TARGET2 - Der Streit geht weiter

Prof. Britta Kuhn, Foto: Hochschule RheinMain

Der vorliegende Beitrag versucht, etwas Klarheit in die kontroverse Diskussion um die TARGET2-Salden bei der Europäischen Zentralbank zu bringen. Auch unter den Ökonomen gibt es Uneinigkeit in der Deutung der immer größer werdenden Salden. Die Autorin erklärt dafür zunächst, was hinter den TARGET2-Salden steckt und führt danach die Argumente der Kritiker und Befürworter auf. So sehen die Kritiker den Anstieg der Salden auf einen Rekordwert von einer Billion Euro vor allem darin begründet, dass in erster Linie die südeuropäischen Volkswirtschaften jahrelang ein großes Leistungsbilanzdefizit aufgebaut hätten. Die Befürworter des Systems bestreiten dies auch nicht, sehen aber auch eine Mitverantwortung bei ausländischen Banken, die Kapital abgezogen hätten. Die hohen Außenstände der Bundesbank sehen sie auch in den QE-Maßnahmen begründet, da sie zu Wertpapierverkäufen ausländischer Banken in Deutschland geführt hätten. Kuhn sieht auf beiden Seiten interessante Lösungsmöglichkeiten für das TARGET2-Problem. (Red.)

Angesehene Volkswirte streiten seit Jahren über die Entstehungsursachen von TARGET-Verbindlichkeiten, ihre ökonomische Bedeutung, die damit verbundenen Ausfallrisiken und sinnvolle Reformen. Dabei geht es nicht nur inhaltlich zur Sache, sondern auch emotional - zuletzt vor allem zwischen den beiden prominenten Volkswirten Martin Hellwig und Hans-Werner Sinn.1)

Allzeithoch bei fast einer Billion Euro

Abbildung 1: Top-3-Länder mit TARGET-Forderungen (in Milliarden Euro, jeweils Monatsende) Quelle: European Central Bank (2020), B. Kuhn

Die Abkürzung TARGET2 steht für "Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer-System in zweiter Generation". Das System wickelt unbare, grenzüberschreitende Eurozahlungen zwischen den nationalen Notenbanken der Währungsunion unter Beteiligung der Europäischen Zentralbank ab. Die Forderungen der Deutschen Bundesbank erreichten ihr bisheriges Allzeithoch im Juni 2018 mit fast 1 Billion Euro. In der Corona-Krise stiegen diese Ansprüche erneut stark an.2) Abbildung 1 zeigt, dass insbesondere auch Luxemburgs Notenbank zu den TARGET-Gläubigern gehört - wenn auch in wesentlich geringerem Umfang als die Bundesbank. Gemäß Abbildung 2 standen ihnen vor allem Verbindlichkeiten der italienischen und spanischen Zentralbank gegenüber.

Abbildung 2: Top-3-Länder mit TARGET-Verbindlichkeiten (in Milliarden Euro, jeweils Monatsende) Quelle: European Central Bank (2020), B. Kuhn

Buchhalterisch entstehen TARGET-Aktiva und -Passiva durch den internationalen Güter- und Kapitalverkehr sowie durch Wertpapierkäufe des Eurosystems. Ein Warenexport von Deutschland nach Italien führt zum Beispiel in der Regel dazu, dass die Bundesbank gegenüber der Europäischen Zentralbank eine Forderung erwirbt. Die Banca d'Italia baut eine Verbindlichkeit in gleicher Höhe gegenüber der EZB auf. Ähnliches passiert, wenn Kapital von einem Bankkonto in Italien auf ein Konto in Deutschland umgeschichtet wird. Buchungstechnisch etwas anders läuft es zwar, wenn zum Beispiel die Banca d'Italia eine italienische Staatsanleihe aus dem Sekundärmarkt kauft, etwa von einer deutschen Geschäftsbank. Im Ergebnis entstehen aber auch hier Schulden der italienischen Zentralbank gegenüber dem Eurosystem und entsprechende Guthaben der deutschen Notenbank.3)

Entstehung von TARGET-Verbindlichkeiten

Die Kritiker werden maßgeblich von Hans-Werner Sinn angeführt, dem ehemaligen Chef des Münchener Ifo-Instituts. Sie machen für die TARGET-Verbindlichkeiten Leistungsbilanzdefizite, Kapitalflucht und die expansive Geldpolitik der europäischen Währungshüter verantwortlich. Vor allem die südeuropäischen Volkswirtschaften hätten jahrelang schlicht mehr Güter importiert als exportiert. Als Folge der Finanzkrise sei in diesen Ländern private Kapitalflucht dazugekommen und ihre Zentralbanken hätten zum Beispiel Notfallkredite ohne Zinsen und Sicherheiten an inländische Banken gewährt. In den massiven Staatsanleihekäufen des Eurosystems ab 2015 sehen die Kritiker eine Umschuldung: An die Stelle verzinster Bankforderungen gegen vornehmlich südeuropäische Regierungen seien unverzinste Zentralbank-Forderungen insbesondere der Bundesbank gegen die EZB getreten.4)

