Freihandel versus Protektionismus? Zu den gesellschaftlichen Bedingungen weltwirtschaftlicher Integration

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Prof. Dr. Sabine Frerichs, Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung, Wirtschaftsuniversität Wien - Dass die wirtschaftspolitische Praxis des Freihandels von dem wirtschaftstheoretischen Prinzip mehr oder minder abweicht, ist ebenso wenig neu wie die Kontroverse um Freihandel oder Protektionismus. Die Autorin zeichnet das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Denkschulen der politischen Ökonomie nach von den Anfängen bei Adam Smith bis hin zum eingebetteten Liberalismus und Neoliberalismus. Den heutigen Kritikern des Wirtschaftsliberalismus geht es ihrer Ansicht nach auch um die Verteidigung des europäischen Sozialmodells und die Förderung einer global nachhaltigen Entwicklung. Die jüngeren Proteste gegen ein Fortschreiten der Handelsliberalisierung wertet sie als Zeichen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen weltwirtschaftlicher Integration nicht mehr ohne Weiteres gegeben sind. (Red.)

Bei der Gegenüberstellung von Freihandel und Protektionismus geht es um unterschiedliche handelspolitische Konzeptionen, von denen die eine eher einen positiven Beiklang hat und die andere eher einen negativen. Alternativ könnte man zwischen einer Politik der Handelsliberalisierung unterscheiden, die um die Beseitigung von Handelshemmnissen im internationalen Wirtschaftsverkehr bestrebt ist, und einer stärker eingriffsorientierten Handelspolitik, die Maßnahmen zum Schutz der heimischen Industrie beziehungsweise nationaler Interessen befürwortet. Der Freihandel als solcher ist ein wirtschaftstheoretisches Prinzip, von dem die wirtschaftspolitische Praxis mehr oder minder abweicht.

Aufeinandertreffen unterschiedlicher Denkschulen der politischen Ökonomie

In der Realität stehen der Idee, dass wirtschaftliche Güter frei über Grenzen hinweg gehandelt werden können, vielfältige Einschränkungen gegenüber, zu denen neben den klassischen Einfuhrzöllen und Exportsubventionen, Importquoten und Ausfuhrbeschränkungen, welche unmittelbar oder mittelbar zur Preisdifferenzierung beitragen, auch Regulierungsunterschiede zwischen Export- und Importländern zählen, deren handelsverzerrende Wirkungen sich schwieriger beziffern lassen. Gleichwohl lässt sich für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Tendenz zu einer liberaleren Welthandelsordnung sprechen.

Die Kontroverse um Freihandel oder Protektionismus hat ihre Wurzeln im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Denkschulen der politischen Ökonomie, die das Verhältnis von Staat und Wirtschaft - hier insbesondere der Außenwirtschaft - thematisieren.1) So ist der Liberalismus der Physiokraten und der klassischen politischen Ökonomie, der sich im 18. Jahrhundert entwickelte, historisch zunächst als Gegenbewegung zum Merkantilismus zu verstehen, welcher in der frühen Neuzeit vorherrschte und sich mit einer Regulierung des Außenhandels zum Zwecke der Mehrung der Macht und des Reichtums absolutistischer Herrscher verband.

Adam Smith (1723- 1790) hat als Vordenker der klassischen politischen Ökonomie auf die Wohlfahrtseffekte einer sich unter Bedingung des freien Wettbewerbs entwickelnden internationalen Arbeitsteilung hingewiesen, bei der sich jedes Land auf diejenigen Güter konzentriert, die es im internationalen Vergleich am kostengünstigsten herstellen kann. David Ricardo (1772- 1823) hat dem hinzugefügt, dass es nicht darauf ankommt, ein Gut absolut günstiger produzieren zu können als alle anderen Länder, sondern dass es zur Steigerung des Gesamtwohls genügt, dass sich ein jedes Land jeweils auf diejenigen Güter spezialisiert, die es vergleichsweise günstiger herstellen kann als andere Güter.

