Falsche Begründungen von Negativzinsen

Dr. Timm Gudehus

Dr. Timm Gudehus, Unternehmensberater, Wissenschaftler und Autor, Hamburg - Wenn Geschäftsbanken Negativzinsen auf Zentralbankguthaben zahlen müssen, haben sie einen Anreiz, diese Gelder lieber an Private auszuleihen und damit das Wachstum der Realwirtschaft anzukurbeln. Und die Erhebung von Negativzinsen auf gewisse Girokontoguthaben ihrer Kunden vonseiten der Banken bedeutet lediglich eine Weitergabe der eigenen Belastungen durch die Geldanlage bei der Notenbank. Beide Begründungen für Negativzinsen will der Autor nicht gelten lassen. (Red.)

Negativzinsen auf Zentralbankguthaben werden damit begründet, dass sie die Geschäftsbanken veranlassen sollen, ihre Überschussreserven bei der Zentralbank an Unternehmen und Privathaushalte auszuleihen und damit das Wachstum der Realwirtschaft zu stimulieren. Mit der Begründung, sie geben damit nur die Negativzinsen für das bei der Zentralbank eingelegte Giralgeld weiter, verlangen inzwischen auch Geschäftsbanken, Sparkassen und Volksbanken Negativzinsen auf Girokontoguthaben. Beide Begründungen sind falsch.

Negativzinsen für Zentralbankguthaben

Heute ist nur das von einer Zentralbank in Form von Münzen und Banknoten emittierte Bargeld allgemeines gesetzliches Zahlungsmittel. Neben dem bekannten Bargeld gibt es das sogenannte Zentralbankbuchgeld. Das sind die Guthaben auf den Zentralbankkonten, die jederzeit in Bargeld ausgezahlt werden können. Durch Überweisung von Zentralbankbuchgeld können die Inhaber eines Zentralbankkontos untereinander monetäre Forderungen begleichen. Der Besitz eines Zentralbankkontos ist heute jedoch beschränkt auf Geschäftsbanken, Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken, Staatsbanken und einen kleinen Kreis von Institutionen und Personen.

Zentralbankbuchgeld kann nicht an Nichtbanken ohne Zentralbankkonto überwiesen oder ausgeliehen und daher auch nicht als Zahlungsmittel in der Realwirtschaft verwendet werden. Das Verleihen von Zentralbankbuchgeld an Nichtbanken kann auch nicht durch Negativzinsen auf Zentralbankguthaben stimuliert oder auf andere Weise erzwungen werden. Die Begründung, dass Negativzinsen auf Zentralbankguthaben die Kreditvergabe der Banken an Nichtbanken und damit das Wachstum der Realwirtschaft stimulieren würden, ist daher falsch.

Kurzfristige Begünstigung der Vermögensbesitzer

Die Tatsache, dass Zentralbankbuchgeld nicht in die Realwirtschaft gelangen kann, erklärt auch, warum die mit der quantitativen Lockerung (QE), das heißt durch den Ankauf großer Anleihemengen durch die Zentralbank, angestrebten Ziele, wie eine höhere Inflationsrate, eine Belebung der Wirtschaft und geringere Arbeitslosigkeit, nicht in dem erwarteten Ausmaß erreicht werden. Für die massenhaften Anleihekäufe erzeugt die Zentralbank immer mehr Zentralbankbuchgeld, das sich als Überschussreserve auf den Zentralbankkonten der Geschäftsbanken sammelt. Wenn die Zentralbank Anleihen aus dem Eigenbestand der Banken ankauft, entsteht kein Giralgeld. Wenn sie von Nichtbanken Anleihen kauft, müssen deren Banken den Kaufpreis dem Girokonto der Verkäufer gutschreiben, das heißt in gleicher Höhe neues Giralgeld erzeugen.

Die anhaltend hohe Nachfrage der Zentralbank auf den Anleihemärkten bewirkt steigende Anleihekurse und sinkende Renditen. Die Nichtbanken suchen nach anderen Anlagemöglichkeiten für die Erlöse aus dem Anleiheverkauf. Das führt zu steigenden Aktienkursen und Immobilienpreisen sowie zu sinkenden Kreditzinsen. Die Kursgewinne und ansteigenden Vermögens preise begünstigen kurzfristig die Vermögensbesitzer. Die niedrigen Zinsen entlasten die hochverschuldeten Staaten und andere Schuldner. Sie erleichtern aber die Kreditvergabe nur so lange, bis der Bedarf kreditwürdiger Investoren und Konsumenten gesättigt ist. Wenn die Zinsen abzüglich Steuern unter das Ausfallrisiko sinken, unterbleibt die Kreditvergabe.