Zu den Verteidigern des TARGET-Systems gehören ebenfalls renommierte Volkswirte, vor allem Marcel Fratzscher und Martin Hellwig. Neben den unstrittigen Leistungsbilanzungleichgewichten machen sie ausländische Banken für den Kapitalabzug aus Südeuropa (mit-)verantwortlich. Es sei dieser institutionelle Kapitalabzug gewesen, der das Eurosystem destabilisiert habe und zu Recht durch eine expansive nationale Geldpolitik kompensiert worden sei. Auch die mengenmäßige Lockerung QE (Quantitative Easing) habe die TARGET-Forderungen der Bundesbank quasi automatisch erhöht - nämlich durch Wertpapierverkäufe ausländischer Kreditinstitute in Deutschland. Die hohen Außenstände der deutschen Notenbank seien also eher dem Finanzplatz geschuldet.5)

Schlüssige Argumente von beiden Seiten

Die ökonomische Relevanz der TARGET-Verbindlichkeiten sehen die Systemkritiker darin, dass es sich dabei um zinslose Überziehungskredite handele.6) Diese Auslegung lehnen die Fürsprecher rundweg ab:7) Das Eurosystem vergebe Kredite stets nur gegen Sicherheiten und habe den Zahlungsverkehr in Krisenzeiten stabilisiert. Einen Totalausfall der Bundesbank-Forderungen halten diese TARGET-Verteidiger für völlig unwahrscheinlich. Selbst nach einem Austritt würde die Schuld noch bedient, es existiere schlimmstenfalls ein Abwertungsrisiko.8) Die Kritiker glauben dagegen nicht daran, dass Mitgliedsländer beziehungsweise ihre Notenbanken nach einem Euro-Austritt noch zahlungsfähig und zahlungswillig wären. Sie räumen aber ein, dass die Bundesbank den Ausfall nur anteilig trüge - es sei denn, die Währungsunion zerbräche komplett.9)

Die Kritiker schlagen vor, Obergrenzen für TARGET-Schulden einzuführen oder Vermögenswerte wie Gold oder Pfandbriefe zu übertragen. Sie verweisen auch auf das US-amerikanische Notenbanksystem: Dort würden in einem zentralen Clearing-Portfolio Schulden zwischen den angeschlossenen Zentralbanken dadurch getilgt, dass die Eigentumsrechte an verzinsten, marktfähigen Wertpapieren neu verteilt würden.10) Die Fürsprecher finden dagegen Obergrenzen für TARGET-Außenstände schädlich, zum Beispiel für die deutsche Exportwirtschaft. Die Wertpapierübertragung im US-amerikanischen Federal Reserve System bewerten sie als unwirksam. Unter anderem diszipliniere dieses System nämlich in der Praxis gar nicht, weil das gesamte Wertpapierportfolio zentral verwaltet würde und defizitäre Distrikte weiterhin alle Zahlungen abwickeln könnten. Stattdessen schlagen sie vor, den Zahlungsverkehr künftig direkt über die EZB abzuwickeln. In den Bilanzen der nationalen Zentralbanken wären dann keine TAR-GET-Aktiva oder -Passiva mehr sichtbar.11)

Abbildung 3 fasst wichtige Konfliktlinien zusammen. Rot markiert sind Standpunkte, die weitgehend überzeugen. Beide Seiten bringen demnach schlüssige Argumente vor.

Abbildung 3: Wesentliche Konfliktlinien im TARGET-Streit Quelle: B. Kuhn auf Basis Kuhn/Hüfner (2020), S. 34

Unstrittig ist, dass Export- beziehungsweise Importüberschüsse der europäischen Handelspartner bilaterale Ungleichgewichte im TARGET-System nach sich zogen. Der Entstehungsgrund "Leistungsbilanzungleichgewichte" ist deshalb in der Tabelle nicht aufgeführt. Ob in der Eurokrise inländische Kapitalflucht oder ausländischer Kapitalabzug überwogen, lässt sich dagegen empirisch kaum ermitteln. Dementsprechend schwierig gestaltet es sich, die geldpolitische Reaktion auf den Kapitalmangel der Defizitländer werturteilsfrei zu bewerten.

Zerbrechen der Währungsunion scheint ausgeschlossen

Klar erscheint dagegen, dass die mengenmäßige Lockerung des Eurosystems die TARGET-Ungleichgewichte in die Höhe trieb. Aber auch das Finanzplatz-Argument der Systemverteidiger überzeugt, dass ausländische Banken in Deutschland in großem Stil Wertpapiere verkauft hätten. Für diese Interpretation sprechen nämlich die ebenfalls hohen Forderungen der Luxemburger Zentralbank (siehe Abbildung 1). In dem kleinen Fürstentum wickeln viele internationale Finanzdienstleister Geschäfte ab.

