Aktienkultur 2020 - viel Licht, aber auch Schatten

Dr. Christine Bortenlänger, Foto: Deutsches Aktieninstitut

2020 hielt mehr Überraschungen für die deutschen Kapitalmärkte bereit, als ihnen lieb war. Corona, die Talfahrt der Börsen Anfang des Jahres und Wirecard sind nur einige der Themen, die den Finanzplatz Deutschland und seine Akteure in diesem Jahr beschäftigten. Allerdings zeigten die Privatanleger in Deutschland laut Bortenlänger eine ungewohnte Reaktion: Auf dem Hochpunkt des Abschwungs kauften sie plötzlich 60 Prozent mehr Aktien als sie verkauften und hatten damit einen Anteil an der schnellen Erholung des deutschen Aktienmarktes. Für eine Stärkung einer Aktienkultur brauche es aber nicht nur die Anleger. Die DAI-Vorständin weist darauf hin, dass dafür auch ein attraktiver Finanzplatz mit den richtigen Rahmenbedingungen nötig sei, damit auch mehr Unternehmen den Gang an die Börse wagen. Sie fordert daher im Wahljahr die Politik auf, sich für die Förderung von Aktien für die Altersvorsorge, eine Verbesserung des Frameworks für Börsengänge einzusetzen und ein stärkeres Interesse der Politik am Finanzplatz Deutschland. (Red.)

Wenig überraschend hat die Gesellschaft für deutsche Sprache im Dezember 2020 Corona-Pandemie zum Wort des Jahres gekürt. Nicht wenige wünschen sich vielleicht, dass sie das Wort nie wieder hören müssten. Aber es ist, wie es ist. Die Pandemie hat die ganze Welt in Atem gehalten und wird dies wohl auch noch eine ganze Weile tun.

Das Leben wurde in einer Art und Weise beeinflusst und beschnitten, wie es sich die Gesellschaft nie hätten träumen lassen. Hand in Hand mit den persönlichen Einschränkungen gehen die Beschränkungen und Belastungen für die Wirtschaft in Deutschland. Doch versöhnlich zum Jahresausklang kam die Botschaft, dass demnächst nicht nur ein, sondern gleich mehrere Impfstoffe zur Verfügung stehen. Ein Lichtblick für 2021. Doch wie hat sich das Krisenjahr 2020 nun auf die Aktienkultur in Deutschland ausgewirkt? Und was ist Aktienkultur eigentlich?

Corona-Krise als Segen für die Aktienkultur?

Aktienkultur ist weit zu verstehen. So spiegelt sich darin zum einen das Interesse von Privatanlegern und institutionellen Investoren an Aktien als Geldanlage wider. Aber auch, dass Unternehmen die Börse nutzen, um Innovationen und Wachstum zu finanzieren, ist Teil der Aktienkultur. Ohne Investoren gibt es keine Finanzierung über die Börse. Ohne börsennotierte Unternehmen fehlt den Anlegern die Möglichkeit, an den Erfolgen der Unternehmen teilzuhaben. Alles was auf diese beiden Aspekte einwirkt, beeinflusst auch die Aktienkultur in Deutschland. Der Deutsche Aktienindex reagierte heftig auf den Ausbruch der Pandemie. Er ging im Januar bei knapp 13 000 Punkten auf Talfahrt und beendete diese erst Mitte März bei rund 8 400 Punkten. Doch während in den letzten Krisen Privatanleger meist mitten im Crash ihre Aktien verkauften, passierte dieses Mal überraschenderweise etwas völlig anderes.

Zwischen Ende Februar und Mitte April 2020 kauften Privatanleger in Deutschland 60 Prozent mehr DAX-Aktien als sie verkauften. Frei nach der Börsenweisheit "Kaufen, wenn die Kanonen donnern" nahmen sich viele Deutsche ein Herz und griffen bei Unternehmensanteilen - sei es als Direktanlage oder über einen Sparplan - zu.

Die Direktbanken ING, DKB und Comdirect meldeten im Juni, dass die Nachfrage nach Aktiendepots in der Corona-Krise stark gestiegen sei. Bei der Comdirect und ihrer Tochter Onvista hatte sich die Nachfrage seit Krisenbeginn sogar verdoppelt. Und nicht nur das: Fast zehn Prozent mehr jüngere Kunden seien dazugekommen, teilte die ING mit.

