Risikomanagement

Value at Risk oder die MgM-Methode? - ein Zwischenruf

Vor zirka 15 Jahren lernte ich in Leipzig einen Controller einer bayerischen Großbank kennen. Er erzählte mir voller Überzeugung von den von ihm aufgestellten "Zahlenfriedhöfen" und verantworteten Controlling-Projekten. Verstanden habe ich nicht viel, es war irgendetwas mit Opportunitätszinsen oder Kunden-Kalkulationen. Der Eindruck: ein typischer Controller, der in Kleinigkeiten schwelgt, aber nicht erkennt, dass links vom Komma vor der Zahl kein Plus-, sondern ein Minuszeichen steht. Als ich studierte, begann sich an den Universitäten das Controlling als Studienfach zu etablieren. Controller wurden gesucht und eingestellt. Es wurden auch immer mehr Controlling-Lehrstühle eingerichtet. Inzwischen gibt es viele Controller in vielen Unternehmen, gleichzeitig stiegen in den neunziger Jahren und zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts exzessiv die Zahlen der Insolvenzen wie auch der Unternehmenskrisen an. Das Versandhaus Quelle beispielsweise hatte über 200 Controller. Sie konnten den Deckungsbeitrag der weißen Tennissocken auf Seite x des Quelle-Kataloges errechnen. Sehr geholfen scheint dies nicht zu haben. In der Bankensteuerung ist Value at Risk (VaR) das Non-plus-Ultra. Eingestellt wurden und werden vorwiegend Diplom-Mathematiker, Wirtschaftsmathematiker und Diplom-Physiker. Diese Spezies scheint sich regelrecht totzurechnen in der Berechnung des Ausfallrisikos, der verschiedenen Risikoarten, in der Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeiten und der zu erwartenden Verlustquote, also des Value at Risk. Die VaR-Methode ist aus dem Risikomanagement des Kreditgewerbes, der Aufsicht und der Literatur nicht mehr wegzudenken. Value at Risk (als verlustorientiertes Risikomaß) hat sich in der Finanzwelt als Standardverfahren durchgesetzt. Eine 2004 an meinem Lehrstuhl verfasste Diplomarbeit "Vergleichende Analyse der Risikoberichterstattung im Lagebericht ausgewählter deutscher Landesbanken" zeigte, dass alle Landesbanken die VaR-Methode einsetzen. Unbeachtet blieb in den untersuchten Instituten, dass diese Berechnungen auf "Treibsand" standen, beispielsweise infolge der Qualität der verbrieften Immobilienkredite aus den USA. Vielleicht hätte man sich fragen sollen, warum die fleißigen und "seriösen" Finanzingenieure der US-Investmentbanken ihre strukturierten Anleihen, vollgefüllt mit Subprime- und Alt-A-Krediten, nicht selbst behielten - bei den ach so hervorragenden Ratingeinstufungen. "Setzen Kreditinstitute VaR ein, dann kann man sich zurücklehnen" - so lautete leider viel zu lange die weit verbreitete Auffassung - sowohl in der Geschäftsleitung, in der Bankenaufsicht, in Zentralnotenbanken und in politischen Gremien. Inzwischen kann man etwas öfter kritische Stimmen zum VaR vernehmen. Trotzdem scheint VaR immer noch das "Maß aller Dinge" im Risikomanagement zu sein. Regelrechten Genuss bereiten die Ausführungen zum VaR in Leo Müllers "Bank-Räuber" (erschienen 2010). Nach seiner Auffassung ist der VaR "das dümmste Risikomaß". Er erläutert das am Beispiel der UBS (ebenfalls zitiert bei Leo Müller): "In den 18 Monaten vor Krisenausbruch lag der VaR für die ganze Investmentbank der UBS an keinem Tag höher als 728 Millionen Franken. In den sieben Quartalen seit Mitte 2007 addierten