Datenmanagement

Konfuzius, Scoring und das "Big Data"-Spiel

Hartmut Glenk, Direktor, Institut für Genossenschaftswesen und Bankwirtschaft (IGB), Siegen/Berlin

Sieh zu, was einer wirkt, beachte, wovon er bestimmt wird, forsche, wovon er Befriedigung findet: Wie kann ein Mensch da entwischen? Das ist nicht der Leitgedanke von Big Data, sondern ein Zitat aus den Lehren des Konfuzius. Schon der chinesische Weise wusste Menschen zu analysieren und ihr Verhalten recht präzise vorherzusagen: Schau seine Vergangenheit, betrachte ihn in der Gegenwart. Nichts anderes versuchen die modernen Forscher der sozialen Medien und der Psychometrie, allen voran der Verhaltenspsychologe Kosinski, Stanford University. Bei ihnen lautet der Grundansatz: Werte das Konsumverhalten im Internet aus, kombiniere es mit Erkenntnissen aus den sozialen Netzwerken, verbinde es mit "likes" und "dislikes" und dann: Wie kann ein Mensch da entwischen?

Lüscher-Test: Farben als Mittel der Psychodiagnostik

Inspiriert von der Farbenlehre Goethes entwickelte der Schweizer Psychologieprofessor Max Lüscher (*1923) 1947 seinen weltweit verbreiteten Farbtest zur Persönlichkeitsanalyse. Acht experimentell kreierte Farbtöne auf der Basis von Rot, Blau, Braun, Grün, Violett, Schwarz, Gelb und Grau werden der Testperson vorgelegt. Die Bevorzugung, Ablehnung oder Indifferenz, möglich in mehr als 40 000 Kombinationen, ist der unbewusste Ausdruck der momentanen Befindlichkeit, der psychischen und physischen Gesamtsituation. Die als Spielerei betrachtete Farbwahl legt die Gesamtstruktur der Persönlichkeit offen und ist, auch wegen der leichten Anwendbarkeit, etwa bei Partnervermittlungen gang und gäbe. In der Allgemeinmedizin findet der Lüscher-Test als rasches diagnostisches Hilfsmittel Verwendung, im Personalbereich zur Charakteranalyse, bei Straftätern wird er für Auffälligkeitsprognosen eingesetzt. Der Vorhersage menschlichen Verhaltens mit Likes und Dislikes widmete sich bereits der Budapester Psychopathologe Leopold Szondi (1893 bis 1986): Versuchspersonen werden 48 Fotos von Geisteskranken vorgelegt, nach mindestens acht Wiederholungen die Bevorzugungen und Ablehnungen statistisch ausgewertet. Das Ergebnis ist eine Prognose in Bezug auf künftiges Verhalten des Probanden, das sich demnach nur in einem bestimmten Rahmen bewegen kann (Schicksals- und Triebanalyse - Szondi-Test).

Die Psychometrie muss nicht genauer sein als die Psychoanalyse, nur gelangt sie einfacher an das "Untersuchungsmaterial", weil es die bis zum Exhibitionismus bereiten sozialen Einheiten freiwillig und rund um die Uhr liefern. Selbst bei gezielter Einspeisung von Informationen ins Internet via Posts bleiben unerwünschte Nebeneffekte, mangels Beherrschbarkeit des Datenflusses, aber nicht aus: Die Einladung zur Geburtstagsparty wird zum Stadtteilfest mit Polizei und Feuerwehr. Beim unreflektierten posten oder twittern handelt es sich um Mitteilungssucht mit Kontrollverlust (vergleiche Affektinkontinenz). Beiden gemeinsam: Ab Freigabe der Information, sei es auch das Foto eines leckeren Grilltellers, ist sie der eigenen Einflusssphäre entzogen und löst unkontrollierbare Reaktionen der teilhabenden Subjekte aus: Neid, Anerkennung, Aggression, Gründung eines Fanclubs oder Beitritt zur Tea-Party-Bewegung. Mag das noch im Bereich von gewollt bis leichtfertig angesiedelt sein, trägt die Mitteilung intimer Daten und Neigungen bei Teilnahme an Partnervermittlungen und Kontaktbörsen das Prädikat "bedingt vorsätzlich". Ohne Erklärungswillen erfolgt die Preisgabe analysefähiger Verhaltensdaten über Payback-Systeme, Online-Klicken oder -Shoppen.

