Nivellierung der Risikoprämien durch die EZB

Abbildung 1: Renditen 10-jähriger Staatsanleihen 2008 bis 2014 Quelle: http://de.investing.com/rates-bonds/, Stand: 20.11.2014; eigene Darstellung

Prof. Dr. Dirk Meyer, Institut für Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Ordnungsökonomik, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg Schon ohne die weiteren Wirkungen des kürzlich beschlossenen Ankaufprogramms der EZB registriert der Autor durch das außergewöhnlich niedrige Zinsniveau sowie die im Rahmen der monetären Krisenpolitik egalisierten Risikoprämien in den Euroländern eine Kapitalfehlleitung in die Krisenstaaten sowie einen erheblichen impliziten Einkommenstransfer aus den Gläubigerstaaten. Das Zinsniveau verführt aus seiner Sicht die öffentlichen Haushalte der Krisenstaaten zu einer erhöhten Verschuldung, die spätestens bei steigenden Zinsen zum Problem werden könnte. Er äußert erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit einer privaten Kreditausweitung und plädiert für eine Politik der Selbstverantwortung der Mitgliedsstaaten, für mehr Reformen und wenn notwendig für eine Entschuldung einzelner Staaten in Verbindung mit der Einführung einer nationalen Parallelwährung. (Red.)

Die monetäre Krisenpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) hat zu Niedrigzinsen geführt. Für Anleger in Deutschland kommt es deshalb bei Spareinlagen und Bundesanleihen unter Berücksichtigung von Inflation und Ertragsbesteuerung zu Substanzverlusten. Darüber hinaus hat die EZB ganz offensichtlich die Funktion als Kreditgeber der letzten Instanz (Lender of last Resort, LoR) für Banken und Mitgliedsstaaten übernommen. Dementsprechend führt bei Banken die Vollzuteilung unter Absenkung der Beleihungssicherheiten zu einer Liquiditätsschwemme, die die EZB seit Juni 2014 mit einem negativen Einlagezins zum Abfluss in den privaten Sektor führen will.

Angleichung der Risikoprämien auf niedrigem Niveau

Hinsichtlich einer Vermeidung von Staatsinsolvenzen hat die Ankündigung des Outright Monetary Transactions-Programms (OMT) Wirkung gezeigt. Die Renditen für Staatsanleihen sind insgesamt zurückgegangen. Vor allem für die Krisenländer ist der Zugang zum privaten Kapitalmarkt erleichtert, seitdem der für den Notfall in Aussicht gestellte Ankauf dieser Papiere durch die EZB zu einer Angleichung der Risikoprämien auf niedrigem Niveau geführt hat.

Als zentrale Forschungsfrage stehen die Folgen dieser Zinsnivellierung im Mittelpunkt. Sodann zeigt der Beitrag, über welche Kanäle die monetäre Sozialisierung der Kosten dieser Politik vonstattengeht. Abschließend werden politische Handlungsalternativen aufgezeigt.

Die EZB betreibt spätestens seit der Rede Draghis im Juli 2012 eine sehr wirkungsvolle Ankündigungspolitik.1) Die Wirkung dieser Rede ist umso erstaunlicher, als der Ankauf von Staatsanleihen aus den Krisenländern (OMT) an drei sich nur schwer gleichzeitig erfüllbare Bedingungen knüpft. Neben einer Störung des Transmissionsmechanismus der Geldpolitik muss der Staat ein Auflagenprogramm im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erfüllen und zugleich Zugang zum Anleihemarkt haben. Die beiden letzten Punkte schließen sich generell aus. Allenfalls ein Vorsorgeprogramm des ESM mit einer vorbeugenden Kreditlinie ließe dies zu. Von daher liegt die Interpretation nahe, dass die Marktteilnehmer den Einsatz von OMT-Ankäufen notfalls auch unter Bruch der vertraglichen Grundlagen erwarten.