Wohlfahrtsmerkantilismus

Das so begründete Theorem komparativer Kostenvorteile ist kein Gesetz der Vergangenheit,2) sondern wird zur Schulung ökonomischen Denkens und als Argument für den Freihandel auch heute noch gelehrt. Dass in den volkswirtschaftlichen Lehrbüchern dabei auch die Protektionismus-Problematik nicht zu kurz kommt,3) verdankt sich weniger einer Rückkehr des klassischen, absolutistischen Merkantilismus als der Entwicklung einer neuen Form des Wohlfahrtsmerkantilismus.4) Dieser ist dadurch charakterisiert, dass die Vorteile der weltwirtschaftlichen Integration zwar genutzt, deren negative Folgen für die heimische Industrie, wie der Verlust von Arbeitsplätzen, aber begrenzt werden sollen.

Allgemeiner gesagt geht es dabei um die Verteilungswirkung einer Liberalisierung des Handels, also die Frage der Gewinner und Verlierer der damit verbundenen Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung. Diese Verteilungsfrage kann mehr oder weniger radikal gestellt werden. Am grundsätzlichsten wird sie in der kritischen politischen Ökonomie behandelt, die sich in ähnlicher Weise als Reaktion auf den klassischen Liberalismus entwickelt hat, wie sich dieser vom Regulierungsprimat des Merkantilismus abgesetzt hat.5)

Seit Karl Marx (1818- 1883) wird der einseitigen Gewinnrechnung der klassischen und neoklassischen Ökonomie als Kostenseite die Ausbeutung der Arbeiterklasse, anderer Weltregionen und der Natur gegenübergestellt. Von einer freien Weltwirtschaft profitieren demnach einige deutlich mehr als andere. Karl Polanyi (1886-1964) spricht mit Blick auf das lange 19. Jahrhundert, das in zwei Weltkriegen endete, von einer wirtschaftsliberalen Bewegung, welche die Gesellschaft dem sich selbst regulierenden Markt unterordnen will, und einer protektionistischen Gegenbewegung, die zur Selbstverteidigung der Gesellschaft gegen die Tyrannei des Marktes aufruft.6)

Die fortdauernde Auseinandersetzung zwischen der klassischen und neoklassischen beziehungsweise orthodoxen Ökonomie auf der einen Seite und der kritischen beziehungsweise heterodoxen Ökonomie auf der anderen Seite richtet sich auf die theoretischen Annahmen und politischen Wirkungen unterschiedlicher Denkmodelle und lässt sich nicht mit Verweis auf den Ausgang des Systemwettbewerbs zwischen Kapitalismus und Sozialismus beilegen, der einen guten Teil des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Tatsächlich geht es Kritikern des Wirtschaftsliberalismus heute auch um die Verteidigung des europäischen Sozialmodells und die Förderung einer global nachhaltigen Entwicklung.

Verteilung der Außenhandelsgewinne

Die Frage der Verteilung der Außenhandelsgewinne spielt jedoch auch in der orthodoxen Ökonomie eine Rolle. Allgemeiner lässt sich von der Wirkung des Außenhandels auf die Einkommensverteilung sprechen, ob innerhalb der Länder oder auch zwischen diesen. Dabei werden bestimmte Wirtschaftssektoren oder gesellschaftliche Gruppen, die sich durch Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt auszeichnen, zu den unmittelbaren Gewinnern einer Handelsliberalisierung gehören, andere aber zunächst zu den Verlierern. Die entscheidende Frage ist, was mit den Verlierern passiert, zu denen etwa die Beschäftigten der von Importkonkurrenz bedrohten Industriezweige gehören.

Ein bestechendes Argument der ökonomischen Theorie ist, dass die Gewinner die Verlierer entschädigen können, sodass am Ende alle entweder gleich gut oder besser gestellt sind als zuvor. Die Mechanismen einer solchen Kompensationslösung liegen jedoch außerhalb der außenwirtschaftlichen Theoriebildung. Tatsächlich ist das Unter suchungsinteresse der liberalen Ökonomie mehr auf die Dokumentation der Wohlfahrtsverluste einer protektionistischen Handelspolitik gerichtet als auf die Entwicklung von Szenarien, wie die Wohlfahrtsgewinne einer Politik der Handelsliberalisierung gesamtgesellschaftlich genutzt und gegebenenfalls auch umverteilt werden können.