sich die Verluste allein im Bereich Fixed Income auf 58 Milliarden Franken. In keinem Quartal lag der Verlust unter 3,2 Milliarden, 2008 weist die Bank für die toxischen Anlagen gar keinen VaR mehr aus, das Fieberthermometer wird nur noch für die gesunden Bereiche verwendet." VaR lässt sich als Schönwetterverfahren einstufen: Bei schönem Wetter braucht man dieses "Risikomaß" nicht, wenn es stürmt und schneit, dann zeigt sich dessen Unzulänglichkeit. Verdient haben am VaR nur die Anbieter und Berater. Ob Geschäftsleitungen das VaR-Konzept überhaupt verstanden haben, ist zu bezweifeln. Deshalb werden in vielen Instituten und Versicherungen Mathematiker und Physiker eingestellt, die zwar rechnen können, aber zumindest zuweilen Probleme hatten, die Risiken von Finanzprodukten richtig zu erfassen. Geschäftsleitungen und Mitgliedern von Aufsichtsorganen sowie der Bankenaufsicht mangelt es in der Regel an diesen Rechenfähigkeiten. Die Risikopotenziale wurden von ihnen verkannt, was man im Verlauf der Finanzkrise erkennen konnte: Leo Müller wirft ihnen deshalb "intellektuell beschränkte Zahlengläubigkeit" vor. In einem Artikel der schweizerischen Finanz & Wirtschaft wurde vor einigen Jahren sogar die deutsche Bankenaufsicht als Systemrisiko bezeichnet. Welch eine Respektlosigkeit! Welche Vorzüge hat demgegenüber doch die MgM-Methode (mit gesundem Menschenverstand)! Sie beruht auf Erfahrung, auf der Fähigkeit, Signale zu erkennen und richtig zu interpretieren, auf dem Können, verschiedene Informationen "nebeneinander zu legen" und sich daraus das zutreffende Bild abzuleiten, auf der Fähigkeit zu lesen und zu hören. Ein Beispiel: Im Juni 2006 konnte man in einem Spiegel-Artikel unter dem Bild mit US-Homes lesen, dass aufgrund der stark gestiegenen US-Leitzinsen immer mehr Häuslebauer mit der Bedienung ihrer variabel verzinsten Kredite in Verzug kommen. Im Herbst 2006 konnte man den Zeitungen entnehmen, dass die HSBC nennenswerte Abschreibungen im Konsumentenkreditgeschäft in den USA vornehmen musste. Jetzt sollte man diese beiden Informationen verbinden können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten kluge Risikomanager die strukturierten Anleihen aus dem Depot-A oder aus den Zweckgesellschaften abgestoßen und zumindest unter strenger Beobachtung gehalten. Als im August 2006 ein Kollege in die USA flog, bat ich ihn, mir etwas von der Immobilienblase mitzubringen. Er brachte eine Abbildung aus der Los Angeles Times (September 2006) mit, auf welcher die jährlichen Wertsteigerungen von Condominiums (Eigentumswohnungen) aus Wiederverkäufen in Kalifornien zu erkennen waren: In den Wertsteigerungen ist ein Knick zu erkennen, 2006 stagnierten sie sogar. Jetzt sollte man denken können! Ein weiteres Beispiel aus der Entstehungszeit: Wenn eine süddeutsche Landesbank 1,5 Milliarden Euro nach Island verleiht, dann sollte man sich die Einwohnerzahl ansehen. 