Steht der Euroraum vor einer Inflationsspirale?

Dr. Michael Holstein, Foto: DZ BANK AG

Lange war Inflation kein großes Thema. Die Corona-Pandemie hat dies allerdings radikal verändert. So erleiden Sparer und Verbraucher derzeit immer wieder neue Inflationsschocks. Und da die Verbraucher auch in den kommenden Monaten mit einer steigenden Inflationsrate rechnen, hat sich daher die Verbraucherstimmung deutlich eingetrübt, was wiederum eine sinkende Kaufbereitschaft angesichts steigender Preise zur Folge hat, so der Autor. Und das Risiko durch die Pandemie für die Konjunktur sei längst noch nicht gebannt. Dennoch könne davon ausgegangen werden, dass die Inflationsrate im Euroraum im Verlauf des kommenden Jahres wieder unter die 2-Prozent-Marke sinken werde und daher keine Inflationsspirale drohe. Vielmehr dürfte sich die Verbraucherpreisentwicklung nach dem Auslaufen der Corona-bedingten Sondereffekte wieder normalisieren. (Red.)

Das Jahr 2021 war in der Eurozone wie auch in vielen anderen Wirtschaftsräumen von einem rapiden Anstieg der Teuerungsraten bei den Verbraucherpreisen gekennzeichnet. Zu Jahresbeginn betrug die Inflationsrate im Euroraum 0,9 Prozent. Bereits damit lag sie schon ein gutes Stück über der durchschnittlichen Teuerung des Vorjahres von nur 0,3 Prozent. Bis November 2021 ist die EWU-Inflationsrate dann bis auf 4,9 Prozent angestiegen. Das ist der höchste Wert seit Einführung des Euro im Jahr 1999. Damit übertrifft die Inflationsrate aktuell nicht nur das EZB-Ziel von 2 Prozent bei weitem, sie liegt auch deutlich über ihrem langjährigen Mittelwert seit dem Start des Euro von 1,7 Prozent.

Die Gründe für den historischen Anstieg der Teuerungsrate sind vielfältig. Den stärksten Einfluss übte in den vergangenen Monaten aber zweifellos der kräftige Preisschub durch die Energiegüter aus. Schließlich ist der Rohölpreis (Marke Brent) von rund 50 US-Dollar pro Barrel im Januar 2021 auf gut 80 US-Dollar im November angestiegen. Bezieht man noch die gleichzeitige Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar mit ein, liegt der Ölpreis im November 2021 für Abnehmer aus dem Euroraum fast 60 Prozent höher als zu Jahresbeginn. Seinen Vorjahresstand übertrifft er sogar um mehr als 90 Prozent.

Das macht sich für die europäischen Verbraucher derzeit vor allem an der Zapfsäule und beim Füllen des Heizöltanks bemerkbar: Die Kraftstoffpreise sind so hoch wie selten zuvor. Für Benzin und Heizöl müssen die europäischen Verbraucher im Spätherst 2021 fast 40 Prozent mehr ausgeben als im Vorjahr. Und auch die Gas- und Stromkosten haben sich in den vergangenen Monaten kräftig erhöht. Insgesamt lagen die Energiekosten im November 2021 laut Eurostat-Angaben um 27,4 Prozent höher als im Vorjahr. In die Berechnung der Inflationsrate gehen die Energiepreise nach dem aktuellen Warenkorb mit einem Gewicht von etwa 9,5 Prozent ein. Damit ergibt sich für November ein Beitrag der Energiepreise zur allgemeinen Teuerungsrate von 2,6 Prozentpunkten. Mehr als die Hälfte der aktuellen EWU-Inflationsrate ist somit allein auf die Verteuerung der Energiegüter zurückzuführen.

