Brexit: Wie der Finanzplatz London langsam an Boden verliert

Tobias Stöhr, Foto: Spectrum Markets

Nach langen und zähen Verhandlungen sei es Anfang des Jahres soweit gewesen, Großbritannien und die Europäische Union haben nach dem Brexit ein Handels- und Kooperationsabkommen erzielt und somit das Ende des gemeinsamen Binnenmarktes und der Zollunion besiegelt. Das dazugehörige Dokument umfasse 1 276 Seiten. Umso erstaunlicher finden es die Autoren, dass trotzdem der Bereich der Finanzdienstleistungen kaum Erwähnung fand, obwohl dieser für 21 Prozent der britischen Dienstleistungsexporte steht. Die im Finanzsektor stattdessen angewandte Praxis der Äquivalenz-Entscheidungen sei allerdings nicht ideal, da sie für die Marktteilnehmer wenig Rechtssicherheit biete. Regulierung sei oft ein Argument der Gegner der europäischen Einigung. Dabei sei sie Elementar als Nährboden für Wachstum und Prosperität. Dazu führen Stöhr und Soytürk einige Beispiel gelungener Regulierung auf. Nach Meinung der Autoren sei es an der Zeit, ein bisschen mehr Vertrauen in Europa und seine Institutionen zu gewinnen. (Red.)

Der 2. Januar 2021 wird als das Datum in die Geschichte eingehen, das einen großen Rückschlag auf dem Weg zur europäischen Integration markierte. Viereinhalb Jahre nach den Verhandlungen, die auf das Referendum der Menschen in Großbritannien zum Austritt aus der Europäischen Union (EU) folgten und die fast ergebnislos blieben, konnte in letzter Minute ein Handels- und Kooperationsabkommen erzielt werden.

Zusammen mit den Anhängen umfasst das Dokument 1 276 Seiten und beinhaltet bilaterale Regelungen zu fast allen Bereichen der Zusammenarbeit, darunter Aspekte des Handels, des Reisens, des Verkehrs, des geistigen Eigentums, der Energie und der sozialen Sicherheit. Es enthält klare Regelungen zur Strafverfolgung und zur rechtlichen Kooperation, zu Hoheitsrechten im symbolträchtigen Bereich der Fischerei und sogar Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in den Bereichen Krankenversicherung und Cybersicherheit. Finanzdienstleistungen hingegen finden kaum Erwähnung im Abkommen obwohl sie 21 Prozent der britischen Dienstleistungsexporte ausmachen.

Die geringen Aussichten auf Fortschritte in diesem Bereich könnten die Unterhändler dazu bewogen haben, dieses Thema ganz auszuklammern, anstatt das gesamte Abkommen zu gefährden. Angesichts des sich abzeichnenden Hard-Brexit-Szenarios mit Lebensmittel- oder Arzneimittelknappheit scheint das im Nachhinein ein vernünftiger Ansatz gewesen zu sein. Allerdings macht die Praxis der Äquivalenz-Entscheidungen die Sache nicht einfacher. Zum einen, weil die Europäische Union jede Anerkennung einer britischen Regelung als gleichwertig innerhalb eines Monats zurücknehmen kann, was wenig Rechtssicherheit bietet. Und zum anderen, weil das Konzept der Äquivalenz nicht die Dienstleistungen der Entgegennahme von Einlagen oder der Gewährung von Krediten umfasst. Faktisch müssen britische Unternehmen, wenn keine Äquivalenz-Entscheidung der EU vorliegt, die entsprechenden kundenorientierten Einheiten in die Europäische Union transferieren, wenn sie weiterhin Geschäfte mit EU-Kunden machen wollen. Die Aufforderung der Europäischen Zentralbank an internationale Banken, Vermögenswerte im Wert von 1,2 Billionen Euro aus Großbritannien in ihre EU-Einheiten zu transferieren, erhöht den Druck zusätzlich.