Selbst dort, wo sich die orthodoxe Ökonomie mit dem politischen Prozess beschäftigt, scheint ihr in erster Linie daran gelegen zu sein, das Zustandekommen einer protektionistischen Handelspolitik zu erklären, also die tatsächlichen Abweichungen von der gesetzten Norm freien Handels. So zeigt die neue politische Ökonomie auf, warum sich gut organisierte Interessengruppen, die eine Minderheitenmeinung vertreten, gegenüber einer schlecht informierten beziehungsweise schlecht organisierten Bevölkerungsmehrheit politisch durchsetzen können. Dies ist gerade dann der Fall, wenn die Gewinne, etwa bestimmter handelspolitischer Schutzmaßnahmen, konzentriert anfallen, die Verluste aber diffus sind, sich also, etwa in Form höherer Verbraucherpreise, über eine größere Gruppe verteilen. Dabei wird angenommen, dass es sich für die Politiker in der einen oder anderen Weise strategisch auszahlt, auf die von Lobbyisten vorgebrachten Interessen einzugehen.

Eingebetteter Liberalismus und Neoliberalismus

Eine ganz andere Frage ist, wie es sich erklären lässt, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Regierungen dazu entschieden haben, einem handelspolitischen Liberalisierungskurs zu folgen, obwohl mit den Erfahrungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst die Weichen für einen protektionistischen Wohlfahrtsmerkantilismus gestellt waren. Hier hilft die vergleichende politische Ökonomie weiter, die stärker auf historische Zusammenhänge und länder- beziehungsweise regionsspezifische Entwicklungen orientiert ist als die neoklassische und neue politische Ökonomie. So war das 19. Jahrhundert unter dem internationalen Goldstandard zunächst durch eine Zunahme des Freihandels geprägt; im letzten Drittel des Jahrhunderts kam es jedoch zu einer Kehrtwendung zu Protektionismus und Nationalismus. Zu diesem Zeitpunkt hatten Ausschläge an den Weltwarenmärkten, Weltkapitalmärkten und Weltwährungsmärkten in den Industrienationen eine schicksalsträchtige Bedeutung erlangt, gegen die man sich zu schützen suchte.7)

Auf den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts folgte Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Währungssystem von Bretton Woods ein eingebetteter Liberalismus,8) in dem ein Ausgleich zwischen dem Ziel der multilateralen Handelsliberalisierung und der Möglichkeit volkswirtschaftlicher Steuerung gesucht wurde und insbesondere Kapitalverkehrskontrollen erlaubt blieben. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre entwickelte sich als neue Form des Liberalismus der für die letzten Jahrzehnte prägende Neoliberalismus, in dessen Zentrum die Deregulierung der Finanzmärkte steht.

Offene Handelspolitik und ausgleichende Sozialpolitik

Im Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), welches 1948 in Kraft trat und 1995 in die Welthandelsorganisation (WTO) überführt wurde, erklärten die Mitgliedsstaaten, ihre Handelsbeziehungen nach den Prinzipien der Reziprozität und der Meistbegünstigung auszurichten. Dies bedeutet zum einen, dass sich die jeweiligen Handelspartner auf wechselseitige Zugeständnisse im Abbau von Handelshemmnissen verpflichten, und zum anderen, dass die so vereinbarten Handelserleichterungen verallgemeinert werden, also auch auf alle anderen Mitgliedsstaaten des Abkommens anzuwenden sind.

Ein Grund für die Bereitschaft der fortgeschrittenen Industrie- und Wohlfahrtsstaaten, sich auf eine solche Welthandelsordnung und die entsprechende Liberalisierungsdynamik einzulassen, ist nun gerade in der Möglichkeit des eingebetteten Liberalismus zu sehen, eine Politik der Handelsliberalisierung in den Außenbeziehungen mit einer eingreifenden Wirtschafts- und Sozialpolitik im Inneren zu verbinden. Mit Bezug auf den Ausgleich der Interessen von Kapital und Arbeit beziehungsweise die Kombination von Marktwirtschaft und Sozialstaat - unter Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung und volkswirtschaftlicher Steuerungsfähigkeit - lässt sich für diese Periode auch von der Blütezeit des Wohlfahrtskapitalismus sprechen.9)

Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass die Kompensationsthese der ökonomischen Theorie, nach der die Gewinner einer Handelsliberalisierung die Verlierer des dadurch bedingten oder verschärften Strukturwandels entschädigen können, im Regime des eingebetteten Liberalismus beziehungsweise Wohlfahrtskapitalismus eine konkrete Anwendung gefunden hat.10) Durch das Zusammenspiel von offener Handelspolitik und ausgleichender Sozialpolitik ließen sich die Effekte des Außenhandels auf die Einkommensverteilung im wohlfahrtsstaatlichen Rahmen sozialverträglich gestalten, sodass von den gesamtwirtschaftlich erzielten Gewinnen letztlich alle profitierten.