Knappheit bei Vorprodukten

Daneben schlagen sich aber auch die zum Teil deutliche Verteuerung bei anderen wichtigen Rohstoffen und die Knappheit bei Vorprodukten - mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung - in höheren Güterpreisen nieder. Viele Unternehmen in Europa klagen derzeit über Lieferprobleme bei zahlreichen Vorprodukten, wie etwa im Bereich der Halbleiter. Dies führt zu Produktionsrückständen bei gleichzeitig hoher Nachfrage. Das spiegelt sich in kräftig steigenden Produzenten- und Importpreisen wider. So sind in Deutschland die Erzeugerpreise im Oktober im Vorjahresvergleich um 18,4 Prozent gestiegen, das ist die höchste Rate seit mehr als 50 Jahren. Bei den Produzenten von Konsumgütern fallen die Preissteigerungen zwar weiterhin deutlich moderater aus. Dennoch beschleunigt sich auch hier die Preisrally.

Die weltweiten Probleme in den Lieferketten sind aber hauptsächlich eine Folge der wirtschaftlichen Erholung im Zuge der Rücknahme von Corona-Beschränkungen. Die globale Ökonomie startete nach den weitreichenden Lockdowns in einen rapiden Aufholprozess, der sich bei vielen Gütern in einer sprunghaft steigenden Nachfrage äußerte. Die Angebotsseite konnte hier nicht mithalten, vor allem die Transportkapazitäten wurden knapp.

Höhere Preise

Doch nicht nur bei Industriegütern, auch in einigen Dienstleistungsbereichen ziehen die Lockerungen der Corona-Restriktionen Preisaufschläge nach sich. Nach der langen Phase des erzwungenen Konsumverzichts ist die Preissensitivität vieler Verbraucher nämlich weniger stark ausgeprägt. Den Unternehmen fällt es daher leichter, höhere Preise durchzusetzen. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ging von diesem Öffnungseffekt bei den Dienstleistungen im Euroraum bisher aber nur ein relativ geringer Inflationseffekt aus.

Zudem dürfen bei der aktuellen Inflationsentwicklung auch die direkten Effekte der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung im Jahr 2020 nicht vergessen werden. So sorgt besonders die Rücknahme der temporären Mehrwertsteuersenkung in Deutschland aus dem zweiten Halbjahr 2020 für einen deutlichen Anstieg der hiesigen Inflationsrate in der zweiten Jahreshälfte 2021. Aufgrund des hohen wirtschaftlichen Gewichts Deutschlands innerhalb der Währungsunion ist dieser Effekt auch auf der EWU-Ebene spürbar.

Inflation im Euroland Quelle: Eurostat, DZ Bank (HVPI: Harmonisierter Verbraucherpreisindex)

Verbraucherstimmung eingetrübt

Um den Einfluss der pandemiebedingten Sondereffekte in der Inflationsbetrachtung etwas zu relativieren, kann man von der jährlichen zu einer 2-jährlichen Inflationsmessung übergehen. So kann man die Vorkrisenzeit des Jahres 2019 als Vergleichsbasis für die aktuelle Preisentwicklung heranziehen. Auf diese Art spielt die sehr tiefe Vergleichsbasis des zweiten Halbjahres 2020 keine Rolle mehr, denn der November 2021 wird mit dem November 2019 verglichen. Auch die so berechnete Rate ist im Jahresverlauf 2021 merklich gestiegen, von 1,1 Prozent im Januar auf zuletzt 2,3 Prozent. Damit liegt sie aber immer noch deutlich näher am mittelfristigen EZB-Ziel von 2 Prozent und zeigt insbesondere in den letzten Monaten einen wesentlich weniger auffälligen Verlauf als die "normale" HVPI-Rate.

Was bedeutet das für die Inflationsrate im kommenden Jahr? Derzeit ist die Teuerung von zahlreichen sich überlagernden Post-Corona-Effekten gekennzeichnet. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich die dadurch entstandene Aufwärtsbewegung der Inflationsrate einfach fortschreiben lässt, zumal das Risiko durch die Pandemie für die Konjunktur längst noch nicht gebannt ist.

