a degree of overshooting" - vielleicht deshalb, weil er bei seiner Abschätzung der Subprime-Risiken am Ende deutlich zurückrudern musste.

Einbeziehung privater Gläubiger

Der Mangel einer Konsolidierung des Risikovolumens spielt allerdings nicht nur für dessen absolute Höhe eine Rolle. Bereits seit Längerem wird eine "Einbeziehung privater Gläubiger" für die Sanierung von Griechenland von verschiedener Seite gefordert. In unmittelbarem Anschluss an die beschriebenen Forderungen von José Manuel Barroso und teilweise sogar in expliziter Verbindung mit ihnen wurde die zeitweise vereinbarte Quote eines mittelbaren Haircuts von 21 Prozent als zu niedrig bezeichnet, ein höherer Wert angemahnt und beim EU-Gipfel auf 50 Prozent angehoben. Insbesondere Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker drohte trotz eindringlicher Warnungen des inzwischen ausgeschiedenen EZB-Chefs Jean-Claude Trichet sogar eine "nicht freiwillige Gläubigerbeteiligung" an, wenn es zu keiner aus Sicht der Politik befriedigenden Anhebung komme.

Ganz unabhängig davon, welche Konsequenzen dies beispielsweise für die Identifikation von Credit Default Events und andere rechtliche Aspekte hätte, schwebt schon die angesprochene Grundgesamtheit der verzichtsrelevanten Gläubiger hier frei im Raum. Während bisherige Kommentatoren dies bereits im Hinblick auf den institutionellen Status der potenziell Betroffenen thematisierten (europäische Banken - der regulierte gesamte Finanzsektor einschließlich Versicherungen ...), ist angesichts des hohen Volumens derivativer Finanzprodukte auf der Basis von Staatsanleihen hier zusätzlich festzustellen, dass die "Profiteure" einer Griechenland-Rettung nicht nur die Inhaber der originären Schuldtitel sind.

Fehlende systematische Erfassung der relevanten Geschäfte

Während wirklich "private" Anleger in einen entsprechenden Vergleich de facto nicht einzubeziehen sind, würde es quantitativ einen erheblichen Effekt bringen, auch diejenigen institutionellen Anleger in die Haircut-Gruppe einzubeziehen, welche durch ihre Positionierung in Derivate von der Verhinderung eines griechischen Staatsbankrotts profitieren. Zwar kann auch insoweit keine exakte Abschätzung getroffen werden, doch die analoge Anwendung der in Heft 10/2010 beschriebenen Überlegungen legt c.p. eine deutliche Senkung der allgemeinen Verzichtsquote oder/und eine erheblich größere faktische Entschuldung Griechenlands nahe.

Als großes und möglicherweise unlösbares Problem stellt sich dabei allerdings die fehlende systematische Erfassung der relevanten Geschäfte dar. Im Gegensatz zu den für die Abgabe von Subprime-Risiken an einen Sicherungsfonds damals bestehenden Interessen, dürfte es vorliegend nämlich für unidentifizierte Dritte günstiger sein, sich bedeckt zu halten und als Trittbrettfahrer kostenlos an der Rettung des originären Anleihenschuldners zu partizipieren. Das Mindeste, was aus dieser Situation gelernt werden muss, ist daher die dringende Notwendigkeit einer zentralen Clearing-Stelle beziehungsweise eines weltweiten obligatorischen Clearing-Systems für die infrage stehenden Geschäfte.

Überschätzung des Gesamtvolumens

Die Finanzkrisen scheinen kein Ende zu nehmen. Ihren Schrecken dürfte man auch deshalb so schwer in den Griff bekommen, weil es praktisch keine hinreichend vergleichbaren Vorbilder in der Geschichte gibt und bestehende Erfahrungswerte nur sehr bedingt auf die heutige Situation übertragbar sind. Dass dann Irritationen und Fehleinschätzungen auftreten, ist keine Überraschung.

Die vorstehenden Argumente zeigen, dass ohne eine Konsolidierung der immer wieder beschworenen Effekte keine realistische Abschätzung bestehender Risiken möglich ist. Das bisher vorherrschende Verfahren - nicht nur beim IWF - überschätzt demgegenüber das relevante Gesamtvolumen systematisch und verstellt den Blick auf wichtige Aspekte für die Bewältigung der überdimensioniert erscheinenden Probleme.

Das heißt natürlich nicht, dass andere Aspekte als die Ausnutzung einer konsolidierten Sicht keine Rolle spielen. Eine in Zeit, Bezugsgrößen und Volumen angemessene Ausdehnung des Eigenkapitals mag hier als Beispiel dienen. Die Negierung einer konsolidierten Risikosicht erhöht indessen ohne Not die Gefahr, dass es auf der Basis künstlich verschlechterter Erwartungen im Rahmen von Zweit- und Drittrundeneffekten zur Self-Fulfilling Prophecy kommt - wenn nicht in dieser, dann irgendwann in einer der kommenden Krisen.

Leonhard Knoll , Lehrstuhl für BWL und Unternehmensfinanzierung , Universität Würzburg
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