Quant-Modelle: Model Governance als Chefsache

Prof. Dr. Uwe Wystup, Vorstand, MathFinance AG, Frankfurt am Main, Professor für Optionsbewertung und Devisenderivate, Universität Antwerpen, und Honorarprofessor für Quantitative Finance, Frankfurt School of Finance & Management - Mit immer neuen Rechenmodellen versuchte die quantitative Finanzmathematik lange, den entscheidenden Vorteil im Derivatehandel zu erreichen. Mittlerweile registriert der Autor Einigkeit, dass nicht neue Modelle, sondern die Reduzierung und die Kontrolle der bestehenden Modelllandschaft zum Erfolg führen. Diese Erkenntnis hat sich seiner Beobachtung nach auch bei den Kontrollbehörden verbreitet, die mittlerweile auf rigide Model Governance drängen und dabei die Vorstände der Kreditwirtschaft in die Pflicht nehmen. Mit Blick auf die Zukunft hält er es für weniger wichtig, immer neue Modelle zu entwickeln, sondern die bestehenden Modelle verantwortungsvoll zu führen und einzusetzen. Auch für die Quants in den Banken formuliert er eine zukunftsweisende Botschaft: Ihre Modelle sollten die Risiken erfassen, die wirklich wesentlich sind, und ihre Modelle sollten nicht übermäßig kompliziert sein. Denn Robustheit und Verständlichkeit erhöhen die Akzeptanz bei allen Beteiligten. (Red.)

Die Modellierung von Kursen und Zinsen kennt die Finanzindustrie seit den siebziger Jahren. Die Mutter aller Modelle ist dabei die Black-Scholes-Formel für Bewertung von Optionen. Sie unterstellt normalverteilte Renditen beziehungsweise äquivalent dazu lognormalverteilte Kurse. Trotz aller berechtigter Kritik (Renditen von Preisen von Finanzprodukten sind in aller Regel nicht normalverteilt) hat sich das Modell bis heute lange gehalten, im Bereich Devisen, Aktien, Edelmetalle und Zinsen vor allem als Übersetzungshilfe zwischen Preisen und Volatilitäten.

Volatilität als statistischen Prozess modellieren

Ab Mitte der siebziger Jahre entwickelten die Finanzingenieure (Financial Engineers, Quants genannt) die Modelle immer weiter. Modellierung von Crashs ist seit 1978 mit Mertons Sprungdiffusionsmodell möglich. Die verallgemeinerte Form der sogenannten Lévy-Prozesse wurde stark vorangetrieben bis hin zu industriellem Einsatz. In den Neunzigern wurden sogenannte lokale Volatilitätsmodelle professionalisiert.

In den neunziger Jahren erkannte man, dass Volatilität selbst als stochastischer Prozess verstanden und modelliert werden sollte. Es kamen eine Vielzahl sogenannter stochastischer Volatilitätsmodelle auf, allen voran das von Heston (1993). Volatilität als Assetklasse war bei einigen führenden Banken bereits durchdacht und industrialisiert, als in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts viele Finanzingenieure noch glaubten, mit ihrer Implementierung des Heston-Modells die Marktpreise getroffen zu haben.

Im Eifer des Geschäfts hatte man jedoch einige Marktrisiken vernachlässigt. Der Drang oder fast Zwang eines stetig schnell wachsenden Derivategeschäfts führte dann im Rahmen der Finanzkrise 2008 zu Verwerfungen. Einige Häuser sahen auf ihren Risikomanagementsystemen nur noch Fehlermeldungen statt Preise, da die Volatilitätsfläche mit den extremen Marktdaten gar nicht mehr konstruiert werden konnte. Es dauerte Wochen, bis Händler wieder ihre Position sehen konnten. In anderen Bereichen waren die Verluste durch nicht oder falsch abgesicherte Positionen in einer Woche so groß wie der Gewinn aus den vorangegangenen zehn Jahren. Einige Häuser stellten ihre Aktivitäten ein oder verabschiedeten sich ganz vom Kapitalmarkt. Ein prominentes Beispiel in Deutschland aus dieser Zeit ist Sal. Oppenheim, einst größte deutsche Bank in Privatbesitz mit einer führenden Rolle bei Aktienzertifikaten.