Kein deutlich erhöhter Lohndruck

Preisanhebungen lassen sich dauerhaft nur durchsetzen, wenn die Kaufbereitschaft der Konsumenten dadurch nicht beeinträchtigt wird. Die jüngste Erhebung zum Verbrauchervertrauen in der Eurozone vom November zeigt jedoch, dass die Verbraucherstimmung sich seit den Sommermonaten wieder eingetrübt hat. So erwarten die Verbraucher in den kommenden Monaten höhere Inflationsraten, was sich in einer geringeren Anschaffungsneigung niederschlägt.

In den letzten Hochinflationsphasen in den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre hat es als wichtigen Einflussfaktor einen länger anhaltenden Druck von der Lohnseite gegeben. Die Volkswirtschaften Europas durchlebten mehrere Jahre einer ausgeprägten "Lohn-Preis-Spirale".

Ein deutlich erhöhter Lohndruck ist im Euroraum derzeit aber nicht in Sicht. Vielfach befinden sich noch immer zahlreiche Arbeitnehmer in Kurzarbeit oder in ähnlichen Programmen zur Abfederung der Krisenauswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die Tariflohnentwicklung befindet sich gemäß den Zahlen der Europäischen Zentralbank auf einem Erholungspfad, ein Überschießen als Ausgleich für die vergangenen Lohneinbußen ist derzeit aber nicht absehbar, abgesehen von den Korrekturen durch die Corona-Krise im vergangenen Jahr. Zudem deuten die Zahlen für die deutschen Tariflohnabschlüsse in diesem Jahr nur sehr moderate Lohnzuwächse an. Das Hauptaugenmerk dürfte in den Tarifverhandlungen eher auf der Beschäftigungssicherung liegen. Corona-Boni werden eher als Einmalzahlungen gewährt und erhöhen die Löhne nicht dauerhaft.

Auch die derzeit starken Anstiege der Erzeuger- und Importpreise werden sich nicht auf Dauer fortsetzen. Sie sind Folge davon, dass nach dem umfassenden Lockdown im Frühjahr vergangenen Jahres mit teilweise stillstehenden Produktionsanlagen die europäischen Länder zeitgleich wieder den Hebel umgelegt haben. Die simultane Erholung hat "Bottle necks" erzeugt, deren Folge Knappheiten und Verteuerungen waren. Diese dürften sich in vielen, wenn auch vielleicht nicht allen Bereichen im Verlauf des kommenden Jahres entspannen. Gleiches gilt auch für den Ölpreis, dessen Erholung vom Corona-Schock mittlerweile abgeschlossen ist. Im kommenden Jahr kann mit einer Beruhigung des Rohölpreises gerechnet werden.

Demografischer Wandel erhöht Inflationsrisiken

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Inflationsrate im Euroraum im Verlauf des kommenden Jahres wieder unter die 2-Prozent-Marke sinken und 2022 im Jahresdurchschnitt 1,9 Prozent betragen wird. Damit wird nach Einschätzung der DZ Bank durch die aktuell hohen Teuerungsraten nicht das Tor zu einem dauerhaften Trend mit höheren Inflationsraten aufgestoßen. Vielmehr dürfte sich die Verbraucherpreisentwicklung nach dem Auslaufen der beschrie ebenen Corona-bedingten Sondereffekte wieder normalisieren.

Das heißt aber nicht, dass für die nächsten Jahre keinerlei Inflationsrisiken bestehen. Als größtes mittelfristiges Risiko für die Preisentwicklung sieht die DZ Bank die Folgen der demografischen Entwicklung für den Arbeitsmarkt. Wenn sich aufgrund der Alterung der Gesellschaften das Arbeitskräftepotenzial ab etwa Mitte des Jahrzehnts deutlich vermindert, dürfte sich der ohnehin bestehende Fachkräfte mangel weiter verschärfen und Aufwärtsdruck auf Löhne und Preise im Euroraum ausüben. Auch die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft dürfte teurer als erwartet werden und kann die Inflation vorantreiben. Zudem muss die Staatsverschuldung nach der Krise wieder konservativer ausfallen. Für die Jahre 2022 und 2023 dürften die genannten Gefahren jedoch noch gering sein.

Dr. Michael Holstein , Chefvolkswirt , DZ BANK AG, Frankfurt am Main

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