Leitartikel

Zur Gratwanderung zwischen Deflation und Inflation

Inflation ist ein besonders deutsches Trauma. In den letzten 100 Jahren haben Währungsreformen zweimal das Geldvermögen der Deutschen total vernichtet. Das hat sich in die deutsche Seele eingebrannt. Eine im europäischen Vergleich traditionell hohe Sparquote der Deutschen spiegelt zugleich deren hohe Sensibilität in Bezug auf Geldwertstabilität und ein ausgeprägtes Vertrauen in die hierfür Verantwortlichen. Dazu passt, dass sich die Bundeskanzlerin und der Finanzminister bislang trotz inzwischen unabweisbarer Rezessionstendenzen weitgehend dem Ruf nach Maßnahmen verweigert haben, die eine deutliche Zunahme von Geldmenge und Staatsverschuldung zur Folge haben würden. Die Befürworter einer sofortigen und entschiedenen Ausweitung von Liquidität verweisen auf Deflationsrisiken. Was das sein könnte, ist den meisten Menschen vor dem Hintergrund eines jahrzehntelang nahezu ungebrochenen Wirtschaftswachstums nicht mehr geläufig. Was passiert eigentlich in einer Deflation, wenn also nicht mehr nur die Preise von Finanzaktiva wie Aktien oder von einigen wichtigen Rohstoffen wie Öl oder Stahl in den Keller gehen, sondern der Preisindex in seiner gesamten Breite? Offensichtlich gibt es dann auch bei einem Zinsniveau von null keine Investitionsanreize mehr, da bei fallenden Erlösen Investitionsaufwendungen nicht mehr amortisiert werden können. Dagegen steigt die Belastung jeder Art von Verschuldung, die nominell ja gleichbleibt, was in einem Umfeld fallender Preise eine Negativspirale im Hinblick auf weitere Kreditausfälle, Investitions- und Preisverfall beschleunigt. Steht Deutschland vor einer Deflation? Nach der jüngsten Schätzung der Deutschen Bundesbank wird der Anstieg des Verbraucherpreisindexes in 2009 auf plus 0,8 Prozent sinken. Das liegt deutlich unter dem Zielwert von plus zwei Prozent, den die EZB für gesund und mit der Zielsetzung von Geldwertstabilität kompatibel hält. Die Rezessionserwartungen für Deutschland liegen inzwischen bei minus drei Prozent für 2009, manche Schätzungen gehen schon von minus vier Prozent aus. Da diesen Schätzungen Modellannahmen zugrunde liegen, die auf historischen Daten ohne deflationäres Umfeld beruhen, sind weitere Negativanpassungen in den kommenden Monaten nicht ausgeschlossen. Anzeichen für einen allgemeinen Rückgang des Preisniveaus gibt es in Deutschland aber - noch - nicht. Solche mag es ansatzweise in den USA geben, ausgelöst von einer Korrektur des US-Immobilienmarktes, vielleicht auch in einigen anderen Volkswirtschaften des Euro-Währungsraums und in stärker rohstoffabhängigen Volkswirtschaften der Dritten Welt. Angesichts der sehr starken außenwirtschaftlichen Verflechtungen Deutschlands stellt sich allerdings die Frage, ob eine isoliert deutsche, also rein binnenwirtschaftliche Betrachtung von Deflationsrisiken dem wohlverstandenen Eigeninteresse Deutschlands angemessen ist. Der "Exportweltmeister" Deutschland wäre durch einen starken Rückgang der Auslandsnachfrage unmittelbar betroffen. Pessimistische Rezessionsschätzungen für Deutschland basieren denn auch primär auf Szenarien mit unterschiedlich starkem Wegbrechen der Ausfuhren. Außerdem wird sich ein Rückgang der deutschen Inlandsnachfrage belastend auf schwächere und hiervon abhängige Volkswirtschaften auswirken, deren Importe nach Deutschland leiden. Nicht nur der Internationale Währungsfonds drängt daher Deutschland zu stärkeren als den bislang erörterten Stimuli. Der Verantwortung Deutschlands als größter europäischer Volkswirtschaft entspräche laut IWF ein