Zinsderivate in die USA gewandert

Britische Banken und Marktakteure haben versucht, sich auf dieses Szenario vorzubereiten, indem sie entsprechende EU-Niederlassungen gegründet haben. Während es jedoch vergleichsweise einfach war, Bankdienstleistungen zu dezentralisieren, wobei die Hauptinfrastrukturen in ihren britischen Zentralen verblieben, zeigt der Börsenhandel einen anderen Trend. Am 4. Januar 2021, dem ersten Handelstag des Jahres 2021, hat sich ein Aktienhandelsvolumen von rund 6 Milliarden Euro von London auf Handelsplätze innerhalb der Europäischen Union verlagert. Ein ähnlicher Trend ließ sich seither für die Handelsvolumina von Zinsderivaten beobachten - mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Markt eher zu US-Plätzen als zu EU-Einheiten gewandert ist.

Viele fragen sich, wie groß die Auswirkungen dieser Handelsverlagerungen in die Europäische Union für die Londoner City tatsächlich sind. Denn ein erheblicher Teil davon wird nun außerhalb Großbritanniens abgewickelt, verbleibt aber wirtschaftlich bei Unternehmen mit Hauptsitz in London, da die Abwicklung einfach über deren EU-Tochtergesellschaften erfolgt. Diese Sichtweise greift jedoch zu kurz, wenn man die tieferen Probleme betrachtet, die die Handelsverlagerungen mit sich bringen. London war traditionell das Zentrum der europäischen Kapitalmärkte. Ein Großteil der Technologie, der zugrundeliegenden Handelsinfrastrukturen, des Handels selbst sowie ein großer Teil der relevanten Regulierung in Europa baut auf dem Wissen und der Erfahrung auf, die sich dort entwickelt haben; und eine ganze Industrie von Zulieferern, Subunternehmern und Anbietern in den Bereichen Technologie, Recht und anderen Dienstleistungen steht und fällt mit dem Wohl und Wehe der City. Die Frage, wo das Geschäft physisch abgeschlossen wird, hat also andere Auswirkungen als nur die Frage, wo die Steuer auf diese Transaktionen fällig wird.

Experten sind sich einig, dass die Märkte in der jüngsten Vergangenheit extrem dynamisch geworden sind und dass die Liquidität, wie fließendes Wasser, immer zuerst einen Weg findet, die tiefsten Kanäle zu fluten. Experten sind sich auch einig, dass der Handelsstrom, nachdem er einmal London verlassen hat, nicht so bald zurückkehren wird: "Ich würde vermuten, dass dies eine dauerhafte Veränderung sein wird [...]", kommentierte Steven Maijoor, Vorsitzender der European Securities and Markets Authority (ESMA).

War es die längste Zeit im beiderseitigen Interesse der EU und Großbritanniens, Vereinbarungen über Finanzdienstleistungen zu treffen, verschiebt sich der Druck mehr und mehr in Richtung Großbritannien, da die Anreize für die EU, Zugeständnisse zu machen, proportional mit der Anpassung der Märkte an den Status quo schwinden. Und während der Verlust des Geschäfts mit in der EU notierten Aktien mit Kunden in Europa für London finanziell verkraftbar sein mag, würde der potenzielle Verlust des Clearinggeschäfts mit Euro-Derivaten einen viel härteren Einschnitt bedeuten.

Regulatorik stärkt den Finanzplatz EU

Regulierung war stets ein Lieblingsthema der Kritiker eines gemeinsamen Ordnungsrahmens auf europäischer Ebene, was dazu führte, dass die Europäische Union Großbritannien als Mitgliedsstaat verlor. Befürworter der Trennung erweckten den Eindruck, dass die Nationalstaaten besser dran wären, wenn sie ihre Regeln auf individueller Ebene festlegen würden. Für die Integration der Finanzmärkte, mehr Wettbewerb, höhere Transparenz und stärkeren Kleinanlegerschutz wäre dies jedoch eine Verkennung der Realität. Rechtssicherheit und allgemein akzeptierte Verhaltensgrundsätze sind der Nährboden für Wachstum und wirtschaftlichen Wohlstand gewesen.

