Aufsätze

Schattenbankensystem, Finanzstabilität und Regulierung - der Blick über den Tellerrand

Im November 2008, nur wenige Wochen nach dem Konkurs von Lehman Brothers, trafen sich die Staats- und Regierungschefs der G20 in Washington. Auf diesem Treffen wurden weitreichende Beschlüsse gefasst - nicht nur zur Bekämpfung der akuten Krise, sondern auch zur Vermeidung künftiger Krisen. So heißt es in der Abschlusserklärung des Treffens: "Wir verpflichten uns, den regulatorischen Rahmen, die Aufsicht sowie das Risikomanagement zu verbessern, und sicherzustellen, dass alle Finanzmärkte, Finanzprodukte und Akteure angemessen reguliert und beaufsichtigt werden."

Schattenbanken im Blickpunkt

Der Fokus dieser Bemühungen lag zunächst auf dem Bankensektor, und hier wurden seit 2008 deutliche Fortschritte gemacht. Die neuen Regeln nach Basel III werden dazu beitragen, Banken stabiler und widerstandsfähiger zu machen. Doch auf der Bühne der Finanzkrise haben nicht nur Banken eine entscheidende Rolle gespielt. Es gab noch weitere Akteure und Aktivitäten, die zur Krise beigetragen haben: Geldmarktfonds, Zweckgesellschaften oder Verbriefungsgeschäfte, um nur einige Beispiele zu nennen.

Diese Akteure und Aktivitäten gehören zu einem Teil des Finanzsystems, für den 2007 der Begriff des Schattenbankensystems geprägt wurde. Gemessen an den Er fahrungen der Krise und der Erklärung von Washington muss auch dieser Bereich des Finanzsystems regulatorisch erfasst werden. In der Tat ist das Schattenbankensystem seit der Krise zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und der Regulierungsbehörden gerückt.

Definition: Dabei ist der Begriff des Schattenbankensystems alles andere als passend. Wer sich im Schatten aufhält, verfolgt nach allgemeiner Vorstellung meist zwielichtige Ziele oder betreibt möglicherweise sogar kriminelle Geschäfte. Das trifft auf das Schattenbankensystem sicherlich nicht zu. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass aufgrund eines Mangels an Daten der Blick auf das Schattenbankensystem nicht ganz so klar ist wie auf andere Teile des Finanzsystems.

Zudem ist das Schattenbankensystem in ständiger Veränderung begriffen: Innovationen verschieben seine Grenzen, neue Aktivitäten oder Akteure kommen hinzu, alte verschwinden. Um also das Schattenbankensystem regulatorisch zu erfassen, ist eine Definition notwendig, die mit dieser Veränderung Schritt halten kann.

Eine breite Definition des FSB

Entsprechend hat das Financial Stability Board (FSB) eine recht breite Definition gewählt. Nach dieser Definition umfasst das Schattenbankensystem Finanzakteure und -aktivitäten, die Teil einer Kreditintermediationskette sind und die außerhalb des Bankensystems operieren. Vereinfacht gesagt geht es also um bankähnliche Akteure und bankähnliche Geschäfte, die aber nicht von der Bankenregulierung erfasst werden. Beispiele für die Akteure des Schattenbankensystems sind die bereits genannten Geldmarktfonds, aber auch Hedgefonds oder Kapitalanlage- und Finanzierungsgesellschaften - mit Blick auf solche Akteure wird im Englischen sehr zutreffend von "non-bank banking" gesprochen. Beispiele für Aktivitäten sind Verbriefungen, Wertpapierleihe oder Repo-Geschäfte.

Dimension: Der unscharfen Grenzen zum Trotz gibt es Schätzungen zur Größe des Schattenbankensystems. So schätzt das FSB, dass weltweit Vermögenswerte von 71 Billionen US-Dollar im Schattenbankensystem verwaltet werden. Damit wäre das Schattenbankensystem etwa halb so groß wie das reguläre Bankensystem. Diese global aggregierte Zahl blendet allerdings große regionale Unterschiede aus. So liegt die Größe des Schattenbankensystems in den USA bei etwa 175 Prozent des regulären Bankensystems, in Deutschland nur bei etwa 25 Prozent.