Hat sich also ausgerechnet die Corona-Krise als Chance und Segen für die Aktienkultur erwiesen? Wer mutig in der Krise investierte, konnte sich Ende November nach einem rasanten Börsenanstieg auf über 13 200 Punkte über ordentliche Kursgewinne freuen. Dass zahl reiche Neuinvestoren trotz oder sogar wegen der Turbulenzen an die Börse gefunden haben, ist grundsätzlich ein positives Zeichen. Ob damit auch ein langfristiges Engagement an der Börse und an den heimischen und internationalen Unternehmen verbunden ist, muss sich erst noch zeigen.

Virtuelle Hauptversammlungen infolge der Pandemie

Ein Indikator, wie es die Neuaktionäre mit der Langfristigkeit ihrer Anlage halten, werden die Aktionärszahlen des Deutschen Aktien Instituts (DAI) sein, die das DAI traditionell zum Ende des Jahres erhebt. Mit diesen stellt das DAI fest, wie sich der Aktienbesitz in Deutschland jährlich entwickelt. Dann wird man sehen, ob es sich bei der Aktieneuphorie vom Frühjahr nur um ein Strohfeuer handelte oder ob damit vielleicht ein längerfristiges Engagement verknüpft ist.

Mit der Pandemie kamen in Deutschland auch die ersten virtuellen Hauptversammlungen. Angesichts der Kontaktbeschränkungen waren traditionelle Präsenz-Hauptversammlungen mit teilweise mehreren Tausend Besucherinnen und Besuchern unmöglich geworden. Der Gesetzgeber ermöglichte es den Unternehmen deshalb, ihre Aktionärstreffen virtuell abzuhalten. Viele Unternehmen, die teilweise bereits kurz vor ihrer Hauptversammlung standen, mussten schnell umsteuern und neue virtuelle Formate entwickeln.

Trotz der an der einen oder anderen Stelle geübten Kritik an dem neuen Format nahmen die Aktionäre die virtuellen Hauptversammlungen insgesamt gut an. Die Präsenz stieg bei den DAX-Unternehmen in der HV-Saison 2020 sogar und erreichte ein neues Rekordhoch.* Die hohe Beteiligung der Anteilseignerinnen und Anteilseigner aus Deutschland, aber auch aus aller Welt, ist ein starkes Signal für eine lebendige Aktienkultur.

Neben Corona gab es auch noch andere Faktoren, die 2020 für die Aktienkultur in Deutschland eine Rolle spielten. So unterzog der Fall Wirecard der Belastbarkeit der Aktienkultur einem Härtetest. Durch den Zusammenbruch des Finanzdienstleisters wurde nicht nur das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland beschädigt, sondern es drohte auch, dass Aktien als Geldanlage in Verruf gerieten.

Für Anleger, die direkt in Wirecard investiert waren, war die Insolvenz des Zahlungsdienstleisters ein schlimmer Verlust. Auf den Deutschen Aktienindex hatte der Absturz von Wirecard dagegen keine bleibenden Auswirkungen. So stieg der DAX trotz Bekanntgabe der Insolvenz von Wirecard Ende Juni weiter an. Derjenige also, der breit gestreut investiert hatte, hatte ein sehr begrenztes Risiko. Damit bestätigt sich einmal mehr, wie wichtig eine breit diversifizierte Aktienanlage ist, um sich langfristig vor Kursverlusten zu schützen.

Attraktiver Finanzplatz nötig

Eine starke Aktienkultur hängt auch mit einem attraktiven Finanzplatz zusammen. Gehen mehr Unternehmen an die Börse, haben Anlegerinnen und Anleger ein größeres Anlageuniversum, können sie ihr Geld in attraktive Unternehmen anlegen. Damit Unternehmen sich für den Börsengang in Deutschland entscheiden, müssen allerdings die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht nur für den Börsengang, sondern auch für die Börsennotiz stimmen.

Dass das in Deutschland nicht der Fall ist, zeigt einmal mehr die Entscheidung des Tübinger Biotech-Unternehmens Curevac, sich im August statt an einer heimischen Börse an der US-amerikanischen Nasdaq listen zu lassen. Damit ist Curevac kein Einzelfall, sind in den letzten drei Jahren doch sieben deutsche Biotech-Unternehmen in den USA an die Börse gegangen. Der Finanzplatz Deutschland ist vor allem für junge deutsche Tech-Unternehmen mit zukunftsgerichteten Geschäftsmodellen einfach nicht attraktiv. Um dies zu ändern, braucht es unter anderem ein besseres Umfeld für Life-Science-Unternehmen. Aber auch eine Modernisierung des Aktien- und Gesellschaftsrechts sowie bessere steuerliche Rahmenbedingungen sind Voraussetzungen für einen attraktiven deutschen Finanzplatz. Curevac muss deshalb ein Weckruf für die Politik sein.