Damit nicht genug: Fitnessfanatiker messen und speichern ihre physikalischen Befindlichkeitsdaten per Handy mit Übermittlung an die Krankenkasse, weil ein Gutschein fürs Fitnesscenter winkt; Autofahrer senden Daten ihres Fahrverhaltens per Blackbox an die Versicherung, um einen Rabatt zu ergattern. Bereits diese "ungeschützte" Datenflut lässt gesicherte Erkenntnisse und Verhaltensprognosen zu: Voraussagen zu Krankheits-, Verletzungsrisiken, Sozialstatus, aber auch ob hetero-, bi-, homo- oder "metro sexuell", mit oder ohne Bindungsoder Seitensprungneigung, inbegriffen. Problem los messbar sind der Fingerdruck auf die Tastatur und Eingabegeschwindigkeit - sie erlauben Rückschlüsse auf Motivation am frühen Morgen oder den möglichen Beginn einer Tremorerkrankung. Das auf Konsumwünsche beschränkte Ausspähen erscheint bei diesen Beurteilungsmöglichkeiten bis ins Intimste schon als äußerst bescheiden und wird von Kennern der Materie milde belächelt. Problematisch ist die mit geringem Aufwand mögliche Verknüpfung mit den auch vom Handy gelieferten Bewegungsdaten, die jeden privaten Schritt offenbaren, Verlegenheitslügen und "kleine Fluchten" entlarven. Dazu: persönliche und geschäftliche Daten von Auskunfteien, Krankenkassen, Verbindungsdaten (E-Mail, Fon, SMS), bei Immobiliensuchmaschinen gespeicherte An fragen und Selbstauskünfte von Miet- und Kaufinteressenten, kombiniert mit "Street View". Wie soll ein Mensch da entwischen?

Das Versprechen, Daten zu anonymisieren, kann nicht einmal der Versprechende halten, so er es denn überhaupt will. Viel zu ergiebig sind Profile für den, der sie zu nutzen weiß. Wenig aussagefähig für den Analysten sind die aus einer Echokammer oder Filterblase gewonnenen Erkenntnisse: Persönliche Informationen, die sich im Net mit eigenen Likes und Dislikes verbinden, führen nur zu wertlosem Selbstbetrug des "Senders". Die Interaktion findet mit Personen (oder Rechnern) statt, durch die wohltuender Zuspruch erfolgt. Das Umgeben mit Gleichgesinnten führt zur Verstärkung der eigenen Position und entwickelt eine Eigendynamik, bei der Algorithmen dafür sorgen, dass man bevorzugt Inhalte und Teilnehmer mit den gleichen Likes und Dislikes präsentiert bekommt.

Filter für nicht konforme Informationen

Fatal ist, dass damit andere, nicht konforme Informationen und Kontakte ausgefiltert werden: Das Individuum verliert sich im unbewussten Kollektiv. Die Existenz in der Filterblase führt dann zu Konflikten mit der "real existierenden" Umwelt. Die Einschätzung des Einzelnen, was "objektiv" sei, stimmt dann nicht mehr mit der übergeordneten Analyse von Big Data überein. Während bei der Filterblase die hinausposaunten Signale als positives Echo zurückkommen, liegt die Sache bei der Self-Fulfilling Prophecy (These von Robert King Merton, 1910 bis 2003) anders: Eine unbewusst ablaufende Verhaltensänderung führt dazu, dass sich eine Erwartung oder Befürchtung tatsächlich erfüllt. Beispiel: Die den Autounfall prophezeiende Hexe löst damit lediglich die bereits unterbewusst vorhandenen Ängste ihres Klienten aus, der sich dann auf solche Umstände des Straßenverkehrs fokussiert, die ihn von seinen Gewohnheiten ab- und in den Abgrund lenken. Die Furcht vor dem Ereignis löst es aus.