Die geringe Größe des deutschen Schattenbankensystems erklärt sich unter anderem durch den breiten Ansatz des Kreditwesengesetzes, das vergleichsweise viele Akteure dem regulären Bankensystem zurechnet. Damit bleibt automatisch weniger Raum für die Entstehung eines Schattenbankensystems. Auch steuerliche Gründe dürften dafür verantwortlich sein, dass sich relativ viele Akteure des Schattenbankensystems in Finanzzentren außerhalb Deutschlands ansiedeln.

Unterschiedliches Wachstum in den Regionen

Ebenso wie die Größe variiert auch das Wachstum des Schattenbankensystems zwischen den Regionen. Im Jahr 2012 ist das Schattenbankensystem vor allem in den Schwellenländern stark gewachsen; das weltweit höchste Wachstum war dabei in China zu beobachten. Dort nahmen die vom Schattenbankensystem verwalteten Aktiva um 42 Prozent zu. Das deutsche Schattenbankensystem ist mit einer Rate von knapp zehn Prozent vergleichsweise langsam gewachsen. Insgesamt betrachtet hat sich das globale Schattenbankensystem in den letzten Jahren rasant vergrößert: Von 2002 bis 2012 nahm das Volumen der verwalteten Aktiva um 45 Billionen US-Dollar zu.

Mit Blick in die Zukunft könnte sich dieses Wachstum fortsetzen. So kann die strengere Regulierung von Banken dazu führen, dass zunehmend Aktivitäten ins Schattenbankensystem ausgelagert werden. Eine solche Regulierungsarbitrage war schon immer ein wichtiger Treiber des Schattenbankensystems. Die ersten Geldmarktfonds in den USA entstanden beispielsweise als Reaktion auf die sogenannte Regulation Q. Diese Regelung untersagte Banken, Zinsen auf Sichtguthaben zu zahlen, und sie begrenzte die Zinsen auf Sparkonten. Geldmarktfonds unterlagen dieser Regelung nicht und konnten daher vergleichbare Finanzprodukte zu besseren Konditionen bieten.

Doch es wäre falsch, das Wachstum des Schattenbankensystems allein auf Regulierungsarbitrage zurückzuführen. Es wird auch getrieben von einer Nachfrage nach den spezialisierten Dienstleistungen und Produkten des Schattenbankensystems. Vor allem große institutionelle Investoren nutzen Produkte des Schattenbankensystems - wie zum Beispiel Repo-Geschäfte - als Alternative zu klassischen Bankeinlagen.

Risiken: Damit sind die Effekte des Schattenbankensystems auf die Volkswirtschaft und die Finanzstabilität nicht ganz eindeutig. Auf der einen Seite erfüllt das Schattenbankensystem durchaus eine ökonomische Funktion: Es bietet Unternehmen der Realwirtschaft sowie Banken alternative Finanzierungsquellen und trägt damit zu Diversifizierung und Spezialisierung bei. Das kann grundsätzlich sowohl die Effizienz als auch die Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems erhöhen.

Auf der anderen Seite birgt das Schattenbankensystem aber auch Risiken. Wenn im Rahmen von Regulierungsarbitrage Aktivitäten in das Schattenbankensystem verlagert werden, dann werden die entsprechenden Risiken mitverlagert - in einen Bereich, in dem sie dem eigentlich notwendigen regulatorischen Zugriff mitunter entzogen sind.

Aber auch unabhängig von Regulierungsarbitrage kann das Schattenbankensystem eine Quelle von Risiken sein. Die Akteure des Schattenbankensystems betreiben Fristen- und Liquiditätstransformation, sie betreiben Kreditrisikotransfer, und sie arbeiten mit Verschuldungshebeln. Damit übernehmen sie eine Reihe bankähnlicher Funktionen, die entsprechend mit bankähnlichen Risiken verbunden sind. Gleichzeitig gibt es aber zwei relevante Unterschiede zum regulären Bankensystem: Erstens unterliegen die Akteure und Aktivitäten des Schattenbankensystems nicht der Bankenregulierung. Zweitens fehlt den Akteuren im Schattenbankensystem der Zugang zu Zentralbankliquidität oder öffentlichen Backstops wie zum Beispiel einer Einlagensicherung.