Liquiditätsschub von bis zu zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandproduktes. Das ist weit entfernt von den Größenordnungen der Konjunkturbelebungsdiskussion in Deutschland, die sich noch immer erst unter 100 Milliarden Euro bewegt. Warum auch, so der deutsche Reflex auf derartige Erwartungen, soll sich das solide, stabilitätsbewusste Deutschland zugunsten weniger disziplinierter EU-Nachbarn und anderer Außenhandelspartner unnötig in Inflationsrisiken stürzen? Im Vordergrund steht daher weiter das Grübeln über deutsche Konjunkturankurbelungsmaßnahmen, welche die bewährte Geldwertstabilitätszielsetzung möglichst nicht tangieren sollen. Dabei wird zwar gesehen, dass die Konjunkturprobleme aus der globalen Finanzmarktkrise resultieren. Aber es wird verkannt, dass nationale Konjunkturmaßnahmen die falsche Baustelle sind, solange die anhaltende Systemkrise des internationalen Finanzmarktes nicht überwunden ist. Diese Systemkrise war und ist - mit Ausnahme von Betrugsfällen wie Madoff - weniger eine Frage des Anlegervertrauens. Vielmehr handelt es sich um eine fundamentale Erschütterung des Vertrauens innerhalb des Finanzsektors selber. Zinssenkungen, staatliche Rekapitalisierungs- und Garantiemaßnahmen sowie großzügige Zuführung von Liquidität haben noch nicht zu einer Wiederbelebung des Kreditkreislaufes geführt. Das ist das eigentliche Alarmsignal, das indessen in Deutschland außerhalb des Finanzsektors kaum zur Kenntnis genommen wird. Um das alte Bild von Keynes zu benutzen, wurde das Pferd zum gefüllten Brunnen geführt, aber will nicht saufen. Und die Banker werden zum zweiten Mal zu Sündenböcken gestempelt: erst seien sie zu leichtfertig bei der Kreditvergabe gewesen, nun zu risikoscheu. Gerade am langfristigen Ende klemmt die Refinanzierung. Dort helfen (kurzfristig kündbare) Privatkundeneinlagen bei der Refinanzierung nur eingeschränkt. Vielmehr sind die Banken bei der Langfristrefinanzierung traditionellerweise auf die Ausgabe von Schuldverschreibungen an Versicherungen und andere Kapitalsammelstellen angewiesen, die aber weiterhin ihr Bankenengagement eher zurückfahren als ausweiten. Faktisch wurde die EZB - nicht nur, wie für Krisenfälle vorgesehen, der Lender of Last Resort, sondern - zum Lender of First Resort. Das ist das Hauptsymptom der anhaltenden Krisensituation, der daher mit Konjunkturmaßnahmen nicht beizukommen ist. Die Aufräumarbeiten im Finanzsektor sind zwar im Gange, aber sie brauchen Zeit. Dabei geht es nicht nur um Re- Regulierung, sondern um einen neuen transparenten Ordnungsrahmen für Derivate und die Verbriefung, was einen erfolgreichen internationalen Abstimmungsprozess zur Voraussetzung hat, um nicht zusätzlich marktverzerrend, sondern vertrauensbildend zu wirken. In dieser kritischen Phase verläuft die gegenwärtige politische Diskussion in einer Richtung, welche zu inflationären Risiken führen könnte, die tatsächlich kaum noch beherrschbar wären. So soll "von Staats wegen" Geld in vielfach wenig effiziente Infrastrukturprojekte und die Rettung gefährdeter Unternehmen gelenkt werden. Aus dem von einer gigantischen Kapitalvernichtung begleiteten "Aufbau Ost" der neuen Bundesländer scheint niemand Lehren ziehen zu wollen. Demgegenüber bleibt allemal vorzugswürdig, den stockenden Kreditkreislauf über weitere Liquiditätsmaßnahmen, Direktkredite oder Kreditgarantien der Zentralbanken so lange großzügig zu alimentieren, bis der Motor des Kreditkreislaufs wieder angesprungen ist, bis also der Bank-zu-Bank-Markt und die Intermediation zwischen den Banken und den Kapitalsammelstellen weltweit wieder