Seither sind die Risikoprämien für Anleihen der Krisenstaaten stark gefallen und die Zinsunterschiede zu den als sicher geltenden AAA-Staaten (Deutschland, Finnland, Luxemburg, eingeschränkt Österreich, die Niederlande) haben sich stark angeglichen (siehe Abbildung 1). Bei einer Rendite für 10-jährige Bundesanleihen ab Mitte August 2014 von unter 1 Prozent betrugen die entsprechenden Renditen für französische 1,4 Prozent, für italienische 2,3 Prozent und für irische 1,7 Prozent.2) Selbst griechische Staatsanleihen rentierten mit nur 5,9 Prozent. Bei quasisozialisierter Haftung über das OMT-Programm greifen die Anleger bevorzugt auf die etwas höher rentierenden Anleihen der Problemländer zurück, was zusätzlich zinssenkend wirkt. Unterstützung leistet das weiterhin für die Eigenkapitalvorhaltung der Banken geltende Risikogewicht von Null für Staatsanleihen, das auch zur Attraktivität dieser Anlagen gegenüber anderen Wertpapieren beiträgt.

Reaktion der Kapitalmärkte

Ziel dieser Politik ist zum einen, die Liquidität der Krisenstaaten abzusichern, eine offene Insolvenz zu vermeiden und den Zugang zum privaten Kapitalmarkt zu subventioniertgünstigen Konditionen offen zu halten. Zum anderen soll die künstliche Absenkung der Risikoprämien insbesondere die dortigen Banken begünstigen, die diese Staatsanleihen in hohem Umfang in ihren Büchern halten. Wertberichtigungen werden vermieden, ihre Aktiva höher bewertet und damit ihre Refinanzierungsbedingungen verbessert. Dies erhöht tendenziell ihre Fähigkeit zur Kreditvergabe und verbilligt den Kreditzugang der heimischen Wirtschaft.

Dieser langfristige Trend soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kapitalmärkte durchaus in kurzer Frist erhöhte Risiken wahrnehmen und einpreisen. Ein Beispiel bietet der Anstieg der Risikoprämien ab Anfang September 2014 insbesondere für griechische Staatsanleihen, in abgeschwächter Form auch für italienische (vergleiche Abbildungen 2 und 3). Ursächlich waren eine allgemeine Verunsicherung, das Durchfallen einiger, insbesondere italienischer und griechischer Banken im EZB-Stresstest sowie die Spekulation über vorgezogene Neuwahlen in Griechenland.

Widersprüchliche Aussagen zum Fortgang der Kredithilfen für Griechenland und die Vorlage von offensichtlich nicht den Vorgaben des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes entsprechenden Haushaltsplanungen durch Italien und Frankreich Mitte Oktober 2014 taten ein Übriges. Erst die vorläufige Akzeptanz der leicht revidierten Planungen durch die EU-Kommission Ende Oktober führten wieder zu sinkenden Renditen für Italien. Dies zeigte zum ersten Mal die Zerbrechlichkeit des LoR-Versprechens der EZB: Geldpolitik kann keine realwirtschaftlichen Probleme lösen. Zwar kann die EZB Liquidität bereitstellen, nicht jedoch Kapital.3)

Die Nivellierung der Risikoprämien zugunsten der Krisenstaaten findet auf einer weiteren Schiene durch den im Herbst 2014 angekündigten und teilweise auch schon durchgeführten Ankauf von Pfandbriefen (Covered Bonds), Kreditverbriefungen (ABS-Papiere), Unternehmensanleihen sowie Staatsanleihen statt. Indem die EZB diese Papiere nicht entsprechend den Kapitalanteilen der Mitgliedsstaaten ankauft, sondern beispielsweise nur spanische und französische Pfandbriefe sowie italienische Kreditverbriefungen, hat diese Maßnahme einen asymmetrischen Charakter. Sie wirkt deshalb zusätzlich zinsnivellierend.

