Finanzinnovation und Aufsicht - eine Annäherung

Helmut Ettl, Mitglied des Vorstands, Oesterreichische Finanzmarktaufsicht, Wien - Geschäftsmodelle von Banken und anderen Finanzintermediären ändern sich fortlaufend, um Kundenbedürfnissen nachzukommen und einem wachsenden Kostendruck entgegenzutreten. In diesem Szenario stuft der Autor Innovation als einen seit jeher wichtigen positiven Treiber der Finanzwelt und damit auch der Wirtschaft ein. Per Definition schreibt er ihr immer Situationen zu, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat - und damit mit Unsicherheit und Risiken verbunden sind, die durch Regulierung und Aufsichtshandeln adressiert werden. Die Grundprinzipien der Aufsicht - Neutralität, Kohärenz, Proportionalität und Transparenz - hält er dabei auch im innovativen Umfeld für bewährt. Die Aufsicht, so sein Ansatz, kann damit auch innovativen Startups einen verlässlichen Rahmen und eine Basis für einen Dialog bieten, der essenziell ist, um ein gemeinsames Verständnis von Risiken in den zugrunde liegenden Geschäftsmodellen zu entwickeln. (Red.)

Finanzinnovation findet neue Wege, um komplementäre Bedürfnisse zusammenzubringen und Nutzen zu schaffen. Im Idealfall dient sie der Reduzierung von Marktfehlern und Ineffizienzen und letztendlich als wesentlicher Beitrag zum Wirtschaftswachstum. In der Vergangenheit haben Finanzinnnovationen dazu beigetragen, Kapital zu allozieren, Risiken im Kollektiv zu teilen oder zwischen volkswirtschaftlichen Sektoren zu transferieren; für die Volkswirtschaft ist ein solcher Finanzintermediationsmechanismus lebensnotwendig. Gerade auch in Schwellen- und Entwicklungsländern können Finanzinnovationen beim Aufbau eines Finanzsystems dienlich sein, zum Beispiel durch Schaffung von dringend notwendigem Zugang zu günstigen Krediten, Versicherungen oder Sparkonten. Finanzinnovationen sind meist Prozess- oder Produktinnovationen und bedienen spezifische Bedürfnisse: Während bei Prozessinnovationen niedrigere Kosten und schnellere Abwicklung im Vordergrund stehen, erfolgen Produktinnovationen, um Zahlungsströme zu gestalten und Risiken zu teilen.

Immer auch Unsicherheit und Risiken

Per Definition birgt Innovation quasi immer auch Unsicherheit und Risiken: Meist äußert sich diese Unsicherheit in Form von Komplexität, fallweise mit negativen Folgen nicht nur aus Sicht des Verbraucherschutzes. Komplexität, (teils versteckte) Hebeleffekte und falsche Anreizwirkungen können zudem auch eine destabilisierende Wirkung auf das Finanzsystem entfalten. In der Ökonomie der Finanz(produkt)innovation lässt sich vielfach ein ausgeprägt zyklisches Verhalten beobachten:1) Die simulierte Performance eines neuen Produktes oder einer Produktgattung löst einen übertriebenen Optimismus aus, der durch externe Schocks ein jähes Ende findet, oft in Form drastischer Preiskorrekturen und mangelnder Marktliquidität. Es folgen ein Vertrauensverlust und eine Flucht in sichere Anlagen, während die innovativen Kräfte für einige Zeit wieder brach liegen.

Wie in jeder anderen Branche ist Innovation in der Finanzwirtschaft mit schöpferischer Zerstörung verbunden, wenngleich die Auswirkungen eines Misserfolgs im Finanzsektor unter Umständen sehr weitreichend sein können und aufgrund der Rückkopplungseffekte zwischen Finanz- und Realwirtschaft nur selten auf den Finanzsektor beschränkt bleiben. Die Verbriefung von Subprime-Hypothekarkrediten in den USA im Rahmen eines Originate-to-distribute-Modells war aufgrund der mangelnden Anreizstrukturen ein Mitverursacher der letzten großen Finanzkrise.

Nicht gleich ein Schreckensszenario entwerfen

Zwei weitere Besonderheiten in Bezug auf Finanzinnovationen sind zu nennen: Zum einen kann es bei neuentwickelten Finanzprodukten unter Umständen sehr lange dauern, bis Produktfehler offenbar werden, sei es aufgrund eines schweren exogenen Schocks oder aufgrund einer lange anhaltenden Phase ungewöhnlicher Marktzustände wie beispielsweise negativer Zinsen. Zum anderen finden sich unter den neu entwickelten und in der Finanzbranche eingesetzten Technologien vielfach solche, die nicht mehr auf einzelne Sektoren bezogen sind, sondern sich für unterschiedliche Zwecke nutzen lassen - distributedledger technologies als dezentrales Register finden Anwendung sowohl im Bereich der virtuellen Währungen, seit Neuestem aber auch im Börsenhandel (Nasdaq Link) oder bei der Verwaltung von Versicherungsverträgen.