Kredit- und Kontrahentenrisiken im Rampenlicht

Die Finanzkrise 2008 schob die Kredit- und Kontrahentenrisiken ins Rampenlicht. In der Folge ging eine Wertadjustierungswelle durch die Lande. Bei Wertadjustierung (Value Adjustment) geht es darum, die bestehenden Modelle mit zusätzlichen Bausteinen zu versehen, allen voran "Credit Value Adjustment (CVA)", das heißt Anpassung der Bewertung der Position mit einem Kontrahenten unter Berücksichtigung einer Wahrscheinlichkeit für dessen Zahlungsausfall. Das bedeutet, dass dasselbe Produkt verschieden viel wert sein kann, je nachdem, wer der Kontrahent ist und wie kreditwürdig er eingestuft wird, und dass sich diese Adjustierung im Laufe der Zeit ändern kann.

Gefolgt wird die Anpassung von "Debit Value Adjustment (DVA)", worin auch die eigene Kreditwürdigkeit berücksichtigt wird. Dazu kommt "Funding Value Adjustment (FVA)", eine Anpassung, die die Kosten einer Fremdfinanzierung und die damit möglicherweise verbundenen Liquiditätsaufschläge mitberücksichtigt.

Ebenfalls nach der Finanzkrise hat man die Ansätze von lokaler (LV) und stochastischer Volatilität (SV) in sogenanneten Mischmodellen (LSV) professionalisiert, bei starker Kursrutschgefahr noch mit Sprüngen als Zusatz (LSVJ). Das allerdings war die bislang letzte Innovation auf dem Markt der Quant-Modelle. Gerade durch das Thema der Kredit- und Kontrahentenrisiken wurde deutlich, dass es weniger wichtig ist, immer neue Modelle zu entwickeln, sondern die bestehenden Modelle verantwortungsvoll zu führen und einzusetzen. Dies ist auch das Ergebnis einer Expertendiskussion, die kürzlich im Hause Math-Finance organisiert wurde, mit Teilnehmern aus Häusern wie Allianz, State Street und KKR.

Fazit: Quantitative Finanzmathematik ist heute bei Asset Managern, Versicherern und Banken fest etabliert. Die Modellrechnungen sind heute erheblich ausgereifter. Und die Erwartungen haben sich erheblich geändert. Gerade bei den Asset Managern geht es nicht mehr darum, Marktentwicklungen vorauszusagen, sondern eher darum, Fähigkeit und Verlässlichkeit in Richtung Risikominimierung und -kontrolle zu entwickeln. Um das zu erreichen, ist heute die sogenannte Model Governance die entscheidende Fähigkeit, um das Modell-Universum zu konsolidieren und mehr auf Qualität auszurichten. Nur so werden Modelle E-Commerce-fähig.

Sorgsame Prüfung aller Modelle

Kris Wulteputte, Head of Risk Control, State Street Bank and Trust, ist es besonders wichtig, die Zahl der eingesetzten Modelle zu verringern und sie weniger komplex zu gestalten. "Wir brauchen keine neuen Modelle mit hohem Anspruch, sondern wir müssen die bestehenden noch zuverläs siger und robuster machen, sodass auch Nicht-Quants die Ergebnisse verstehen und nachvollziehen können. Und wir müssen unsere Modellwelt verkleinern und auf die für uns wesentlichen Funktionen reduzieren."