320 000 Isländer und 1,5 Milliarden Euro Kredit! Es gibt nachweislich noch wesentlich mehr Gläubigerbanken, die an Island "geglaubt" haben. Banken aus Dänemark und Norwegen tätigten allerdings wesentlich niedrigere Volumina mit Island, obwohl oder weil sie durch Sprache und Kultur mit Island verbunden sind. Spätestens da sollte man anfangen mit der MgM-Methode, das heißt mit Nachdenken! In ihrem ausgezeichneten Artikel hat Eva Schweitzer schon in der Welt am Sonntag vom 2. Oktober 2005 die US-Immobilienblase dargestellt: "Platzt die Immobilienblase in den USA?" mit dem Untertitel "Die Spekulation mit Häusern ist in den USA ein Volkssport. Doch inzwischen sinken die Preise. Dem Markt könnte bald ein empfindlicher Rückschlag drohen." Auf Paul Krugman wurde von ihr in dem Artikel verwiesen, der vor der Immobilienblase warnte und auf die gravierenden Folgen hinwies. Zeitschriften in Deutschland brachten Artikel über die US-Immobilienblase, teils mit Bezug auf Shiller, der bereits 1999 auf den E-Commerce-Hype hinwies. Hierzulande wurde sogar für einen Börsenbrief geworben, der vor der US-Immobilienblase und den verbrieften Subprime- und Alt-A-Krediten warnte und der exakt auf die latenten Ursachen aufmerksam machte. Das hinderte bekanntlich auch viele der hiesigen Banken nicht, in diesen Anleihe-Müll zu investieren. Mit der MgM-Methode war nicht der Zeitpunkt des Risikoeintritts, das heißt der Zeitpunkt des Platzens der Immobilienblase, zu erkennen, wohl aber das von VaR-Experten konsequent und hartnäckig negierte Risikoniveau. Auch konnte man sich das "Schreckens"-Ausmaß durchaus vorstellen. Diplom-Physiker, Wirtschaftsmathematiker oder sogar Mathematikprofessoren (bei AIG in der Sparte Financial Products in London war ein US-Mathematik-Professor tätig, der mittels seiner Berechnungen zum Ergebnis "kein Risiko aus verbrieften Immobilienkrediten" gelangte) können zwar komplizierte Berechnungen aufstellen, ob diese Berechnungen aber zuverlässig die Realität abbilden, ist zu bezweifeln. Die MgM-Methode dagegen kann die Realität, deren Komplexität, die Vernetzung der Ereignisse erkennen helfen. Mit ihr können Banker wieder die Herrschaft über das Risikomanagement zurückgewinnen, das sie bedauerlicherweise und fahrlässigerweise an Physiker und Mathematiker abgegeben haben. Ein Manko hat aber die MgM-Methode: Bankaufsichten und Wirtschaftsprüfer tun sich leicht mit der Überprüfung, wenn im Risikomanagement VaR genutzt wird. Dann wird abgehakt, aber vermutlich nicht genug nachgedacht. Die Überprüfung nach der MgM-Methode ist natürlich wesentlich anspruchsvoller. Griechische Banken wurden im Vergleich zu etlichen deutschen Instituten besser geführt: Sie kauften nicht die verbrieften Subprime-Kredite wie etwa die "Düsseldorfer" (Düsseldorfer ist die in den US-Investmentbanken genutzte Bezeichnung für die dummen deutschen CDO-Käufer). Die griechischen Banken scheiterten an der Staatsverschuldung und dem Depot-A, das heißt, dem verbrecherischen Handeln der griechischen Regierungen. Nach dem finalen Chaos der Finanz-, Banken-, Immobilien-, Staatsverschuldungskrise wäre eigentlich heftige Kritik an dem VaR-Konzept zu erwarten gewesen. Stattdessen wird die VaR-Methode intensiviert, obwohl ihr Versagen eindeutig ist. Die Berechnungen basieren auf Annahmen und auf der Vergangenheit. Die Wahrscheinlichkeiten in den VaR-Berechnungen sind subjektiv, die VaR-Zahlen gaukeln aber eine Objektivierung der Risiken vor. An großen exogenen Schocks des Typs "Schwarzer Schwan" nach Nassim Taleb kollabierte das VaR-Konzept. Die Value-at-Risk-Methode birgt für Kreditinstitute und sogar Staaten existenzgefährdende Risiken. Die MgM-Methode hingegen ist hilfreich wie auch alternativlos!

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