Aus den Negativzinsen auf ihre ansteigenden Überschussreserven resultieren erhebliche Kosten für die Banken, deren Erträge bereits wegen der sinkenden Zinsspannen rückläufig sind. So führt der seit März 2016 im Eurosystem geltende Negativzinssatz von minus 0,4 Prozent per annum für Überschussreserven in einer Höhe von 1 500 Milliarden Euro zu einer jährlichen Belastung der Banken im Euroraum von 6 Milliarden Euro.1) Die EZB und NZB haben entsprechende Einnahmen. Die Höhe dieser Mehrbelastung der Banken ist unabhängig von der Summe der Girokontoguthaben. Dass auch Staatsbanken und andere staatliche Institutionen mit Negativzinsen auf ihre Zentralbankguthaben belastet werden, ist besonders unsinnig, da die daraus resultierenden Gewinne der Zentralbank später wieder an den Staat ausgeschüttet werden.

Negativzinsen für Girokontoguthaben

Die Guthaben auf den Girokonten der Geschäftsbanken, Sparkassen und Volksbanken sind jederzeit fällige Forderungen der Kontoinhaber an die kontoführende Bank, das heißt Kredite. Die Guthaben können auf Anweisung des Kontoinhabers in Bargeld ausgezahlt oder auf andere Konten übertragen werden. Durch Überweisung von Girokontoguthaben wird heute ein Großteil aller Käufe beglichen, Löhne und Gehälter bezahlt und andere monetäre Verpflichtungen erfüllt. Daher werden die Girokontoguthaben als Giralgeld bezeichnet, obgleich sie kein gesetzliches Zahlungsmittel sind.

Giralgeld wird von den Banken erzeugt, wenn sie Bargeld als Kontoeinlage annehmen, Kredite an Nichtbanken vergeben, Wertpapiere und Anlagegüter von Nichtbanken kaufen und wenn sie monetäre Verpflichtungen durch eine Gutschrift auf ein Girokonto erfüllen. Es wird wieder vernichtet, wenn Bargeld abgehoben, Kredite getilgt und wenn Wertpapiere oder Anlagegüter aus dem Eigenbestand der Bank an Nichtbanken verkauft werden.

Für die Girokontoguthaben ihrer Kunden muss eine Bank auf ihrem Zentralbankkonto eine Mindestreserve halten, die im Eurosystem derzeit 1 Prozent der Einlagensumme beträgt. Die ex post zu erfüllende Mindestreservevorschrift schränkt die Giralgeldschöpfung der Banken nicht wirksam ein, denn die Banken können Giralgeld bis zum 100-fachen ihres Zentralbankguthabens erzeugen. Außerdem können sie sich nach Bedarf bei der Zentralbank zusätzliches Zentralbankbuchgeld durch Verkauf oder Hinterlegung von Wertpapieren beschaffen.

Verzinsung der Mindestreserven

Als Sicherheit für die Guthaben auf den Girokonten ihrer Kunden hinterlegt die Bank also nur eine relativ geringe Menge von Zentralbankbuchgeld. Anders als die Überschussreserven werden die Mindestreserven nicht mit Negativzinsen belastet. Sie werden in der Regel sogar positiv verzinst. So beträgt die Verzinsung der Mindestreserven seit April 2016 im Eurosystem plus 0,05 Prozent per annum. Den Banken entstehen also aus den Girokontoguthaben ihrer Kunden keine Zinsbelastungen bei der Zentralbank. Sie haben daraus sogar geringfügige Einnahmen. Damit erweist sich die Begründung der Negativzinsen auf Girokontoguthaben mit den Negativzinsen der Zentralbank als falsch. Die Negativzinsen auf die Überschussreserven stehen in keinem Zusammenhang mit den Girokontoguthaben.

Kostentreiber eines Girokontos sind die einzelnen Transaktionen, wie Einzahlungen, Auszahlungen und Überweisungen, und die damit verbundenen Buchungsvorgänge, aber nicht die Höhe der transferierten Geldbeträge und auch nicht die Höhe der Guthaben. Das Giralgeld wird von der kontoführenden Bank weder aufbewahrt oder ausgeliehen noch bei einer Zentralbank hinterlegt. Es ist ein verbuchter Anspruch auf Auszahlung von Bargeld oder Übertragung auf andere Konten. So wie die Transaktionsgebühren - abgesehen von der Aus- und Einzahlung von Bargeld - unabhängig vom Transaktionsbetrag sind, sollte daher auch die Grundgebühr für die Kontoführung unabhängig von der Höhe der Guthaben sein.