Thomas Stephan, Managing Director and CIO Overlay of Allianz Global Investors, erwartet von der Governance der Quant-Welt Hilfestellung, die Ausrichtung der Instrumente und Methoden zu verfeinern. Dies werde umso wichtiger, als der Regulator immer genauer darauf achte, dass adäquate, robuste und nachvollziehbare Modelle zur Risikosteuerung zum Einsatz kommen. Die Arbeit der Quants müsse konzernweit harmonisiert und an die Bedürfnisse der Auftraggeber angepasst werden, so die Vorgabe.

Der Finanzbetrieb muss sich umfassend mit der Modelllandschaft auseinandersetzen. Es geht hier um den sorgsamen Einsatz der Modelle, ihre Risiken und um die Prüfung, welche Modelle sich für welche Produkte eignen. Die Regulatoren (wie Ba-Fin, EZB, EBA, FED) fordern seit einiger Zeit eine sorgsame Prüfung aller Modelle, die zur Bewertung von Produkten zur Risikomessung der Portfolios zum Einsatz kommen. Hier muss überprüft werden:

1. Welches Modell kommt für welche Produkte zum Einsatz, und warum?

2. Sind die Modellvorgaben entsprechend implementiert und die genaue Umsetzung dokumentiert?

3. Welche Schwachstellen gibt es? Das betrifft die numerische Umsetzung, die Ver- und Aufbereitung von Marktdaten, das Verfahren bei fehlenden oder inkonsistenten Marktdaten, die Abwesenheit von Arbitragemöglichkeiten, die Berücksichtigung von XVA, eine Abgrenzung der Produkte, die mit einem bestehenden Modell überhaupt bewertet werden dürfen, beispielsweise Begrenzungen der Laufzeit (Zinsrisiko!), Eignung für bestimmte Kundengruppen.

4. Haben das Risiko-Controlling und die nachgelagerten Abteilungen in einer Bank überhaupt dasselbe Modell wie der Handel (Frontoffice)? Hier bestehen traditionell Inkonsistenzen, weil der Handel für einzelne Produkte viel genauer und schnelller rechnen muss, das Risiko-Controlling aber eher die Verlustrisiken der Gesamtposition im Auge hat.

Frage nach den Verantwortlichen

Eine entscheidende Frage, die im Laufe dieser Aufräumarbeiten aufkam, ist die nach dem Verantwortlichen. Ähnlich dem im Versicherungsgeschäft bekannten Aktuar (Versicherungsmathematiker) gibt es nun bei Banken für jede Assetklasse einen "Model-Owner". Dieser ist für ein Modell verantwortlich und kontrolliert dessen Pflege, Einsatz und Durchdringung in der Bank und garantiert operationelle Effizienz. Üblicherweise werden Modelle in einer Bank ständig weiterentwickelt, was bedeutet, dass mehrere Personen daran arbeiten. Es muss klar nachvollziehbar sein, wer wann welche Änderungen mit welcher Berechtigung vorgenommen hat und welche Version wann in welchen Systemen in der Bank im Einsatz war. Das Stichwort hier: Versions- und Benutzerkontrolle.

Die Bewertung eines Derivats kann heute mit denselben Marktdaten anders ausfallen als vor zwei Jahren, als eine Interpolationsmethode auf der Volatilitätsfläche möglicherweise noch anders war. Im Zuge immer niedrigerer und teilweise negativer Zinsen wurde etwa ein Black-Modell für Zinsderivate auf ein normales BachelierModell oder ein Black-Modell mit verschobener Untergrenze (shifted Black) umgestellt. Der Regulator sagt, dass derartige modellbedingte Änderungen auf die Bewertung der Portfoliopositionen nachvollziehbar sein müssen.

