Impulse für Wachstum und Stabilität in Europa

Klaus Regling, Foto: ESM (Steve Eastwood)

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) fordert von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die den Euro als offizielle Währung eingeführt haben, ihre Haushaltsdefizite und Verschuldungen zu begrenzen. Diese Anforderungen waren auch schon Teil der Konvergenzkriterien. Im SWP ist konkret geregelt, dass Staaten die Höhe ihres jährlichen Haushaltsdefizits auf 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) und den Stand ihrer öffentlichen Verschuldung auf 60 Prozent ihres BIP begrenzen müssen. Aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Wirtschaft finanzpolitisch zu unterstützen, sind diese Regeln aber bis Ende 2022 ausgesetzt worden. In diesem Ausnahmezustand ergibt sich ein geeignetes Zeitfenster, um die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu modernisieren, bevor die Sanktionsmechanismen wieder greifen, so der Autor. Hierzu hätten Mitarbeiter des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie der Europäische Fiskalrat bereits Vorschläge ausgearbeitet. (Red.)

John Maynard Keynes wird oft mit diesen Worten zitiert: "Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Was tun Sie?" Möglicherweise ist der wahre Urheber dieses Zitats aber nicht Keynes, sondern Paul Samuelson, ein weiterer berühmter Ökonom. Unabhängig davon, wer den Satz zuerst gesagt hat, steckt darin eine vernünftige Aussage. Gerade bei der Analyse der volkswirtschaftlichen Entwicklung ist es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen adäquat zu reagieren.

Man nehme die Diskussion um den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). Der SWP wurde Mitte der 1990er Jahre konzipiert und im Juli 1997 verabschiedet. Seitdem erfolgten mehrere Schritte zur Ergänzung und Konkretisierung der Fiskalregeln in diesem Pakt, zuletzt durch das Inkrafttreten des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion ("SKS-Vertrag") am 1. Januar 2013. Mitte der 1990er Jahre war der Autor als Mitarbeiter des damaligen Finanzministers Theo Waigel an der Ausarbeitung des SWP beteiligt. Man kann nach wie vor davon überzeugt sein, dass ein glaubwürdiger Rahmen für die Fiskalpolitik in unserer Währungsunion unerlässlich ist.

Die Europäische Zentralbank (EZB) ist im Euroraum für die Geldpolitik zuständig, während die Haushaltspolitik zum größten Teil von den nationalen Regierungen und Parlamenten beschlossen wird. Eine unverantwortliche Haushaltspolitik in einzelnen Mitgliedsländern kann, insbesondere wenn sie die Schuldentragfähigkeit gefährdet, zum Problem für die gesamte Währungsunion werden. Die Geldpolitik kann dadurch vor eine unlösbare Aufgabe gestellt werden. Übermäßige Defizite und Schulden zu vermeiden, liegt daher im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten.

Der ursprüngliche SWP ist mittlerweile 24 Jahre alt und sein Hauptziel, Haushaltsdefizite zu begrenzen, wurde insgesamt erreicht, das zeigt der Vergleich mit anderen großen Volkswirtschaften. Nachdem mehrere Länder, darunter Deutschland und Frankreich, kurz nach der Jahrhundertwende gegen die Regeln verstießen, wurde der Pakt in mehreren Schritten reformiert, zuerst im Jahr 2005 und später 2011 bis 2012. Als Ergebnis dieser Änderungen liegt nun ein sehr kompliziertes Regelwerk vor, das nur schwer erklärbar und deshalb auch nicht leicht durchsetzbar ist. Außerdem haben sich wichtige ökonomische Grundbedingungen in den vergangenen 20 Jahren geändert. Eine Reform ist deshalb sinnvoll.

Günstiges Zeitfenster für Reformen

Aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Wirtschaft finanzpolitisch zu unterstützen, sind die Regeln bis Ende 2022 ausgesetzt worden. Das steht mit den Regeln im existierenden SWP im Einklang und ist in dieser Situation völlig gerechtfertigt. Es schafft zugleich ein Zeitfenster, um die Regeln zu modernisieren, bevor die Sanktionsmechanismen wieder greifen. Dieses Zeitfenster sollte genutzt werden.