Innerhalb der Finanzinnovation werden die sogenannten Fintechs in jüngster Zeit immer wieder als Ausgangspunkt für innovative Entwicklungen gesehen. Gleichwohl ist die Begrifflichkeit einer näheren Definition nicht allzu leicht zugänglich, vielmehr handelt es sich um einen sehr breiten Sammelbegriff für diverse neue Technologien im Bereich Finanzdienstleistungen. Der Begriff wird gleichzeitig für junge Unternehmen verwendet, die in diesem Bereich auftreten.

Stehen Fintechs in Konkurrenz zu Banken oder wirken sie komplementär? Jedenfalls erhöhen sie den Druck auf die Geschäftsmodelle der Banken, die im aktuellen Niedrigzinsumfeld Kosten senken müssen, um ihre Ertragskraft nachhaltig sicherstellen zu können. Wenn man nun provokant die Frage stellen mag, wie lange es Banken noch geben wird, so muss man nicht gleich ein Schreckensszenario entwerfen und eine Aussage Bill Gates' aus dem Jahr 1994 zitieren: "Banking is necessary, banks are not!". Dennoch steht die Bankbranche vor großen Herausforderungen und die Adaptierung zunehmend digitaler Geschäftsmodelle wird über den langfristigen Erfolg entscheiden. Auch die Fotografie hat den revolutionären Sprung vom analogen ins digitale (und weiter ins Selfie-)Zeitalter überstanden, aber mit Eastman Kodak musste einer der prominentesten Vertreter der analogen Fotografie Anfang 2012 Gläubigerschutz nach Chapter 11 beantragen.

Aufsicht und Innovation

Grundsätzlich sollte Aufsicht neutral gegenüber Innovation und technologischen Entwicklungen sein, also weder außerordentliche Bevorzugung vornehmen noch eine Behinderung darstellen. Innovationen sollten insbesondere dann nicht behindert werden, wenn sie der Steigerung der Effizienz des Finanzsystems und einer Wohlstandserhöhung in der Volkswirtschaft dienen. Eine Überregulierung ist zu vermeiden, um Innovationen nicht zu unterdrücken und damit Wettbewerbsnachteile für den Finanzmarkt entstehen zu lassen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass bestimmte Innovationen ein neues, zusätzliches Regelwerk notwendig machen (zum Beispiel für die Videoidentifizierung von Kunden), denn Neutralität ist nicht gleichzusetzen mit Ignoranz.

War Aufsicht in der Vergangenheit tatsächlich neutral gegenüber neuen Produkten und Methoden des Risikomanagements? Gerade bei den schon eingangs erwähnten Verbriefungen von Subprime-Hypothekarkrediten muss sich die Aufsicht die Frage gefallen lassen, ob man sich hier neutral oder schlicht ignorant verhalten hat. Im Mittelpunkt der globalen regulatorischen Reformagenda steht aus diesem Grund auch die Minimierung aufsichtsrechtlicher Lücken. Wenn technologischer Wandel neue Lücken aufreißt, müssen diese rasch und effektiv geschlossen werden.

Gleichzeitig ist es nicht primäre Aufgabe der Aufsicht, Innovation aktiv zu fördern, was jedoch eine unterstützende Rolle nicht ausschließt. Startups haben gewöhnlich mit vielerlei Problem zu kämpfen, insbesondere in der Finanzierung. Für ein Startup in der Finanzbranche oder im Umfeld der Finanzbranche liegen die großen Herausforderungen hingegen im Umgang mit den durchaus umfangreichen regulatorischen Vorschriften, die eine nicht zu unterschätzende Eintrittsbarriere in den Markt darstellen und somit bestehende Marktstrukturen zementieren.

Hier können Aufsichtsbehörden Unterstützung leisten, indem sie sich für den Dialog mit potenziellen Marktteilnehmern öffnen. Fintechs sollten nicht erst dann mit einer Aufsichtsbehörde in Kontakt kommen, wenn der Verdacht eines unerlaubten Geschäftsbetriebs im Raum steht. Eine "positiv neutrale" Haltung von Aufsichtsbehörden gegenüber Innovation erscheint somit nicht nur wünschenswert, sondern auch objektiv von Vorteil.