Die einzigen Kosten, die den Banken aus den Girokontoguthaben entstehen, sind die Kosten der Einlagensicherungseinrichtungen und die Beiträge zum Aufbau eines Bankensicherungsfonds. Solange die Absicherung jedoch auf Guthaben bis 100 000 Euro beschränkt ist und der europäische Bankensicherungsfonds mit geplanten 55 Milliarden Euro weniger als 1 Prozent des gesamten Giralgeldbestands absichert, lassen sich damit keine nennenswerten Bestandsgebühren für Girokontoguthaben begründen.

Negativzinsen für die Girokontoguthaben von Sozialkassen, Pensionsfonds, Versicherungen und Unternehmen, die zur Erfüllung ihrer laufenden Zahlungsverpflichtungen hohe liquide Guthaben benötigen, belasten Privathaushalte und Unternehmen. Sie schaden der gesamten Wirtschaft. Negativzinsen auf sehr hohe Girokontoguthaben sind besonders ungerechtfertigt, weil Guthaben über 100 000 Euro von der Einlagensicherung ausgenommen sind und durch den Bankensicherungsfonds nur unzureichend abgesichert werden.

Sicherungsgebühren für vollständig gesichertes Buchgeld

Die falschen Begründungen der Negativzinsen offenbaren die widersprüchlichen Vorstellungen über das heutige Geldsystem. Selbst Bank- und Finanzfachleute täuschen sich und andere über die unzureichende Sicherheit der Giralgeldes und der Zahlungssysteme.

Eine vollständige Sicherheit des Giralgeldes erfordert eine hundertprozentige Absicherung der Buchgeldkonten. Eine Lösung ist die Einführung einer sicherungsübereigneten Girokontenreserve auf einem Zentralbankkonto. Eine andere Lösung ist die Zulassung von gesonderten Sicherheitskonten bei Banken oder anderen Finanzdienstleistern, die durch ein Treuhandkonto zur Girokonteneinlagensicherung bei der Zentralbank vollständig gedeckt sind. Solange die Zentralbank die Girokontenreserve beziehungsweise die Sicherungsrücklagen mit Negativzinsen belastet, könnten die Banken diese Kosten als Sicherungsgebühr an die Kontoinhaber weitergeben. Die Zentralbank sollte jedoch eine vollständige Absicherung des Giralgeldes fördern und auf die Sicherungsrücklagen wie auf die Mindestreserven keine Negativzinsen erheben.

Eine vollständige Sicherung des Geldes und eine umfassendste Lösung der grundlegenden Probleme des heutigen Geldsystems sind mit einer neuen Geldordnung erreichbar, in der alles Giralgeld durch Zentralbankbuchgeld auf gesonderten Geldkonten ersetzt wird. Das Zentralbankbuchgeld auf den ähnlich wie Wertpapierkonten außerhalb der Bankbilanzen verwalteten Geldkonten ist vollständig gegen Bankencrashs gesichert und verursacht keine Sicherungskosten. Die Einführung einer ansteigenden Girokontenreserve und die Einrichtung von Sicherheitskonten eröffnen den gleitenden Übergang zu einer neuen Geldordnung.2)

Fußnoten

Der Beitrag enthält Auszüge und Gedanken aus dem Buch "Neue Geldordnung, Notwendigkeit, Konzeption und Einführung", von Timm Gudehus, das 2016 bei Springer Gabler erschienen ist.

1) Die als "Entgelt für Überschussreserven" bezeichneten Negativzinsen für die die Mindestreserve überschreitenden Zentralbankkontoguthaben betrug von Oktober 2015 bis April 2016 minus 0,4 Prozent per annum. Sie wurden ab Mai 2016 - vielleicht aus Einsicht in die ansteigende Belastung der Banken - auf minus 0,3 Prozent per annum gesenkt. Die Mindestreserven wurden bis April 2016 mit 0,00 Prozent und seit Mai 2016 mit 0,05 Prozent per annum verzinst. (www.Bundesbank.de / 4. November 2016 / Zins- und Reservesätze).

2) Siehe J. Huber, Monetäre Modernisierung, Zur Zukunft der Geldordnung: Vollgeld und Monetative, 4. Auflage Metropolis, Marburg 2014; T. Gudehus; Neue Geldordnung, Notwendigkeit, Konzeption und Einführung, Springer Gabler, Berlin Heidelberg New York, 2016; Thomas Mayer, Die Neuordnung des Geldes, Warum wir eine Geldreform brauchen, Finanzbuchverlag, München 2014.

Dr. Timm Gudehus , Unternehmensberater, Hamburg
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