"Capital in the Twenty First Century" - Anregung zum Nachdenken

Dr. Bernhard Blohm, Hamburg - Als vor rund einem Jahr die englische und die deutsche Version von Thomas Pikettys Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" erschienen sind, gab das der öffentlichen Debatte einen weiteren Schub. Die kontroversen Diskussionen über das Buch schafften es weltweit bis in die Nachrichtensendungen des Fernsehens und die Titelgeschichten in Magazinen. Bei aller theoretischen Fundamentalkritik, den öffentlich vorgetragenen Zweifeln an den umfangreichen Datensammlungen und den Hinweisen auf Inkonsistenzen zwischen Theorie und Empirie vermisst der Autor zuweilen die Bereitschaft sich mit den Schlussfolgerungen des Buches überhaupt auseinanderzusetzen. Er selbst bringt dabei die Überlegung ein, dass das Vermögen der Besitzenden der Höhe nach nahezu identisch mit den Verbindlichkeiten der Schuldner ist. Mit Blick auf die von Piketty geforderte Kapitalsteuer sieht er entweder das Problem der zunehmenden Ungleichheit nicht gelöst oder befürchtet massiven Schaden bei der Kapitalbildung und dem Wirtschaftswachstum. (Red.)

Eigentlich geht es kaum langweiliger. Da tragen Studenten und Mitarbeiter unter der Leitung des Franzosen Thomas Piketty in mühsamer, jahrzehntelanger Arbeit eine unglaubliche Datenmenge zusammen und daraus wird dann ein Buch: "Capital in the Twenty First Century". Trotzdem hat dieses Buch wie wohl kein zweites seit dem Erscheinen von John Maynard Keynes "General Theory of Employment, Interest and Money" im Jahr 1936 so viel Staub aufgewirbelt. Die einen zweifeln an der Seriosität der Zahlenreihen, die anderen äußern massive Vorbehalte gegen seine zentrale These, die "Weltformel" r größer q. Die besagt schlicht und einfach, dass das Kapital, insbesondere das Finanzkapital, schneller wächst als die reale Wirtschaft.

Theoretische Fundamentalkritik

Die Kritik an dieser Aussage hatte manchmal schon fast skurrile Züge, etwa wenn Piketty unterstellt wird, dass er zwar auf der Basis neoklassischen Gedankenguts argumentiere, nach dieser Theorie aber die Wachstumsrate des Kapitals "r" niemals dauerhaft größer sein könne als die Rate des Wirtschaftswachstums "q".

Sollten beide Exponenten dauerhaft unterschiedlich groß sein, funktioniert die neoklassische Wachstumstheorie nämlich nicht. Nur wenn beide Wachstumsraten gleich sind, kann diese Theorie zu ihrem Kern führen, dem stabilen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht. Anders gesagt: Empirisches Datenmaterial hin oder her, es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Die Folgen dieser theoretischen Fundamentalkritik waren merkwürdig. Niemandem erschien es danach noch interessant genug, sich mit Pikettys Schlussfolgerungen aus dem von ihm gesammelten Datenmaterial zu beschäftigen. Dabei hätten diese genau das verdient. Piketty leitet aus seiner Datensammlung vor allem zwei große Schlussfolgerungen ab, die sich durch das ganze Buch ziehen:

1. Es gibt keine Grenzen für die Zunahme der Ungleichheit, wenn die Wachstumsrate des Kapitals "r" größer ist als die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate "q" (Seite 431). Und es existiert keine Naturgewalt oder keine Regel des Marktes, die das Gewicht des Kapitals und des Einkommens aus Kapital über die Zeit verringern würde (Seite 234).

2. Gegen die wachsende Ungleichverteilung des Kapitals und des Einkommens aus Kapital hilft letztlich nur eine globale, umfassende und progressive Kapitalsteuer, mit der die Staaten die sich sonst immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich wieder schließen könnten (Seite 515 ff.).