Die Self-Fulfilling Prophecy wird zur Gefahr, wenn der Impuls des Einzelnen zu spontanem Schwarmverhalten (nicht: Schwarmintelligenz) führt: Ins Net gepostete oder getwitterte "alternative Fakten" können eine nicht mehr zu stoppende Eigendynamik entwickeln, an deren Ende die dadurch geschaffenen tatsächlichen Fakten stehen: Das Gerücht von der bevorstehenden Insolvenz eines Kunden verhindert die Kreditierung, löst einen Liquiditätsengpass mit nachfolgender Insolvenz aus. Eine negative Wahlprognose kann dazu führen, dass man seine Stimme nicht dem vermeintlichen Verlierer gibt. Im Zeitalter der Informationstechnologie unterscheiden sich Wahrsagerei und der Effekt verleumde rischer Tweets nur durch den Grad ihrer Auswirkung. Rating, Ranking, Scoring-Verfahren, die Schufaauskunft erscheinen für sich betrachtet heute als Relikte.

Interne Daten der Kreditinstitute über ihre Kunden sind längst "Besitz" untereinander vernetzter Rechenzentren, deren Verbindung zum Datenstrom in den Ozean des supranationalen Internets sich in der Regel unerkannt und ohne wirksame Schranken erfolgt.1) Der Weg zur Künstlichen Intelligenz, die Wertungen vornimmt und Entscheidungen trifft, die dem Einzelnen weder zugänglich noch verständlich sind, ist fast zurückgelegt. Längst vollziehen sich automatische Prozesse, die weder Computerspezialisten noch dem Entscheidungsträger in Institution oder Unternehmen noch irgendwie transparent sind. Wirkliche Eingriffskompetenz schwindet - was bleibt, ist die "Verantwortung".

Selbst der Kundenberater oder Vorstand eines Kreditinstitutes, kleine Einheiten im großen Datenspiel, werden künftig nicht mehr nachvollziehen können, was genau zu Big Data's "like" oder "dislike" in Bezug auf einen Bankkunden oder eine Empfehlung geführt hat. Im Kapitalanlagebereich ist das längst Realität. Realität ist auch, dass die Auswertung des Konsumverhaltens in der Lage ist, die Schwangerschaft einer Käuferin sicher vorherzusagen und ihr gezielt Angebote für Babynahrung zuzuleiten. Wen wundert dann noch die Ablehnung des Kreditantrags wegen riskantem Fahrverhalten, Krankheitsrisiken oder Gefährdung familiärer Stabilität mit negativer Gesundheitsoder Jobprognose und deshalb hohem Ausfallrisiko. Wenn die möglichen Erkenntnisse dann noch mit den Grundsätzen des "Vaters der Propaganda", Edward Bernays (1891 bis 1995)2), den sich bereits Goebbels zum Vorbild nahm, verknüpft werden, stehen zudem demokratische Systeme zur Disposition: Die gezielte Beeinflussung von Wahlen und gewünschte Resultate sind demjenigen möglich, der über die notwendigen finanziellen Ressourcen verfügt.

Unauflösliche Abhängigkeiten

Mit der selbstverursachten Abschaffung der informationellen Selbstbestimmung gelingt den Jongleuren von Algorithmen der politische oder merkantile Feldzug. Die Verdrängung des menschlichen Faktors durch automatisierte Analysen und Empfehlungen aufgrund unüberschaubarer Datenflut und -auswertung führt in unauflösliche Abhängigkeiten. Einzig der Versuch einer Gegenwehr des Individuums, die Rückbesinnung auf die vielbeschworenen "Werte", humanistische Bildung und Ideale könnte etwas Halt geben. Dazu aber braucht es persönlichen Mut und Engagement, auch die Bereitschaft gegen den Strom zu schwimmen. Aber wer macht das schon, wenn er vor der Anstrengung sein Frühstücksei aufzuklopfen, die "Care-Health-App" seines Handys befragt, ob das mit der Pulsfrequenz vereinbar ist?

Hartmut Glenk, Direktor, Institut für Genossenschaftswesen und Bankwirtschaft (IGB), Siegen/Berlin

1) Siehe auch Glenk zu: Schwarze Listen: Bürgerlicher Tod ohne Gerichtsverfahren und ohne Beweise, Zeitschrift für Rechtspolitik - ZRP 2/2014.

2) Edward Bernays, Propaganda - Die Kunst der Public Relations, orange-press, ISBN 978-3-936086-35-5.

Hartmut Glenk , Direktor, Institut für Genossenschaftswesen und Bankwirtschaft (IGB), Siegen/Berlin
Noch keine Bewertungen vorhanden


X