Eine besonders prägnante Veränderung in den vergangenen 30 Jahren ist das Zinsumfeld. Ein Beispiel: Im Durchschnitt der 1980er Jahre lag die Rendite zehnjähriger deutscher Bundesanleihen bei 7,6 Prozent, in den 1990er Jahren bei 6,6 Prozent und im Zeitraum 2010 bis 2019 - bis zum Beginn der Pandemie - bei 1,1 Prozent. In anderen Ländern des Euroraums fällt diese Entwicklung noch frappierender aus.

Diese Entwicklung hat mit strukturellen, demografischen und makroökonomischen Veränderungen in Europa und weltweit zu tun. Dazu gehört zum einen eine Produktivitätsentwicklung, die sich tendenziell verlangsamt hat. Zum anderen gibt es einen deutlichen demografischen Wandel. Die Alterung der Bevölkerung führt in vielen Ländern dazu, dass mehr gespart wird. Die Tendenz zu einer höheren Sparquote wird durch die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung noch verstärkt. Das wiederum führt zu einer erhöhten Nachfrage nach sicheren Vermögenswerten, die zum Beispiel als Kapitalbasis für zukünftige Renten gebraucht werden.

Sowohl theoretisch als auch empirisch begründbar ist deshalb ein Rückgang im "realen natürlichen Zins" zu beobachten. Das ist der Zins, der für ein Gleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen sorgt. Die Faktoren hinter diesem Rückgang werden sich auf absehbare Zeit kaum ändern. Und es ist deshalb zu erwarten, dass die Zinsen durchschnittlich deutlich unter ihrem früheren Niveau bleiben. Nicht so niedrig wie gegenwärtig, aber deutlich niedriger als vor 30 Jahren. Das bleibt auch so, wenn eine wirtschaftliche Erholung nach dem Ende der Pandemie zu einem Anstieg der Realzinsen führen sollte.

Die Wirtschaftspolitik muss solchen Veränderungen Rechnung tragen. Beim SWP besteht Handlungsbedarf, da der Pakt in seiner jetzigen Form das veränderte makroökonomische Umfeld nicht widerspiegelt und deshalb zu ökonomisch wenig sinnvollen Schlussfolgerungen führen kann. Die anstehende Reform erfordert aber nicht nur ökonomische, sondern auch politische und rechtliche Überlegungen.

Optimierungsvorschläge vorhanden

Der SWP gehört im EU-Recht zu den sekundären Rechtsakten, im Gegensatz zu den Verträgen, die als Primärrecht bezeichnet werden. Eine Neuformulierung der EU-Verträge ist erfahrungsgemäß schwierig und kann viele Jahre dauern. So viel Zeit ist weder vorhanden, noch das Vorhaben notwendig.

Stattdessen könnte man von einer Lösung Gebrauch machen, die von einigen Kollegen im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vorgeschlagen wurde. Die entscheidenden Bestimmungen befinden sich in einem Protokoll zum EU-Vertrag, das durch ein einfaches Gesetzgebungsverfahren neu formuliert werden kann. Das erfordert Einstimmigkeit im Europäischen Rat. Eine Anhörung der EZB und des Europäischen Parlaments ist in diesem Verfahren auch erforderlich. Inhaltlich gibt es mehrere Vorschläge, wie man die Fiskalregeln vereinfachen und gleichzeitig effektiver und glaubwürdiger gestalten kann. Im bereits erwähnten Diskussionspapier von ESM-Mitarbeitern wird beispielsweise vorgeschlagen, die bestehende 3-Prozent-Grenze für das laufende, staatliche Budgetdefizit beizubehalten, während der Referenzwert für die Gesamtverschuldung von 60 Prozent auf 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erhöht wird.

Angesichts des deutlich gesunkenen Zinsniveaus ist eine solche Erhöhung des Schuldenreferenzwertes gerechtfertigt. Manche Beobachter befürchten, dass man dadurch einen Freibrief für eine unverantwortliche Fiskalpolitik ausstellen würde. Dieser Meinung ist nicht zuzustimmen. Ein Schuldenstand von 100 Prozent impliziert in der heutigen Situation eine deutlich geringere Zinsbelastung als ein Schuldenstand von 60 Prozent Mitte der 1990er Jahre. Die vorgeschlagene Änderung würde dann mit Leitplanken für die öffentlichen Ausgaben verknüpft. Für alle Mitgliedsstaaten dürfte das Ausgabenwachstum in der Regel den wirtschaftlichen Wachstumstrend nicht übersteigen.