Steigende Kapitalintensität der Wirtschaft

Die erste These klingt zunächst plausibel. Die Wachstumsrate des Kapitals und die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate sind Exponentialfunktionen, wobei der Exponent der Kapitalfunktion größer ist als der Exponent der Wirtschaftsfunktion. Sollte diese Konstellation dauerhaft Bestand haben, dann ist es unvermeidlich, dass das Kapital schneller wächst als die Wirtschaft. Bildlich gesprochen werden die (vertikalen) Abstände zwischen beiden Kurven im Zeitablauf zwangsläufig immer größer. Was bedeutet das nun für die langfristige Entwicklung des Volkseinkommens, das sich aus dem Kapitaleinkommen und dem Arbeitseinkommen zusammensetzt? Wächst das Kapitaleinkommen stärker als die Gesamtwirtschaft, so muss zwangsläufig der Anteil des Kapitaleinkommens am Volkseinkommen zulasten des Arbeitseinkommens steigen.

In der Tat ist in den vergangenen Jahrzehnten die Kapitalintensität der Wirtschaft in den Industrie-, aber auch in den Schwellenländern deutlich gestiegen. Die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen, ist dagegen gesunken. Im Extremfall würde dieser Prozess jedoch dazu führen, dass irgendwann das Volkseinkommen nahezu identisch mit dem Kapitaleinkommen wäre, wir also in einer Welt lebten, in der es keine Löhne und Gehälter mehr gibt. Alle Menschen beziehen dann nur Einkünfte oder Erträge aus Kapital, sämtliche Arbeit wird von Maschinen oder Robotern übernommen. Selbst wenn es ein sehr langer Weg bis dahin ist, an diesem Sachverhalt kommt man nicht vorbei, solange r > q gilt. Eine solche Welt erscheint utopisch, wenn sie denn überhaupt vorstellbar ist - schon gar nicht in einer globalen Dimension.

Aber ist denn seine zentrale These, wonach es keine Grenze für das schneller wachsende Kapitaleinkommen und für die Zunahme der Ungleichheit gibt, überhaupt haltbar?

Eine von Piketty vollkommen außer Acht gelassene Tatsache ist, dass das Vermögen der Besitzenden der Höhe nach nahezu identisch mit den Verbindlichkeiten der Schuldner ist. Das gilt für Finanzvermögen jeglicher Art, aber zum größten Teil auch für Immobilienvermögen. Unternehmen müssen Dividenden für ihre Aktionäre erwirtschaften, Kreditnehmer müssen Schulden abtragen durch Zins und Tilgung, Emittenten von Wertpapieren welcher Art auch immer müssen den Käufern Zinsen auszahlen, Immobilienbesitzer verlangen Mietzahlungen von ihren Mietern und so weiter.

Korrektur über die Marktregeln?

Alle diese Verpflichtungen können nur erfüllt werden, wenn die Schuldner entsprechende Einkommen verdienen oder Einnahmen erwirtschaften. Das aber wird nur in den seltensten Fällen aus dem Kapitaleinkommen möglich sein, sondern in aller Regel werden Schulden aus dem Arbeitseinkommen bedient. In Pikettys System ist das Arbeitseinkommen jedoch der Teil des Volkseinkommens mit dem schwächsten Wachstum - deutlich schwächer jedenfalls als "r" und auch schwächer als "q".

Die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate "q" setzt sich ja aus der Wachstumsrate des Kapitals "r" und der des Arbeitseinkommens "a" zusammen, wobei nach r > q gelten muss r > q > a.

Daraus folgt: Je mehr sich die Besitzenden über wachsendes Kapital und steigendes Kapitaleinkommen freuen, umso drückender werden die Verbindlichkeiten für die Schuldner. Aus dieser Falle kommen in der Welt der Exponentialfunktionen die Schuldner nicht heraus. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Gefangene des Systems. Die Schulden wachsen ihnen irgendwann zwangsläufig über den Kopf. Der Einwand der Ökonomen lautet unisono: So weit wird es nicht kommen. Das werde durch den Markt schon viel früher korrigiert. Die spannende Frage wäre dann aber, auf welche Weise das korrigiert wird?

