Gesellschaft

"Der Mensch tut, was er lassen sollte, und lässt, was er tun sollte."

Mein Herr Präsident, meine sehr geehrten Herren,

Christen fühlen sich von Gott stark angesprochen. Das führt dazu, dass wir im Wesentlichen keine Worte machen müssen. Wir können auf Gottes Wort hören und es uns gesagt sein lassen und es anderen weitersagen. Das geht in unterschiedlichen Formen. Die Herrnhuther Brüdergemeinde etwa gibt ohne Unterbrechung seit 282 Jahren ein Losungsbüchlein heraus, das in der ganzen Welt verbreitet ist. Losung hat einen Doppelsinn: einen Bibelvers auslosen, und damit auf Gott losen. Das ist ein altes Wort für Hören, Horchen, das in den oberdeutschen Dialekten noch vorkommt. Man kann mit dem Wort Gottes auch durch das Jahr gehen. Das ist dann die Jahreslosung. Sie wird ökumenisch herausgefunden. In diesem Jahr heißt sie: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2 Kor 12, 9). Sie werden es dem Priester und Prediger nicht verdenken, wenn er versucht, diesem Wort Saft und Kraft für den Toast auf das Neue Jahr abzugewinnen.

"Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Das Wort gibt zu denken. Es macht einen die Stirn runzeln, weil es paradox formuliert ist und einfachen Erfahrungstatsachen - Starke sind stark, und Schwache sind schwach - gegen den Strich geht. Wenn man das Wort hin und her wendet und probeweise auf das eigene Leben abbildet, dann kriegt man ein Gefühl dafür, welche Voraussetzungen mit dieser Losung einhergehen und wie viele Implikationen und Konsequenzen sie hat.

"Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Dem Apostel Paulus ist dies Wort gesagt worden, und er hat es im 2. Korintherbrief festgehalten. Er hat auch die Erfahrung gemacht, dass die Losung nicht einfach die Lösung ist. Im Gegenteil! Mit einem "Stachel im Fleisch" behaftet, den er nur zu gerne losgeworden wäre was immer das war, ein Anfallsleiden oder sonst eine unerwünschte Disposition im persönlichen Bereich - von so einem "Sendboten des Satans" belästigt und sich mit der Bitte um Abhilfe an den Herrn Jesus wendend, bekommt Paulus zur Antwort: "Lass Dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2 Kor 12, 9a). Das ist ein starkes Stück. Für einen Menschen, der an sich selber leidet, ist das harte Kost und schwer zu schlucken. In der Antwort des Paulus wird seine ganze Größe erkennbar: "Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen, denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark" (2 Kor 12, 9b.10). Das ist der blisbche Kontext.

Nun kann der Christenmensch sich mit diesem Wort auf den Weg machen und heuristisch, also gleichsam mit der Laterne in der Hand, menschliche Verhältnisse ausleuchten, in deren Klüften dunkle Schatten liegen, ob sie sich so nicht in einem anderen Licht zeigen und einem mehr einleuchten als zuvor.

Auch im neuen Jahr, das wir heute Abend willkommen heißen, wird uns des Lebens ungemischte Freude nicht zuteil werden. Wir werden mit Wermutstropfen im Freudenbecher rechnen müssen und an "Schwachheit, Misshandlungen, Nöten, Verfolgungen und Ängsten" wiederum nicht ganz vorbeikommen. Das Dumme ist: In solchen Zuständen sind wir eigentlich nie nur die Objekte ungedeihlicher Umstände oder der Missetaten anderer Menschen. Wir sind vielmehr mit ursächlich für die eigenen Schwierigkeiten und die Nöte anderer Menschen, und je weiter unsere persönlichen, politischen, pekuniären Möglichkeiten reichen, desto unabweisbarer ist die Verantwortung des sittlichen Subjekts. Wir werden also in 2012 Fehler machen, nennen wir es einmal so. Große und kleine, unvermeidliche und dumme, im Privaten verborgene und öffentlich angeprangerte. Wir werden die Fehler bemerken, sie ungeschehen machen wollen, sie vielleicht auf andere schieben oder sie einfach verleugnen und den Kopf einziehen. Andere Fehler werden wir eingestehen, uns zu ihnen bekennen und sie bedauern. Weil sie damit aber nicht aus der (Erwachsenen-)Welt sind, werden wir vielleicht den Versuch machen, sie nachträglich zu rechtfertigen oder wenigstens zu relativieren.

Die nächste Verteidigungslinie ist die Entschuldigung. Darunter versteht man heute zumeist eine je nach Position medial verstärkte, durch den Einsatz von geeigneter Wort- und Körpersprache und anderen soft skills unterstützte, aktive Aufhebung des Zurechnungszusammenhanges. Der Fehler ist noch da, und ich habe ihn auch begangen, aber ich war es irgendwie nicht. Oder ich war es schon, aber das ist nicht so schlimm. Dem Wortlaut entgegen ist die Bitte um Entschuldigung keine Bitte, sondern eine Feststellung: "Ich entschuldige mich". Das ist ein performativer Akt. Die Ent-Schuldung aufgrund von Entschuldigung geschieht tunlichst, ohne das gefährliche Wort Schuld in den Mund zu nehmen, denn beim Fehler oder bei der Riesendummheit oder beim Mist, den jemand baut (hier gilt: je kräftiger der Ausdruck, desto besser) sind wir zumindest semantisch auf sicherem Grund, im vormoralischen Bereich, wo man Scharten auswetzt und Falten ausbügelt und Dellen ausbeult. Aus! Raus! "Penance is over" hat, glaube ich, der CEO von Barclays Capital schon Ende 2010 gesagt. Weil es auch mal gut sein muss. Und weil eine über zwei Jahre hinweg bei jeder öffentlichen Gelegenheit zum Ausdruck gebrachte Zerknirschung Energien bindet, die man zur Neuaufstellung des Geschäftes besser brauchen könnte.