Anders gesagt, eine protektionistische Außenwirtschaftspolitik konnte in dem Maße verzichtbar erscheinen, als der Wohlfahrtsstaat die Funktion der Einkommenssicherung für die möglichen Verlierer einer Handelsliberalisierung übernommen hat. Handelspolitik und Sozialpolitik sind im Hinblick auf die Abfederung der Einkommenseffekte des Freihandels somit funktional äquivalent:11) Sie können einander in dieser Schutzfunktion ergänzen und ersetzen. Mit der voranschreitenden weltwirtschaftlichen Integration ist der Wohlfahrtsmerkantilismus des 20. Jahrhundert also keineswegs obsolet geworden. Er hat sich lediglich von der Handelspolitik auf die Sozialpolitik verlagert.

Kombination von Marktwirtschaft und Sozialstaat - ein schwieriger Balanceakt

Dass die Kombination von Marktwirtschaft und Sozialstaat ein schwieriger Balanceakt bleibt, haben die letzten Jahrzehnte gezeigt. Ebenso wie ein zu großzügiger Sozialstaat die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft beeinträchtigen kann, kann der Abbau sozialstaatlicher Leistungen die Bereitschaft der Bevölkerung zur weltwirtschaftlichen Integration im Rahmen bi- und multilateraler Handelsabkommen mindern. Letzteres gilt insbesondere für diejenigen, die in diesem Fall als doppelte Verlierer dastehen:12) als Verlierer des Freihandels beziehungsweise des damit verbundenen Strukturwandels, welcher bestimmte Industriesektoren besonders betrifft, und als Verlierer einer neoliberalen Reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, welche ihre Ansprüche beschneidet und ihnen größere Anpassungszwänge auferlegt.

Die jüngeren Proteste gegen ein Fortschreiten der Handelsliberalisierung in bislang ausgenommenen oder mit besonderen Vorbehalten versehenen Bereichen, ob im Rahmen der multilateralen Welthandelsordnung oder großflächiger bilateraler und regionaler Handelsabkommen, zeigen daher an, dass die gesellschaftlichen Bedingungen weltwirtschaftlicher Integration nicht mehr ohne Weiteres gegeben sind. Im Zeichen des Neoprotektionismus läuft die Handelspolitik wieder Gefahr, zur Sozialpolitik zu werden.

Fußnoten

1) Bieling, Hans-Jürgen, 2011: Internationale politische Ökonomie: Eine Einführung (2., aktualisierte Auflage). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

2) Krugman, Paul R.; Obstfeld, Maurice; Melitz, Marc J. (Hrsg.), 2015: Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft. Hallbergmoos: Pearson, S. 35.

3) Krugman et al. 2015 (siehe Fn. 2), S. 31.

4) Rieger, Elmar; Leibfried, Stephan, 2001: Grundlagen der Globalisierung: Perspektiven des Wohlfahrtsstaats. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 155.

5) Bieling 2011 (siehe Fn. 1), S. 39.

6) Polanyi, Karl, 1957 (orig. 1944): The Great Transformation. Boston: Beacon Press, S. 132.

7) Polanyi 1957 (siehe Fn. 6), S. 76.

8) Ruggie, John Gerard, 1982: International Regimes, Transactions, and Change: Embedded Liberalism in the Postwar Economic Order. In: International Organization, Vol. 36, No. 2, S. 379 bis 415.

9) Pierson, Christopher, 2010: Welfare Capitalism. In: Fitzpatrick, Tony; Kwon, Huckju; Manning, Nick; Midgley, James; Pascall, Gillian (Hrsg.): International Encyclopedia of Social Policy. London: Routledge, S. 1518 bis 1523.

10) Rieger und Leibfried 2001 (siehe Fn. 4).

11) Rieger und Leibfried 2001 (siehe Fn. 4), S. 98.

12) Rieger und Leibfried 2001 (siehe Fn. 4), S. 59.

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