Vorurteile gegenüber Aktien in Deutschland

Auch das Delisting von Rocket Internet spricht nicht für die Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts. Auch wenn die Art und Weise des Börsenrückzugs von Rocket Internet durchaus kritisch zu sehen ist, muss man bei der Begründung, warum das Unternehmen die Börse verlässt, doch hellhörig werden. Der Start-up-Inkubator spricht davon, dass es sich nicht mehr lohne, börsennotiert zu sein, weil man sich auf andere Weise leichter finanzieren könne. Dies ist leider auch ein Zeichen dafür, dass es in Deutschland eine Überregulierung bei der Börsennotierung und den damit einhergehenden Pflichten gibt. Die Politik muss die Attraktivität der Börsenfinanzierung dringend verbessern - im Interesse der Unternehmen, aber auch dem der Anleger.

Ein wichtiger Faktor, von dem abhängt, wie sich die Aktienkultur eines Landes entwickelt, ist die Erfahrung, die die Menschen mit der Aktienanlage sammeln. Da in vielen Ländern Aktien wegen ihrer attraktiven Renditen in der Altersvorsorge genutzt werden, entsteht dort bei den Menschen ein positives Image der Aktienanlage. In Deutschland fehlen entsprechende Erfahrungen. Das erklärt auch, warum sich nach wie vor Vorurteile über Aktien hartnäckig halten.

Obwohl breit gestreute langfristige Aktienanlagen, wie beispielsweise in den DAX, in der Vergangenheit durchschnittlich sechs bis neun Prozent Rendite jährlich erwirtschaftet haben, setzen die Deutschen weiter auf Tagesgeld und Sparbuch. Aktien müssen deswegen unbedingt ein fester Baustein der Altersvorsorge in Deutschland werden.

Doch die von der Bundesregierung eingesetzte Rentenkommission, die im Frühjahr ihren Bericht vorgelegt hat, hat ihre Chance verpasst, die deutsche Altersvorsorge mit Aktien zukunfts- und demografiefest aufzustellen. Dabei muss die deutsche Politik das Rad gar nicht neu erfinden, da andere Länder bereits erfolgreich Aktien in der Altersvorsorge einsetzen. In seiner Studie "Altersvorsorge mit Aktien zukunftsfest machen" hat das DAI zum Nachlesen verschiedene Modelle dargestellt und ihre Funktionsweisen erklärt.

Politisches Signal nötig

Trotz oder vielleicht wegen der unzureichenden Reformvorschläge der Rentenkommission besteht aber Hoffnung. So haben unterdessen einige politische Vertreter die Vorteile einer kapitalgedeckten Altersvorsorge entdeckt und entsprechende Reformvorschläge auf den Tisch gelegt. Zu Recht, denn ohne ein Ansparverfahren mit Aktien wird es in der deutschen Altersvorsorge nicht gehen. Die Lasten für die zukünftigen Generationen werden sonst zu groß. Alle Parteien, die es mit einer auskömmlichen Rente im Alter ernst meinen, müssen sich deshalb ein solches Ansparverfahren für die nächste Bundestagswahl auf die Fahnen schreiben. Die Aktienkultur in Deutschland wird dann einen ungeahnten Aufschwung nehmen.

Mit Blick auf die Aktienkultur in Deutschland gab es 2020 Licht, aber auch Schatten. Insgesamt hat sie sich trotz Corona und Wirecard robust gezeigt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Zahl der Aktionärinnen und Aktionäre in Deutschland 2020 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. Die neu gewonnenen positiven Erfahrungen mit der Aktienanlage wird die Aktienkultur in Deutschland hoffentlich beflügeln.

Doch was die Aktienkultur aber vor allem braucht, ist ein starkes Signal für Aktien vonseiten der Politik. Vor allem mehr Aktien in der Altersvorsorge, bessere Rahmenbedingungen für Börsengänge und ein stärkeres Interesse der Politik für den Finanzplatz Deutschland würden der Aktienkultur in Deutschland Auftrieb geben. Das muss im Wahljahr 2021 auf der Agenda aller politischen Parteien stehen.

Fußnote

* Barkow Consulting: https://www.barkowconsulting.com/neuer-rekord-bei-hv-praesenz-2020-imdax-30/

Dr. Christine Bortenlänger Geschäftsführende Vorständin, Deutsches Aktieninstitut e. V., Frankfurt am Main
 
Dr. Christine Bortenlänger , Geschäftsführende Vorständin , Deutsches Aktieninstitut e. V., Frankfurt am Main
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