Als Folge sank der Renditeaufschlag für Pfandbriefe spanischer Banken um 50 Prozent, der für französische Banken ging auf null zurück.4) Ähnlich zinssenkend wirkt eine Rücknahme der geforderten Sicherheitsabschläge für griechische Anleihen, die als Pfänder der EZB für Repo-Kredite eingereicht werden. Damit agiert die EZB als Preistreiber in einem engen, zersplitterten Markt.5) Einhergehen hohe Kursschwankungen und Verlustrisiken zulasten der EZB. Die Vorteile gehen einseitig zugunsten der Banken dieser Länder.6)

Im Übrigen kommt es lediglich beim Ankauf von Unternehmens- und Staatsanleihen, die von Nicht-Banken gehalten werden, zu einer direkten Erhöhung der Geldmenge; bei den Ankäufen von Banken erhöht sich lediglich die Geldbasis. Simulationsrechnungen der Notenbank gehen selbst bei einem Ankaufvolumen von 1 Billion Euro von einem Inflationseffekt von nur 0,15 bis 0,6 Prozent aus.7) Zudem führt eine weitere Zinssenkung zu steigenden Vermögenspreisen und befördert über diesen Kanal eine Blasenbildung.

Entscheidende Frage für eine Politikbewertung

Eine entscheidende Frage für eine Politikbewertung steht jedoch noch offen: Ist die derzeitige Niedrigzinspolitik in Verbindung mit einer Angleichung der Risikoprämien eigentlich effektiv? Hilft sie insbesondere den Krisenstaaten, ihre Schuldenprobleme zu lösen? Steigert sie die Kreditvergabe an Private? Für die Wirksamkeit der Geldpolitik und der daraus abzuleitenden Therapie ist es wichtig, ob normale Verhältnisse vorliegen, das heißt, ob eine Erhöhung der Geldbasis zu einer Zinssenkung, zu vermehrter Kreditvergabe, zu erhöhten Investitionen und zu einer gesteigerten gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt. Indizien sprechen eher für eine anomale Situation, wie auch der instabile Zusammenhang von Geldbasis, Geldmenge und Kreditvolumen zeigt. Folgende Konstellationen wären näher zu prüfen:

Liquiditätsfalle: Eine vollkommen elastische Geldnachfrage führt bei einer Geldmengenerhöhung zu keiner Zinssenkung. Die zusätzliche Liquidität versickert in Erwartung steigender Zinsen in der Spekulationskasse.

Kreditklemme: Der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik stockt und die Banken geben die Liquidität nur sehr restriktiv als Unternehmenskredite weiter.

Bilanzrezession: 8) Als Folge hoher Wertberichtigungen im privaten Sektor infolge von Finanzmarktkrisen reduziert sich die Schuldentragfähigkeit der Unternehmen. Die von der Zentralbank angebotene Liquidität muss deshalb ungenutzt bleiben.

Investitionsfalle: Auch bei sinkenden Zinsen üben die Unternehmen Zurückhaltung aufgrund geringer Rentabilitätsaussichten und einer daraus folgenden unelastischen Investitionsnachfrage.

Eine klassische Liquiditätsfalle liegt generell nicht vor. Die seitens der EZB sehr günstig bereitgestellte Liquidität wird trotz Vollzuteilung von den Banken nicht voll abgerufen. Mögliche Gründe wären der negative Einlagenzins, insbesondere bei den Banken der Südländer auch fehlende Sicherheiten. Eine Kreditklemme dürfte nur teilweise zutreffen. Sie wäre an erhöhten Anforderungen einer Kreditvergabe seitens der Banken festzumachen.9) Als mögliche Ursachen kommen verschärfte regulativstaatliche Vorgaben zum Tragen. Hierzu rechnen beispielsweise die Basel-III-Regeln zum Eigenkapital, dem Verschuldungsgrad sowie Liquiditätsvorgaben.10) In diesem Zusammenhang dürfte der Ankauf von Staatsanleihen über den Bankensektor und die Bankenaufsicht der EZB in Konkurrenz stehen, da sich hierdurch automatisch der Verschuldungsgrad der Institute verschlechtert. Darüber hinaus belastet bei verschiedenen Banken ein hoher Anteil ausfallgefährdeter Kredite die Bilanzen und damit ihre Kreditvergabefähigkeit. Parallel zeigt sich dies in einer geringen Profitabilität und einer geringen Eigenkapitalquote.11) Besonders erschwert scheint der Zugang kleiner und mittelständischer Unternehmen zu Bankkrediten, nicht nur in den Krisenstaaten. Auch gelten Konsumentenkredite als relativ teuer.12)

Abnehmende Bedeutung von Unternehmenskrediten

Für Japan, die USA, Großbritannien und weite Teile der Eurozone sieht Koo die Bedingungen einer sogenannten Bilanzrezession als gegeben.13) Während die Geldpolitik in diesem Fall versagt, könnte eine staatliche Ausgabenpolitik aus der Rezession/Deflation führen. Allerdings setzt in der Eurozone die Schuldengrenze des reformierten Stabilitätspaktes und deren teilweise restriktivere nationale Umsetzung dieser Politik Grenzen.