Beherrschung der Modelle als Kernverantwortung

Es geht für das Management darum, die Gewinne und Verluste aus den Handelsaktivitäten nachvollziehbar erklären zu können (P & L Explain). Schließlich muss die Bilanz stimmen und der Wirtschaftsprüfer die Bewertungen nachvollziehen können. Die Wahl und Beherrschung der Modelle ist in der Kernverantwortung des höheren Managements angelangt. Kein Vorstand oder Bereichsleiter im Kapitalmarktgeschäft kann sich mehr davor drücken, sich mit Modellen auseinanderzusetzen, selbst dann nicht, wenn er in der Schule in Mathe immer abgeschrieben hat. Im Zuge der Regulierungswelle müssen in der Tat Banken ihre im Einsatz befindlichen Modelle komplett dokumentiert beim Regulator einreichen. Damit werden etwa bei der EZB, BOE oder FED die Modelle der Banken gesammelt. Es baut sich eine enorme Wissensdatenbank auf. Was die Regulatoren genau damit machen werden, ist noch Gegenstand abzuwartender Grundlagenforschung.

Einen echten Mehrwert kann man hier nur bieten, wenn man Anforderungen und Denkweise der verschiedenen Regulierungsbehörden (ECB/EBA, FCA/PRA, FED, FINMA, MAS, HKMA) kennt oder gut vorhersagen kann. Dies erfordert industrieerprobte, qualifizierte Quants, die über die Erfahrung mit Modellen sowie deren Stärken und Schwachstellen in einem produktiven Umfeld verfügen. Quantitative Routine im Handelsumfeld und Beratungserfahrung sichern die Erstellung marktgerechter Dokumentation und Teststandards. Nur wenige Experten decken das erforderliche Erfahrungsspektrum ab.

Die Regulierung regulieren

Was können akademische Forschungseinrichtungen bieten? Was bei vielen Modellen wirklich fehlt, ist die nachhaltige Untersuchung von Modellen und deren Performance, Robustheit, Effzizienz in einem produktiven Umfeld. Viele wissenschaftliche Aufsätze beschäftigen sich mit der Behandlung eines Modells nur mit dessen Anwendung auf ein einziges Produkt zu einem festen Zeitpunkt. Ignoriert wird meist der Portfoliogedanke sowie auch die zeitliche Dynamik. Diese Schwachstellen kann man akademischen Forschern nicht vorwerfen, denn sie verfügen in der Regel weder über die Praxiserfahrung noch über die erforderlichen Daten. Wirklich belastbare Daten finden sich allenfalls bei den Marketmakern selbst und werden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht.

Die Regulierung selbst sollte dringend reguliert werden. Viele Auflagen und Forderungen passen entweder nicht zur Wirklichkeit oder sind übertrieben. Es sollte schließlich darum gehen, das Kapitalmarktgeschäft robuster, effizienter und stabiler zu machen. In der Praxis erscheint es zuweilen, als solle das Geschäftmodell Bank ausgemerzt werden. Dies führt aber zu einer Schwächung des eigenen Wirtschaftsstandorts, da sich dann das Geschäft in andere Länder zurückzieht. Schon heute arbeiten viele Anlageberater von Schweizer Banken mit Arbeitsverträgen in Singapur.

Für die Quants in den Banken gilt für die Zukunft: Ihre Modelle sollten die Risiken erfassen, die wirklich wesentlich sind, und ihre Modelle sollten nicht übermäßig kompliziert sein. Denn Robustheit und Verständlichkeit erhöhen die Akzeptanz bei allen Beteiligten.

Grundregeln der Model Governance

· Einführung eines hauptverantwortlichen Model-Owners, der die operationelle Effizienz sicherstellt.· Benennung des Model-Owners als Kernaufgabe des Vorstandes.· Nachvollziehbarkeit aller verwendeten Eingabegrößen und Modellergebnisse, Gründe für Verfahren und deren laufenden Änderungen/Anpassungen mit dem Ergebnis einer Selbstregulierung.· Standardisierte Vorlagen der Modellentwicklung im Handel und der Genehmigungsdokumentation in der Modellvalidierung.· Dauerhaftes Einhalten von Qualitätsstandards - auch nach einer Modellgenehmigung.· Model Performance Monitoring von in Produktion befindlichen Modellen mit vorgegebenen Klarlisten.· Prüfung operationeller Effizienz in regelmäßigen Abständen.

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