Neben Neutralität zählen auch Kohärenz, Proportionalität und Transparenz zu den Grundsätzen der Aufsicht. Kohärent über Länder- und Sektorgrenzen hinweg sowie in Bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen beaufsichtigten Aktivitäten - es gilt "substance over form", eine Regulierung entsprechend des Risikogehalts, unabhängig von der rechtlichen Konstruktion. Gleichzeitig sollte Aufsicht proportional angewandt werden, also soweit wie möglich angepasst sein an Art, Umfang und Komplexität der Geschäftstätigkeit der Beaufsichtigten. Zudem sollte Aufsichtshandeln nicht überraschen - Transparenz und Nachvollziehbarkeit auf Basis der Gesetze sind notwendig, um Vertrauen in das Aufsichtsregime sicherzustellen.

Diese Prinzipien der Aufsicht sind allgemeingültig und ändern sich grundsätzlich nicht durch das vermehrte Auftreten von Finanzinnovationen. Es besteht somit kein Bedarf, bewährte Strukturen aufzugeben, wenngleich es erforderlich ist, auf die Herausforderungen, die Innovation, Digitalisierung und der Eintritt neuer Marktteilnehmer mit sich bringen, adäquat zu reagieren.

Ständige Weiterentwicklung der regulatorischen Rahmenbedingungen

Finanzinnovation bedingt eine ständige Weiterentwicklung der regulatorischen Rahmenbedingungen basierend auf einer fortwährenden Beobachtung und Analyse des Marktes. Ansteigende Komplexität insbesondere in zugrundeliegenden Technologien erfordert zunehmend eine spezifische Expertise der Aufsicht durch den Aufbau von knowledge centers und verstärkten Austausch auch mit externen Technologieexperten. Im Sinne einer risikobasierten Aufsicht ist dabei das Monitoring allerdings auch eine Frage der optimalen Ressourcennutzung, denn Innovationen kommen (und gehen) zu schnell, um alle mit der gleichen Intensität zu beaufsichtigen. Eine Identifizierung der möglichen disruptiven Faktoren sowie eine Abschätzung der potenziellen Folgekosten muss dabei die Grundlage für eine Entscheidung über die Aufsichtsintensität bilden.

Gleichwohl geschieht im Bereich der Fintechs viel Innovation außerhalb des Sichtfelds und auch außerhalb des primären Zuständigkeitsbereichs von Regulierung und Aufsicht, wenn technologische Entwicklungen zunächst außerhalb des Finanzsektors stattfinden. Das Übernehmen und Adaptieren dieser Technologien im Finanzsektor erfordert nichtsdestoweniger ein umfassendes Verständnis vonseiten der Regulatoren und Aufseher sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsbehörden, nicht nur beschränkt auf den Finanzsektor, sondern zum Beispiel auch mit Telekom- oder Energieregulatoren und darüber hinaus auch im engen Austausch mit ausländischen Behörden.

Aspekte des Datenschutzes und der Datenauswertung

Die momentan weitreichendsten Technologien bauen auf Erkenntnissen zur Datengenerierung, -speicherung und -analyse auf. Digitalisierung und die Verknüpfung unterschiedlicher Datenquellen, sowohl aus Finanztransaktionen und anderer Nichtfinanzdaten, beispielsweise aus sozialen Netzwerken oder anderen Onlineaktivitäten, generiert "big data", womit die Gefahr der Datenmonopolisierung entsteht. Anbieter wie Google, Amazon und Facebook mit marktdominierender Stellung und einem großen Netzwerk von Nutzern können über die Nutzerprofile sehr detaillierte und treffsichere Annahmen hinsichtlich Bedürfnisse, Bonität oder Reservationspreise ableiten.

Dementsprechend rücken Aspekte des Datenschutzes und der vom User möglicherweise nicht gewünschten Nutzung und Auswertung seiner Daten in den Vordergrund. Aber auch Fragen des Wettbewerbsrechts werden relevant, da die Monopolisierung von Daten und die große Bedeutung von Netzwerkeffekten die Eintrittsbarrieren für neue Anbieter sehr hoch werden lassen. Der Umgang mit Fintechs ist somit nicht nur im Rahmen der klassischen Aufsicht über Finanzintermediäre, sondern weit darüber hinaus von Bedeutung.

Zudem haben in der digitalen Welt Ländergrenzen praktisch keine Bedeutung, weswegen ein verstärkter internationaler Austausch erforderlich ist, um neue Trends frühzeitig zu erkennen und Global Player effektiv beaufsichtigen zu können. Problematisch kann es werden, wenn (zu) riskante Produktinnovationen mithilfe des Passporting-Regimes innerhalb des EU-Binnenmarktes vertrieben werden. Harmonisierung der Regulierung und Aufsichtsstandards zumindest auf europäischer Ebene ist dringend notwendig.