Ich glaube, es zeigt sich, dass wir auf diesem Wege nicht wirklich weiter kommen. Der moralische Diskurs braucht auch in der Postmoderne ein Fundament von belastbaren Grundwahrheiten über den Menschen. Sonst versackt er in einem Sumpf von Phrasen. In unseren Breiten ist eine vernünftige Anthropologie aus biblischen Quellen gespeist.

"Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Die Schwachheit des Menschen ist einfach damit gegeben, dass er dem sittlichen Anspruch, dem er als Erwachsener unterfällt, zuweilen nicht genügt. Er tut, was er lassen sollte, und lässt, was er tun sollte. Wenn ich dessen gewahr werde, weil mein Gewissen mir das vorhält, oder andere mich darauf ansprechen und mir Vorwürfe machen, dann gerate ich in eine Krise und muss (was ja vom Griechischen her mit Krise ausgesagt ist) eine Unterscheidung vornehmen und eine Wahl treffen.

Entweder ich zeige angesichts meiner Schwächen Stärke. Dann distanziere ich mich von meinem Fehlverhalten und spreche von ihm wie von etwas, womit ich im Grunde nichts zu tun habe. Wenn ich auf diesem Wege in die Öffentlichkeit trete, dann hört sich das ungefähr so an: "Ich räume ein, dass ich einen schweren Fehler gemacht habe. Ich kann heute gar nicht mehr begreifen, wie mir so eine Fehleinschätzung jemals hat unterlaufen können. Ich entschuldige mich aufrichtig bei denen, die sich von meinem Verhalten enttäuscht fühlen. Ich werde mit allen Kräften versuchen, den Schaden wieder gutzumachen, den ich angerichtet habe." Das ist konstante Ich-Stärke angesichts einer vorübergehenden Schwäche. Eine andere Kraft als meine eigene darf und kann sich in dieser Konstellation nicht auswirken, weil an der Gnade und Mächtigkeit eines anderen ja jeder sehen könnte, dass meine eigene Stärke nicht genügt.

Der andere Weg wird mich dahin führen, dass ich angesichts meiner Schwächen Schwachheit zeige. Ich zeige damit - das deutet ja schon das Bild von der nicht bedeckten Blöße an - nicht etwas, sondern mich. Die Schwäche ist hier nicht äußerlich. Sie ist wesentlich. Und weil das offen zutage liegt, schäme ich mich. Die Scham wird mir vielleicht den Mund verschließen. Sie wird mich auf jeden Fall an Ich-starken Stellungnahmen hindern. Der Typus der hier angemessenen Äußerung findet sich deshalb auch nicht in den Medien, die, so fürchte ich, eine authentische Buße überhaupt nicht erlauben. Er findet sich archetypisch im Evangelium vom verlorenen und wiedergefundenen Sohn: "Vater, ich habe mich versündigt gegen den Himmel und vor Dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich Dein Sohn heiße" (Lk 15, 21).

Hier steht die Person auf dem Spiel und nicht das Fehlverhalten. Darin liegt der entscheidende Unterschied. An ihm scheiden sich alle Wege. An ihm differenziert sich auch die Sprache. Auf dem Wege der Entäußerung, der Ent-Äußerlichung, werde ich meinen Fehler nur dann einen Fehler nennen, wenn er wirklich einer ist. Sollte ich indes mit meinem Verhalten in Schuld geraten sein, dann werde ich mich nicht entschuldigen, weil das nicht geht, sondern ich werde (hoffentlich) um Verzeihung bitten. Die Bitte um Verzeihung ist keine kaschierte Forderung, sondern sie ist tatsächlich immer eine Bitte, weil sie die Freiheit des anderen anspricht. Und wenn der mir Verzeihung gewährt, was bedeutet, dass er mir einen Teil der Last abnimmt, die mir alleine zu schwer wäre, dann erweist er mir jenes unbegreifliche und unerzwingbare Wohlwollen, das nicht meinem Tun und Lassen gilt, sondern mir selbst. Und das genau ist jene Gnade, an der sich Paulus genügen lassen sollte, weil ihm etwas anderes gar nicht hätte genügen können.

Wer Gott kennt, sehr verehrte Zuhörer, der weiß, dass die Gnade und die Wahrheit durch Jesus Christus gekommen sind. Wer anders glaubt und denkt, mag sich trotzdem darauf einlassen, dass Gnade in der Welt ist, und dass sie den Menschen auch zu Gebote steht, wenn man ihnen sittliches Urteilsvermögen zubilligt und auf die Kraft des Guten im anderen setzt - gerade dann, wenn man selber nicht mehr so gut dasteht.

"Lass Dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Ich wünsche Ihnen ein gutes und gnadenreiches neues Jahr 2012, auf das ich jetzt mit Freuden mein Glas erhebe.

Frankfurt, im Januar 2012 Johannes zu Eltz

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