Unabhängig von einer möglichen Kreditklemme und Bilanzrezession, die den Kreditzugang für Unternehmen erschweren, hat die Bedeutung von Unternehmenskrediten abgenommen. Dies mag darin seine Ursache haben, dass die Kreditzinsen für Unternehmen und Haushalte nicht in gleichem Umfang gefallen sind wie die für Staatsanleihen. Wohl auch deshalb sank die Kreditvergabe an Unternehmen in Spanien, Italien und Frankreich, aber auch in Deutschland.14) Jedoch werden gerade von großen Unternehmen Anleihen als Substitut für Bankenfinanzierungen vermehrt ausgegeben. Darüber hinaus gewinnen die Eigenkapitalfinanzierung über einbehaltene Gewinne sowie Mezzanine-Kapital gerade für die mittelständische Wirtschaft an Bedeutung. Dies spiegelt die Entwicklung der Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen wider, die von 15 Prozent (2000) auf 27,5 Prozent (2012) anstieg.15) Hierbei war die Steigerung der Eigenkapitalquote bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU) mit 14,5 Prozentpunkten weitaus größer als bei den Großunternehmen mit 4 Prozentpunkten.

Damit können eine Liquiditätsfalle, eine Kreditklemme sowie eine Bilanzrezession partielle Erklärungen liefern, die insbesondere für die Krisenstaaten sowie einzelne Segmente der Unternehmensfinanzierungen zutreffen mögen. Von einigen Beobachtern werden diese Phänomene auch als eine Störung des Transmissionsmechanismus interpretiert.16) In ihrer Stellungnahme zum OMT-Programm äußert sich die Deutsche Bundesbank hingegen ablehnend.17) Unterschiedliche Zinssätze in den Mitgliedsstaaten sieht sie nicht notwendig als ein Indiz eines gestörten Transmissionsmechanismus. Allenfalls die unterschiedliche Entwicklung der Zinsen bei einer Änderung des Leitzinses könnte Zeichen einer gestörten Zinsweitergabe sein.

Fehlentwicklungen

Vielmehr spiegeln die unterschiedlichen Risikoaufschläge bei Staatsanleihen die Möglichkeit eines Zahlungsausfalls, die Umsetzung der Reformen sowie speziell in den Programmländern die Einhaltung der Troika-Auflagen wider. Da die Banken insbesondere der Krisenstaaten wiederum einen hohen Anteil nationaler Staatsschulden in ihrem Portefeuille haben, werden ihr Kreditvergabepotenziale und die Konditionen für den Unternehmenssektor direkt durch diese Belastungen beeinflusst. Schließlich führen die abweichenden Fundamentaldaten für die Unternehmen dieser Länder infolge unterschiedlicher ordnungspolitischer Rahmenbedingungen und Konjunkturen zu unterschiedlichen Risikoprämien.

Eingriffe in die Zinsstruktur zum Zweck der Egalisierung von Risikoprämien heben die Lenkungsfunktion des Kapitalmarktzinses auf. Es kommt zur Ausschaltung des Marktzinses als Risikoindikator. Dies verhindert notwendige Anpassungen und führt zu Kapitalfehlleitungen in die Krisenstaaten mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten und Umverteilungen. Fiskalische Rettungsschirme (ESM) und monetäre Rettungsprogramme (Staatsanleihenankauf, OMT-Programm, Emergency Liquidity Assistance (ELA)) stellen eine (potenzielle) Haftungsübernahme der Mitgliedsstaaten beziehungsweise der EZB dar - und damit Eurobonds durch die Hintertür.