Systemimmanente Krise

Piketty kommt in seinem Buch zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Kluft zwischen Reich und Arm wurde nicht durch irgendwelche Regeln des Marktes verringert, sondern stets durch Kriege, Krisen oder Revolutionen, also auf eine mehr oder weniger gewaltsame Art. So führt er die in Deutschland im Verhältnis zu anderen Industrieländern geringere Ungleichverteilung der Kapitalvermögen auf die Kapitalvernichtung durch die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts zurück.

Auch die jüngste Finanz- und Schuldenkrise hat das Wachstum dieser Ungleichheit verzögert. Aber schon heute ist erkennbar, dass das nicht zu einer nachhaltigen Korrektur führen dürfte.

Nur, was heißt das im Klartext? In Pikettys Welt der unterschiedlich dynamischen Exponentialfunktionen wäre die Krise systemimmanent, also ein notwendiges Übel, um das schneller wachsende Kapitalvermögen wieder zu stutzen. Die Krise wäre so etwas wie ein Naturgesetz, vor der es kein Entrinnen gibt. Sie würde zwangsläufig das uferlose Auseinanderdriften der exponentiellen Kurven von Gesamtwirtschaft, Kapital und Arbeit mit Gewalt beenden. Das aber wären wenig tröstliche Aussichten und nicht gerade ein Vertrauensbeweis für unser Wirtschaftssystem.

Genau dieser Zusammenhang führt dazu, dass auch seine zweite These, mit einer globalen und progressiven Kapitalsteuer die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung zu beseitigen, sehr fragwürdig erscheint.

Nach Pikettys Vorstellungen darf die Kapitalsteuer nicht dazu führen, dass sie spürbar negative Auswirkungen auf die Kapitalbildung und das Wirtschaftswachstum hat. Sie solle eine "moderate Steuer" sein. Konkret bedeutet das, die Entstehung des Volkseinkommens darf durch die Steuer nicht beeinträchtigt werden. Weder "r" noch "q" dürfen also durch die vom Staat erhobene Steuer kleiner werden, nur die Verteilung des Volkseinkommens soll zugunsten derjenigen mit weniger Kapital verändert werden.

Wahl zwischen Pest und Cholera

Wenn die Wachstumsrate "r" nach Steuern aber immer noch größer ist, als die Rate des Wirtschaftswachstums "q", wird der Prozess der zunehmenden Ungleichheit der Vermögensverteilung keinesfalls gestoppt, sondern nur zeitlich verzögert. Das heißt nichts anderes, die Krise oder gar der Zusammenbruch des Systems bleiben auch in diesem Fall eine unvermeidbare Begleiterscheinung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Sie erreicht die Menschen nur etwas später als ohne Steuer.

Um genau das zu verhindern, müsste von "r" so viel "weggesteuert" werden, bis "r" und "q" gleich groß sind. Bei einer von ihm festgestellten langfristigen Wachstumsrate von "r" in Höhe von etwa 4 bis 5 Prozent und einem Wirtschaftswachstum von 1 bis 1,5 Prozent müssten also etwa zwei Drittel von "r" vom Staat konfisziert werden. Das allerdings wäre alles andere als eine moderate Steuer, sondern ein massiver Eingriff mit gravierenden Auswirkungen auf Kapitalbildung und Wirtschaftswachstum.

So wie es aussieht, hat man bei Pikettys Kapitalsteuer nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder löst sie nicht das Problem der zunehmenden Ungleichheit oder aber sie schadet der Kapitalbildung und dem Wirtschaftswachstum.

Was folgt ist die ernüchternde Erkenntnis, dass Pikettys Buch im Grunde ein flammender Appell ist, über ein Wirtschaftsund insbesondere ein Finanzsystem nachzudenken, in dem Wachstumsraten eine alles beherrschende Rolle spielen.

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