Die Verordnung (EU) Nr. 596/2014 oder die "Marktmissbrauchsverordnung" (MAR) sind Beispiele dafür, wie sich die Finanzmarktgesetzgebung - zugegebenermaßen manchmal langsam - entwickelt und in der EU durchgesetzt wird. Der Anstieg der Marktmissbrauchs-Sanktionen der ESMA im Jahr 2019 um fast 900 Prozent gegenüber 2018 ist ein starkes Indiz.

Die Marktmissbrauchsverordnung wurde von der EU verabschiedet, um ein einheitliches Niveau an Transparenz und Anlegerschutz auf den Kapitalmärkten in allen Mitgliedsstaaten zu schaffen. Mit der Einführung der MAR am 3. Juli 2016 wurde die Pflicht zur Offenlegung von Insiderinformationen von Aktien, die zum Handel an RMs zugelassen sind, auf alle Finanzinstrumente, die unter die MAR fallen, ausgeweitet. Seitdem müssen Emittenten Ad-hoc-Meldungen europaweit verteilen und auch auf der Website für einen Zeitraum von fünf Jahren zur Verfügung stellen. Darüber hinaus müssen diese Informationen an die zuständige NCA, das zuständige Unternehmensregister und gegebenenfalls an den Betreiber des Handelsplatzes übermittelt werden. Die Sanktionen und Bußgelder bei Verstößen gegen Offenlegungspflichten und Insiderregeln wurden drastisch erhöht. Der Versuch der Marktmanipulation war durch die MAR zu einem Straftatbestand geworden. Eine weitere Maßnahme, die dem Prangerprinzip folgt, hat Wirkung gezeigt: Mit der MAR werden alle Sanktionen unter Angabe der Verstöße und der Identität der betroffenen Personen für fünf Jahre auf den Webseiten der NCA öffentlich zugänglich gemacht.

Im Einklang mit der Gesetzgebung musste die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat über die Durchsetzung und Einhaltung der Verordnung sowie deren Auswirkungen berichten. Im Rahmen dessen beauftragte die Kommission die ESMA, eine Konsultation mit den Marktteilnehmern zu den relevanten Aspekten durchzuführen. Dazu gehörten die Definition von Insiderinformationen, die Bedingungen für den Aufschub der Offenlegung, die Notwendigkeit der Benachrichtigung der NCAs über Insiderinformationen, deren Offenlegung aufgeschoben wurde, die dann aber keine Insiderinformationen mehr sind, Marktsondierungen, Insiderlisten, permanente Insiderlisten und Aktienrückkäufe.

Am Ende von Konsultationsprozessen empfiehlt die ESMA in der Regel Erleichterungen in bestimmten Aspekten, indem sie weitere Leitlinien zur Verfügung stellt, anstatt eine Änderung oder gar Rücknahme der jeweiligen Bestimmungen zu empfehlen - wie es bei der MAR-Bewertung der Fall war. Die Berichte werden dann an die Kommission geschickt, die die Empfehlungen der ESMA in ihrem Bericht an das Parlament und den Rat berücksichtigt, die dann über die Verabschiedung möglicher Überarbeitungen entscheiden.

Dieser Prozess erscheint vielen umständlich. Aber sie lösen ein regulatorisches "Nichts" ab, in dem einige Länder Marktmanipulation nicht einmal als Straftat qualifizierten. Die wichtigsten Erkenntnisse dieses Prozesses sind, dass er konsultativ und transparent ist - und dass er darauf abzielt, Rechtssicherheit für eine Gemeinschaft europäischer Märkte zu schaffen, die zusammen die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt darstellen. Es ist an der Zeit, ein bisschen mehr Vertrauen in Europa und seine Institutionen zu gewinnen.

Tobias Stöhr Sales Executive, Spectrum Markets, Frankfurt am Main
Dr. Alpay Soytürk Leiter Compliance, Spectrum Markets Frankfurt am Main
Tobias Stöhr , Sales Executive, Spectrum Markets, Frankfurt am Main
Dr. Alpay Soytürk , Leiter Compliance , Spectrum Markets, Frankfurt am Main

Weitere Artikelbilder

Noch keine Bewertungen vorhanden


X