Einkommenstransfer aus den Gläubigerstaaten

Diese Eingriffe behindern eine marktgebotene Kapitalentwertung und die einhergehende schöpferische Zerstörung. Notwendig wäre demgegenüber ein Bailin, damit offene Konkurse die Bilanzen bereinigen. Dies ist die Voraussetzung, damit das beim Zusammenbruch freigesetzte physische Kapital und alle anderen entlassenen Produktionsfaktoren höherwertigen Verwendungen zugeführt werden können.

Demgegenüber wird das Bailout mit einem Zeitgewinn für Anpassungsprozesse gerechtfertigt. Die politische Druckentlastung begünstigt jedoch einen Reform stau und vorhandenes Rent-Seeking kann fortbestehen. Hohe Vermögenspreise respektive niedrige Renditen verhindern Investitionen in die Zukunft.18) Es kommt zur Investitionsfalle. Mangels Rentabilitätsperspektive haben sinkende Kapitalmarktzinsen keinerlei Wirkungen auf die Investitionsnachfrage.

Nach Berechnungen der Allianz19) sind mit der Politik der Zinsangleichung zugleich erhebliche Einkommensumverteilungen innerhalb der Eurozone verbunden. So zahlt Griechenland mit durchschnittlich 2,4 Prozent weniger auf seine Staatsschulden als Deutschland mit 2,7 Prozent.20) Legt man das Zinsniveau von 2003 bis 2008 als Vergleich zugrunde, so verlor Deutschland in den Jahren 2010 bis 2014 rund 22,8 Milliarden Euro, während Spanien 53,6 Milliarden Euro, Portugal 16,3 Milliarden Euro, Griechenland 12,6 Milliarden Euro, Italien 39,0 Milliarden Euro und Frankreich 19,0 Milliarden Euro gewannen. Darüber hinaus belastet der Niedrigzins generell die Anleger von Geldvermögen. Bei einem Nettogeldvermögen von 3 574 Milliarden Euro (31. Dezember 2013) und einem Rückgang des Kapitalmarktzinses von 3 Prozentpunkten gegenüber 2007 beträgt der kalkulierte jährliche Einkommensverlust deutscher Anleger an nominal entgangenen Zinserträgen etwa 107 Milliarden Euro.

Schuldenfalle als Kehrseite

Die Kehrseite besteht seitens der Kreditnehmer in einer Schuldenfalle aufgrund niedriger Zinsen.21) Ein niedriger Zins gibt Anreize zu einer vermehrten Verschuldung, eine Bilanzbereinigung um faule Kredite bei Banken unterbleibt und für Unternehmen rechnen sich Investitionen bereits bei geringer Profitabilität. Eine Haushaltskonsolidierung wird nicht so dringlich, da relativ niedrige Zinslasten Spielräume für eine Nettoneuverschuldung eröffnen. Die Risiken öffentlicher Haushalte22) spiegeln sich in der Schuldenstandsquote als Quotient von Staatsschulden/Bruttoinlandsprodukt (BIP) wider. Diese bleibt lediglich dann konstant, wenn das BIP mit der gleichen Rate wie die Staatsschulden wächst. Werden keine neuen Schulden aufgenommen - die Nettoneuverschuldung ist gleich Null, ist dies nur bei gleicher Höhe von durchschnittlichem Zinssatz der Staatsschuld und der Wachstumsrate des BIP gegeben. Bei im langfristigen Trend eher sinkenden Wachstumsraten und wieder ansteigenden Zinssätzen käme es unter gleichen Bedingungen zu einem Anstieg der Schuldenquote.

Auch die EZB wäre von ihrem Politikwechsel negativ betroffen. Die im Rahmen der Repo-Geschäfte entgegengenommenen Pfänder verlieren an Wert. Die aus dem Ankauf von Staatspapieren und Kreditverbriefungen niedriger Bonität der Krisenländer drohenden bilanziellen Verluste einer Bad Bank werden Realität. Die vielfach schon heute diagnostizierte Abhängigkeit der EZB durch diese sogenannten außergewöhnlichen Politiken wäre offenbar. Der Sozialisierung von Verlusten im Rahmen der "Rettungspolitik" wäre ein weiteres Tor geöffnet.