Gefahr von Ansteckungseffekten

Die Folge dieser Struktur ist eine latente Gefahr von Runs auf die Akteure des Schattenbankensystems. Daraus resultierende Liquiditätsengpässe können dann nur durch rasches Deleveraging behoben werden. Das wiederum kann zu einem Preisverfall an den Finanzmärkten beitragen und so eine prozyklische Verstärkung der Probleme hervorrufen. Gleichzeitig bedingt die Struktur vieler Geschäfte im Schattenbankensystem eine enge Ver netzung der Akteure untereinander. Das wiederum kann zu Ansteckungseffekten innerhalb des Schattenbankensystems führen.

Diese systemischen Risiken innerhalb des Schattenbankensystems können dann auf das reguläre Bankensystem übergreifen. Dieses ist nämlich über eine Reihe von Kanälen mit dem Schattenbankensystem verknüpft. Zum Teil sind Banken direkt im Schattenbankensystem involviert; so waren vor der Krise einige deutsche Banken über außerbilanzielle Vehikel wie Zweckgesellschaften direkt im Schattenbankensystem aktiv. Gleichzeitig sind viele Banken indirekt mit dem Schattenbankensystem verknüpft, über Liquiditätslinien, über Forderungen gegenüber Akteuren des Schattenbankensystems oder über gemeinsame Exposures in einzelnen Märkten.

Regulierung: Das Schattenbankensystem kann also durchaus eine Quelle systemischer Risiken sein. Entsprechend steht es recht weit oben auf der Reformagenda der G20. Im November 2010 haben die Staatsund Regierungschefs den FSB und andere internationale Standardsetzer damit beauftragt, Ansätze zu entwickeln, um das Schattenbankensystem besser zu überwachen und zu regulieren. Im Oktober 2011 hat der FSB erste Vorschläge unterbreitet und zudem den Rahmen für ein jährliches Monitoring des Schattenbankensystems entwickelt.

Eindämmung systemischer Risiken

Dieses Monitoring soll unter anderem dazu beitragen, den Schatten etwas aufzuhellen und einen klareren Blick auf das Schattenbankensystem zu ermöglichen. Auf der Makroebene wird dabei versucht, einen Überblick über die Größe des Schattenbankensystems und seiner Teilbereiche zu gewinnen. Auf der Mikro ebene wird versucht, Informationen über einzelne Akteure oder Aktivitäten zu gewinnen. Als ein Fenster in das Schattenbankensystem werden dabei auch die Verknüpfungen zwischen beaufsichtigten Banken und Schattenbanken genutzt.

Ziel dieser Kartographierung ist es, solche Akteure und Aktivitäten innerhalb des Schattenbankensystems zu identifizieren, von denen systemische Risiken ausgehen können. Denn Ziel der Regulierung soll es nicht sein, Aktivitäten des Schattenbankensystems zu unterbinden oder Akteure aus dem Markt zu drängen, von denen keine systemischen Risiken ausgehen. Das alleinige Ziel der Regulierung ist es, systemische Risiken einzudämmen.

Direkte und indirekte Regulierung

Für die Regulierung von Akteuren und Aktivitäten gibt es im Wesentlichen zwei Ansatzpunkte: die direkte und die indirekte Regulierung. Die indirekte Regulierung zielt auf das reguläre Bankensystem und versucht, dessen Verknüpfungen mit dem Schattenbankensystem zu kontrollieren. Die direkte Regulierung dagegen setzt direkt an den Akteuren und Aktivitäten des Schattenbankensystems an.

Mit Blick auf die indirekte Regulierung wurden mit den Reformen des Basler Rahmenwerkes einige Fortschritte gemacht. So wurden die Eigenkapitalanforderungen für verschiedene Verbindungen in das Schattenbankensystem erhöht - unter anderem für Risiken aus Verbriefungen und aus Liquiditätslinien für Verbriefungsvehikel. Zudem hat der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht Ende 2013 einen Standard zur Kapitalunterlegung von Beteiligungen an Fonds veröffentlicht. Daneben entwickelt der Ausschuss zurzeit Vorschriften, um große Exponiertheit von Banken gegenüber Akteuren des Schattenbankensystems zu begrenzen und um den aufsichtlichen Konsolidierungskreis anzupassen. Daneben können auch die Liquiditätskennziffern der Bankenaufsicht helfen, systemische Risiken einzudämmen - sofern bei ihrer Definition makroprudenzielle Überlegungen berücksichtigt werden.