reibungslos funktionieren. Das ist sicher sehr "unkonventionell", aber hat den Vorzug, dass staatliche Interventionen in die Marktmechanismen der Realwirtschaft weitgehend unterbleiben. Denn solche bergen hohe Risiken politischer Einflussnahme, Vetternwirtschaft, Korruption und Verkrustung, also exakt die Defizite, an denen die sozialistischen Planwirtschaften des Comecon vor zwanzig Jahren endgültig scheiterten. Dagegen ist gerade unter Inflationsaspekten der Hauptvorteil rein bereitstellender, nicht aber steuernder Liquiditätsmaßnahmen ihre jederzeitige Korrigierbarkeit, also Zurücknehmbarkeit, sobald der Risikoappetit der Banken und Kapitalsammelstellen zurückgekehrt ist. Zugegebenermaßen ist es nicht trivial, den richtigen Zeitpunkt erstens für das Einleiten und zweitens für die Zurücknahme antideflationärer Liquiditätsmaßnahmen zu ermitteln und dann auch entsprechend zu handeln. Die Schwierigkeit liegt wieder einmal - wenn man an das die Finanzmarktkrise auslösende Versagen der Risikomessverfahren im Bankbereich denkt, kann man nur seufzen - daran, woran man denn erkennen, wie man denn messen soll, wann genau und wie weit der Hahn auf- und wann wieder zugemacht werden muss. Den einzigen Anhaltspunkt dafür liefert die recht vage Formel Y = M * V zum Verhältnis von Geldmenge (M) zum nominellen Bruttosozialprodukt (Y), wobei V (für velocitas) die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes bezeichnet. Die Umlaufgeschwindigkeit V ist aber leider nicht sehr genau und nur mit Verzögerung messbar. Und unter den verschiedenen engeren und weiteren Formen von Geldmenge hat eine Zentralbank wirkliche Kontrolle und genauen Überblick nur über die kleine Untermenge M1, also Bargeld, Sichtguthaben und Zentralbankreserven. Wenn M zu groß ist oder V (zu schnell), resultiert Inflation. Wenn M zu klein ist oder V (zu langsam), resultiert Deflation. Bei stark verlangsamtem V kann Deflation nur bei einer überproportionalen Ausweitung von M vermieden werden. Die Finanzmarktkrise hat nach Schätzungen von Bloomberg inzwischen global eine Schadenshöhe von 1 000 Milliarden US-Dollar überschritten. Davon war zwar M1 nicht, aber M3 (M1 plus Geldmarktanlagen und Repoverbindlichkeiten) stark betroffen. Außerdem hat das weithin vorzufindende Deleveraging, Konsolidieren von Special Investment Vehicles, Zurückbehalten statt Ausplatzieren von Krediten und das Hochschrauben von Eigenkapitalanforderungen an die Banken die Umlaufgeschwindigkeit der Geldmenge stark ausgebremst. Leider ist aber die Deflationsrisiken indizierende Verlangsamung von V schlecht oder nur schätzungsweise messbar. Monetaristen wie Milton Friedman halfen sich über diese Verlegenheit hinweg, indem sie V als konstant unterstellten, bei einem Faktor so ungefähr knapp unter zwei. Wenn man sich primär über Inflation den Kopf zerbricht, mag diese vereinfachende Annahme angehen. Für Deflationsrisiken aber macht diese simplifizierende Sichtweise blind. Angesichts der Zeitverzögerung bis zum Wirksamwerden makroökonomischer Maßnahmen könnte sich daher ein weiteres deutsches Zuwarten in Bezug auf kontrolliert antideflationäre Maßnahmen als schwer einholbares Versäumnis erweisen. Das Worst-Case-Szenario ist nicht ein starker deutscher Konjunktureinbruch, sondern die Wiederholung einer Weltwirtschaftskrise wie Anfang der 1930-er Jahre als Folge einer Kette nationaler protektionistischer Maßnahmen (vergleiche Grafik aus dem Economist vom 20. Dezember 2008). Michael Altenburg, Luzern

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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