Politische Schlussfolgerungen

Die Übernahme der LoR-Funktion ist rechtlich bemerkenswert, da sie durch das Verbot der Staatsfinanzierung (Art. 123 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) vertraglich ausgeschlossen ist.23) Sie ist ökonomisch fragwürdig, da in der Eurozone aufgrund der föderalen Struktur der Europäischen Union (EU) der Währungsraum nicht deckungsgleich mit den Staatsgebieten der Mitgliedsländer ist. Demzufolge wird die Geldpolitik zentral gesteuert, während die Haushaltshoheiten trotz des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes (Sixpack) sowie des besonderen Haushaltsüberwachungsverfahrens (Twopack) weiterhin bei den Mitgliedsstaaten verbleiben.

Eine Abkehr von dieser noch föderalen Struktur würde den bereits in Gang gesetzten Umbau der EU unumkehrbar machen, mit allen Konsequenzen einer Fiskal-/Transferunion. Die EZB würde unter Aufgabe ihres rein monetären Mandats in den abhängigen Dienst eines fiskalischen Agenten gestellt. Allerdings hat die Krise auch offenbart, dass die jetzige EU-vertraglich abgesicherte Situation bei einem nicht glaubwürdigen Haftungsausschluss in Verbindung mit unzureichenden Kontroll- und Durchgriffsrechten auf die nationalen Haushalte zu einer instabilen Situation mit nationalem Erpressungspotenzial führt.24) Damit ergibt sich folgende Prognose: Entweder wird die Fiskal-/Transferunion trotz aller Widerstände Realität oder die Währungsunion sollte schnellstmöglich beendet werden.

Die Herstellung der Bedingungen eines optimalen Währungsraumes als dritte Möglichkeit ist mit hohen Unsicherheiten behaftet. Eine Rückbesinnung auf die nationale Verantwortung der Mitgliedsstaaten, das heißt, eine Reformpolitik (innere Abwertung) zur Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit kann eine langfristig erfolgversprechende Alternative bieten, bleibt nach den bisherigen Erfahrungen jedoch unrealistisch. Gegebenenfalls wäre auch die Wiedereinführung einer nationalen Parallelwährung zum Euro (äußere Abwertung) verbunden mit einem offenen Schuldenschnitt, wie im Fall Griechenlands unumgänglich, angezeigt.25) Der Niedrigzins würde einem Knappheitspreis weichen, der die Übernahme von Risiko als produktiver Faktor26) marktgerecht entlohnt und Kapital für einen Neuanfang anlockt.

Nicht nur das außergewöhnlich niedrige Zinsniveau, sondern auch die im Rahmen der monetären Krisenpolitik egalisierten Risikoprämien bewirken neben einer Kapitalfehlleitung in die Krisenstaaten einen erheblichen impliziten Einkommenstransfer aus den Gläubigerstaaten. Die Schuldenfalle niedrige Zinsen verführt gerade öffentliche Haushalte der Krisenstaaten zu einer erhöhten Verschuldung, die spätestens bei steigenden Zinsen zum Problem wird. Die Analyse ergibt zudem erhebliche Zweifel, ob die Strategie der EZB hinsichtlich einer privaten Kreditausweitung zielführend sein kann. Insbesondere die These eines gestörten Transmissionsmechanismus wird verworfen. Alternativ scheinen die wirtschafts- und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen vielfach als nicht investitionsförderlich. Deshalb wird für eine Politik der Selbstverantwortung der Mitgliedsstaaten plädiert, für mehr Reformen und wenn notwendig für eine Entschuldung einzelner Staaten in Verbindung mit der Einführung einer nationalen Parallelwährung.

Literatur

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Winkler, Adalbert (2013), Ordnung und Vertrauen - Zentralbank und Staat in der Eurokrise, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 14. Jahrgang (2013), Heft 3-4, S. 198 bis 218.

Fußnoten

1) "Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough." Rede von Mario Draghi auf der Global Investment Conference in London vom 26. Juli 2012, http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/ 2012/html/sp120726.en.html (Abrufdatum 18. September 2014).

2) Vgl. http://de.investing.com/ratesbonds/europeangovernmentbonds (Abrufdatum 4. November 2014).

3) Vgl. zur LoR-Funktion auch Winkler (2013), S. 204ff.

4) Vgl. Plickert (2014a).