Länder mit einer Verschuldung von mehr als 100 Prozent des BIP müssten außerdem den Schuldenüberhang über eine Anpassung der Primärbilanz (Zinszahlungen ausgenommen) jährlich um 1/20 abbauen - es sei denn, das Land befände sich in einer Rezession oder hat eine objektiv feststellbare Investitionslücke im öffentlichen Sektor. Letzteres betrifft vor allem Ausgaben zur Reduzierung klimaschädlicher Emissionen und wachstumsfreundliche Infrastrukturmaßnahmen. Dieser Vorschlag reduziert die Komplexität der bestehenden Regeln, bewahrt die grundlegende Ausrichtung des SWP und integriert Zielsetzungen, an die man vor 30 Jahren nicht denken konnte. Der Europäische Fiskalrat - ein unabhängiges Beratungsgremium der Europäischen Kommission - hat bereits vor zwei Jahren einen ähnlichen Vorschlag vorgelegt.

Einigung auf Leitlinien erforderlich

Die Reform des SWP sollte das fundamentale Leitmotiv der bestehenden Regelung nicht antasten. Für den Zusammenhalt in der Währungsunion ist es nach wie vor entscheidend, dass Länder mit relativ hohen Schuldenquoten ihre Finanzpolitik so ausrichten, dass die Schulden tragfähig bleiben. Hohe Staatsschulden sollten immer dann reduziert werden, wenn die makroökonomischen Bedingungen dies zulassen. Die Regierungen verschaffen sich dadurch den nötigen Spielraum, um wachstumsfreundliche Investitionen zu ermöglichen und um in der nächsten Krise die automatischen Stabilisatoren - durch die sozialen Sicherungssysteme und das Steuersystem - wirken zu lassen.

Eine klassische Aufgabe der Finanzpolitik ist es, zyklische Schwankungen abzumildern. Tendenziell hat die Größe solcher Ausschläge in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Das könnte ein Anlass sein, nicht nur nationale, sondern auch europäische Mechanismen zu schaffen, um die Wirtschaftsentwicklung zu stabilisieren. Dieser Aspekt könnte die Reform des SWP komplementieren.

Die EU-Kommission hat vor Kurzem zu einer Wiederaufnahme der Diskussion über den Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung eingeladen, dies ist sehr zu begrüßen. Und viele Akteure werden in der nächsten Zeit ihre Vorschläge dazu unterbreiten. Dabei sollte man auf die Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre zurückgreifen und gleichzeitig entschlossen auf die aktuellen Herausforderungen reagieren. Es ist auch eine gute Gelegenheit, überholte Gegensätze, zum Beispiel zwischen "Nord" und "Süd", fallen zu lassen. Denn in Wirklichkeit haben die Länder im Euroraum weit mehr gemeinsame als gegensätzliche Interessen. Dies sollte in der öffentlichen Diskussion mehr betont werden. Zu denken ist hier auch an Themen wie Finanzstabilität und an die Rolle der EU und des Euro im globalen Gefüge.

Die europäische Wirtschaft befindet sich in einem globalen Wettbewerb und muss sich dafür besser wappnen. Die Reform der Fiskalregeln ist nur ein Vorhaben unter vielen, die für den gemeinsamen Erfolg entscheidend sind, darunter:

  • Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes für Banken und Kapitalmarktakteure;
  • Stärkung der internationalen Rolle des Euro;
  • Investitionen in klimafreundliche Technologien und in die Digitalisierung ermöglichen;
  • Stärkung der Konvergenz im Euroraum.

All dies erfordert viel Arbeit. Aber es besteht Zuversicht, dass als nächster Schritt eine Einigung über pragmatische und zielführende Leitlinien für die Haushaltspolitik möglich sein wird.

Klaus Regling , Geschäftsführender Direktor , Europäischer Stabilitätsmechanismus, Luxemburg
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