Neue IT-Risiken

Doch nicht nur Aufsichtsbehörden müssen sich vermehrt bemühen, aktuelle Marktentwicklungen und Technologien zu verstehen. Dies gilt ebenso für die Geschäftsführer beaufsichtigter Unternehmen im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung: "Ein durchschnittlich intelligenter Geschäftsführer muss die Innovation einem durchschnittlich intelligenten Aufseher erklären können!" Ein enger Dialog zwischen Beaufsichtigten und Aufsichtsbehörde, aufbauend auf einem gemeinsamen Verständnis des Geschäftsmodells und seiner Risiken, bildet die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Denn Aufsicht kann auch als Qualitätskriterium dienen: Eine effektive Aufsicht ist nicht nur im Interesse von Konsumenten und Investoren, sondern letztlich auch im Interesse der Beaufsichtigten, nicht zuletzt dadurch, dass durch ein verlässliches regulatorisches Umfeld ein Level Playing Field sichergestellt wird.

Finanzinnovationen, die zunehmend auf einem digitalen Geschäftsmodell basieren, bergen auch neue Risiken. Cyberangriffe auf Finanzinstitute finden dreimal häufiger statt als bei Nichtfinanzunternehmen.2) Solche Angriffe können auf das Entwenden von Geld oder Daten angelegt sein oder Funktionen unterbrechen und so im Extremfall zu flächendeckenden Liquiditätsproblemen führen. Daher ist eine Analyse der Angriffsmöglichkeiten unerlässlich und neue Vorschriften zur Implementierung von IT-Sicherheitsstandards stehen derzeit auf der Agenda der globalen Standard-Setter weit oben.3)

Neben den IT-Risiken ergibt sich auch aus dem zunehmenden Outsourcing von technischen Kernprozessen die Frage, welche Folgen ein technischer Ausfall haben könnte: Wenn ein externer Dienstleister marktbeherrschend wird, entsteht neue Systemrelevanz - dies kann auch außerhalb der Finanzbranche der Fall sein, zum Beispiel durch die Verwendung von Cloud-Speicherlösungen. Outsourcing entlässt den Auftraggeber jedenfalls nicht aus seiner Verantwortung!

Aus Sicht des Verbraucherschutzes gilt zudem, dass der Kunde zwar in der Regel Vorteile aus Innovationen generieren kann, die möglichen Risiken jedoch unter Umständen nicht vollumfänglich versteht. Der Zustand der financial literacy ist - um es positiv zu formulieren - verbesserungsfähig, doch im Zusammenhang mit der zunehmenden Digitalisierung von Finanzgeschäften ist zudem eine Stärkung der technological literacy voranzutreiben. Das Bewusstsein im Umgang mit privaten und sensiblen Daten zur eigenen Person muss gestärkt werden. Dies fängt an bei scheinbar banalen Fragen, wie sicher die Passwörter sind, die für Onlinezugänge verwendet werden. Auch hier können Aufsichtsbehörden nur einen Beitrag leisten,

Adäquate regulatorische Rahmenbedingungen

Die Finanzbranche ist immer einem beständigen Wandel durch Innovationen unterworfen gewesen und wird es auch zukünftig sein. Innovation ist mit Unsicherheit verbunden, birgt Risiken und kann aufsichtsrechtliches Handeln erforderlich machen, doch sollte Innovation letztlich positiv konnotiert sein. Innovation kann sogar die Arbeit von Aufsichtsbehörden erleichtern, vor allem durch neue Formen der Transparenz und erhöhte Datenverfügbarkeit. Nichtsdestoweniger erfordert der beständige technologische Wandel adäquate regulatorische Rahmenbedingungen, aufbauend auf einem umfassenden Verständnis vonseiten der Aufsicht und einem intensiven Austausch mit der Finanzbranche, die die Innovationen zum Einsatz bringt.

Fußnoten

1) Siehe zum Beispiel Gennaioli, Shleifer, Vishny (2012), Neglected risks, financial innovation, and financial fragility, Journal of Financial Economics.

2) PWC (2014), Threats to the Financial Services Sector.

3) Siehe zum Beispiel CPMI-IOSCO (2016), Guidance on cyber resilience for financial market infrastructures, oder IAIS (2016), Consultation Paper on Cyber Risk to the Insurance Sector.

Helmut Ettl , Mitglied des Vorstands, FMA, Wien
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