5) Da der EZB Erfahrungen mit dem Ankauf von Kreditverbriefungen fehlen und der Markt überaus intransparent ist, beauftragt sie vier Vermögensverwalter, unter anderem die Deutsche Bank, mit diesem Geschäft. Mögliche Interessenkonflikte werden ausgeblendet.

6) Da bei Pfandbriefen im Gegensatz zu Kreditverbriefungen auch die begebende Bank haftet, dürfte kein Eigenkapital für neue Kredite freigesetzt werden. Die Kreditfähigkeit wird also nicht verbessert.

7) Vgl. Plickert (2014b).

8) Vgl. Koo (2011), der den Begriff der Bilanzrezession (balance sheet recession) geprägt hat.

9) Eine Kreditklemme wäre nicht gegeben, wenn ceteris paribus die Kreditnachfrage rückläufig ist, weil sich die Bonitäten oder die Sicherheiten potenzieller Kreditnehmer verschlechtern. Demnach kann ein rückläufiges Kreditvolumen nicht per se als Indiz für eine Kreditklemme gewertet werden.

10) Vgl. eine Übersicht zu aufsichtsrechtlichen Projekten von PricewaterhouseCoopers (PwC) unter http://www.pwc.ch/user_content/editor/files/publ_bank/pwc_uebersicht_aufsichtsrechtliche_projekte_de_1407.pdf (Abrufdatum 5. Oktober 2014).

11) Siehe hierzu die Untersuchungen des International Monetary Fund (2014), S. 21ff.

12) Vgl. auch Schrooten (2014), S. 625.

13) Vgl. Koo (2011), S. 25 ff. Keine Bilanzrezession diagnostiziert Koo für Deutschland, Italien und Griechenland. Dagegen sieht er die Bedingungen für Spanien, Portugal und Irland als erfüllt. Siehe auch Fichtner (2014), S. 621f.

14) Vgl. Europäische Zentralbank (2014), http://sdw.ecb.europa.eu/quickview.do?SERIES_KEY=124 und http://sdw.ecb.europa.eu/quickview.do?SERIES_ KEY=117 (Abrufdatum 28. Oktober 2014) sowie Brandmeir, Grimm, Heise und Holzhausen (2014), S. 87.

15) Vgl. Deutsche Bundesbank (2013), S. 46 bis 49.

16) So beispielsweise von Schrooten (2014), S. 625 und von Hüther (2014), S. 627. Darüber hinaus rechtfertigt die EZB ihre besonderen Maßnahmen mit einer Störung des Transmissionsmechanismus in den Krisenländern.

17) Vgl. Deutsche Bundesbank (2012), S. 3 bis 11.

18) Siehe auch Sinn (2014).

19) Siehe Brandmeir, Grimm, Heise und Holzhausen (2014), S. 38 ff. In die Berechnungen sind sowohl die Kreditzinsen wie auch die Habenzinsen eingeflossen. Generell profitieren die Nettoschuldner, während die Nettogläubiger bei dieser Politik verlieren.

20) Vgl. Piller (2015).

21) Vgl. auch Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (2014), S. 73ff.

22) Vgl. auch Boysen-Hogrefe und Jannsen, S. 616f.

23) Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat das OMT-Programm der EZB über den Ankauf von Staatsanleihen für unionsrechtswidrig erkannt und erstmals eine Vorlage zur Vorabentscheidung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gestellt. Siehe BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2014 - 2 BvR 2728/13, 2729/13, 2730/13, 2731/13, 2 BvE 13/13. Dem entgegen steht die Stellungnahme des Generalanwaltes am EuGH vom 14. Januar 2015.

24) Vgl. auch Winkler (2013), S. 208 ff. Die aktuelle Weigerung Frankreichs und Italiens bei ihren Haushaltsplanungen für 2015 den Vorgaben des reformierten Stabilitätspaktes zu folgen und das Einlenken der EU-Kommission zeigen den verbreiteten Widerstand gegen eine Übertragung nationaler fiskalischer Kompetenzen auf die EU.

25) Siehe hierzu die Gedankenskizze bei Meyer (2013).

26) Vgl. Meyer (1992).

Prof. Dr. Dirk Meyer , Institut für Volkswirtschaftslehre , Helmut-Schmidt-Universität

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