Ein Beispiel für direkte Regulierung von Akteuren sind die bereits erwähnten Geldmarktfonds. Vor allem US-amerikanische Geldmarktfonds sind Banken sehr ähnlich. Für Anleger gibt es kaum einen Unterschied zu einem Bankkonto - inklusive des Zugangs zu Bargeld über Geldautomaten. Problematisch sind dabei vor allem solche Geldmarktfonds, die mit konstanten Anteilswerten arbeiten, für die Anleger also einen konstanten Wert der Einlage ausweisen. Bei solchen Fonds werden Verluste nicht gleichmäßig über alle Anleger verteilt. Stattdessen gilt first-come-firstserved. Wer seine Einlage zuerst auflöst, bekommt sie in voller Höhe zurück, wer seine Einlage zu spät auflöst, muss entsprechende Verluste hinnehmen.

Dieses Prinzip macht solche Geldmarktfonds anfällig für Runs. Daher ist der Übergang zu Geldmarktfonds, die mit variablen Anteilswerten arbeiten, ein wichtiger Schritt, um den Sektor stabiler zu machen. Mittlerweile wurden sowohl in den USA als auch in Europa entsprechende Regulierungsvorschläge veröffentlicht. Diese konzentrieren sich allerdings auf alternative Maßnahmen wie Kapitalpuffer, Liquiditätsabgaben und Auszahlungsverzögerungen für Fonds mit einer variablen Bewertung. Diese Initiativen sind zu begrüßen. Besser wäre jedoch der verpflichtende Übergang zu einer variablen Anteilsbewertung.

Wertpapiersicherheiten: Ansteckung vermeiden

Ein Beispiel für die direkte Regulierung von Aktivitäten sind Wertpapierfinanzierungsgeschäfte. Bei diesen Geschäften stellt zum Beispiel eine deutsche Bank einem in Großbritannien ansässigen Hedgefonds gegen Wertpapiersicherheiten kurzfristige Finanzierungsmittel bereit. Diese Art von Geschäften kann in einem liquiden Marktumfeld zu einem prozyklischen Aufbau von Leverage beitragen. Da die bei solchen Geschäften hinterlegten Sicherheiten meist mehrfach verwendet werden, bilden sich lange Ketten von Transaktionen, in die viele verschiedene Akteure eingebunden sind - Akteure des Schattenbankensystems, aber auch Akteure des regulären Bankensystems. Damit erhöht sich die Vernetzung innerhalb des Finanzsystems, was die Gefahr von Ansteckungseffekten erhöht. Um dieser Gefahr zu begegnen, hat die EU-Kommission Ende Januar 2014 einen Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt, nach der Sicherheiten nur weiterverwendet werden dürfen, wenn der Sicherheitengeber dem zustimmt. Diese Überlegungen zur Eindämmung der Systemrisiken an den Wertpapierfinanzierungsmärkten sind zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Schattenbankensystem auf der einen Seite durchaus eine ökonomische Funktion erfüllt, auf der anderen Seite aber auch eine Quelle systemischer Risiken sein kann. Insofern ist es angebracht, darüber nachzudenken, wie diese systemischen Risiken regulatorisch erfasst werden können.

Dabei ist ein internationaler Ansatz notwendig, denn wie bereits diskutiert, spielt gerade beim Schattenbankensystem Regulierungsarbitrage eine große Rolle. Eine international fragmentierte Regulierung würde dem Problem der Regulierungsarbitrage neben der intersektoralen noch eine geografische Dimension öffnen.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass das Schattenbankensystem weit oben auf der Reformagenda der G20 steht. Im Herbst 2013 haben die G20 die bisher gemachten Fortschritte gewürdigt und einen Zeitplan aufgestellt, nachdem noch offene Punkte bis Ende 2015 abgearbeitet werden sollen.

Eines allerdings gilt für das Schattenbankensystem viel mehr als für das Bankensystem: Alles ist im Fluss. Die ständige Veränderung des Schattenbankensystems verlangt eine kontinuierliche Anpassung der Regulierung - es geht also weniger darum, das Ziel zu erreichen, als vielmehr darum, es im Auge zu behalten.

Dr. Andreas Dombret , Global Senior Advisor , Oliver Wyman GmbH, München (und Vorstand i.R., Deutsche Bundesbank)
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