Hinsichtlich der ökonomischen Bedeutung von TARGET-Passiva überzeugen die Kritiker damit, dass es sich faktisch um Überziehungskredite handelt. Denn die Sicherheitsanforderungen und Zinsen sind im Eurosystem seit 2008 drastisch gesunken - teilweise auf null. Bei der Risikoeinschätzung spielen dagegen Erwartungen eine Rolle, die naturgemäß auch subjektiv sind. Die Verteidiger halten hierbei ein teilweises oder gar vollständiges Zerbrechen der Währungsunion für ausgeschlossen. Für diese Auslegung spricht die bisherige Rettungshistorie des Eurosystems und ihrer Mitgliedsregierungen.

Lösungen auf beiden Seiten

Interessante Lösungsmöglichkeiten bieten schließlich beide Seiten: Mit den Kritikern des aktuellen Systems ließe sich ein Zahlungssystem mit Vermögensübertragung vorantreiben. Hierdurch würden das Verursacherprinzip und der Anreiz zu makroökonomischen Strukturreformen in Ländern mit TARGET-Verbindlichkeiten gestärkt. Wer dagegen eine europäische Solidargemeinschaft bevorzugt, könnte mit den Fürsprechern darauf drängen, alle TARGET-Salden nur noch bei der EZB zu verbuchen. Weil die Salden nationaler Notenbanken dadurch unsichtbar würden, wäre der Streit um diese Forderungen und Verbindlichkeiten vom Tisch.

Literaturverzeichnis

Berger, J. (2018): Was Sie schon immer über Target2 wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten, in: NachDenkSeiten, 17.8.2018, URL: https://www.nachdenkseiten.de/?p=45529 (Letzter Abruf: 16.2.2019).

Bofinger, P. (2018): Sind die Target-Salden eine "Druckerpresse" für Kredite? In: Handelsblatt-Online, 19.8.2018, URL: https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-sind-die-target-salden-eine-druckerpresse-fuer-kredite/22923492.html (Letzter Abruf: 29.1.2019).

Deutsche Bundesbank (2020), TARGET2-Saldo, URL: https://www.bundesbank.de/de/aufgaben/unbarer-zahlungsverkehr/target2/target2-saldo/target2-saldo-603478 (Letzter Abruf: 5.5.2020).

Eisenschmidt, J., et al. (2017): Eisenschmidt, J./Kedan, D./Schmitz, M./Adalid, R./Papsdorf, P.: The Eurosystem's asset purchase programme and TARGET balances, in: European Central Bank Occasional Paper Series No. 196, September 2017.

European Central Bank, Statistical Data Warehouse, TARGET Balances, Status 1.6.2020, URL: http://sdw.ecb.europa.eu/reports.do?node=1000004859 (Letzter Abruf: 12.6.2020).

Franz, C./Fratzscher, M. (2018): Wie man aus einer Mücke einen Elefanten macht: Wieso das Target-System ein Anker der Stabilität für Deutschland und Europa ist, in: DIW aktuell No. 15, 3.8.2018.

Fratzscher, M. (2018): Das Target-System ist für Deutschland und Europa ein Anker der Stabilität, in: Handelsblatt-Online, 2.8.2018, URL: https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-das-target-system-ist-fuer-deutschland-und-europa-ein-anker-der-stabilitaet/22870816.html (Letzter Abruf: 29.1.2019).

Hellwig, M. (2018a): Unberechtigte Panik: Wider die deutsche Target-Hysterie. Frankfurter Allgemeine Zeitung-Online, 29.7.2018, URL: https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/unberechtigte-panik-vor-italien-austritt-fuer-eurowaehrung-15712671.html (Letzter Abruf: 25.2.2019).

Hellwig, M. (2018b): Target-Falle oder Empörungsfalle? In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 19(4), S. 345-382.

Kuhn, B./Hüfner, K. (2020): TARGET2: Arbeitsweise, Konfliktpunkte und Reformvorschläge, in: WiSt (Wirtschaftswissenschaftliches Studium) 49(4), S. 30-35.

Lambert, C./König, P./Fratzscher, M. (2013): Target-Salden: Ein Anker der Stabilität, in: DIW Wochenbericht Nr. 44, Vol. 80 (30.10.2013), S. 19-28.

Sinn, H.-W. (2012): Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, 3. Aufl., München 2012. Sinn, H.-W. (2018): Fast 1 000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter? In: ifo Schnelldienst Nr. 14, 71. Jg. (26.7.2018), S. 26-37.

Sinn, H.-W. (2019): Der Streit um die Targetsalden, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 20(3), S. 170-217. Sinn, H.-W./Wollmershäuser, T. (2011): Target-Kredite, Leistungsbilanzsalden und Kapitalverkehr: Der Rettungsschirm der EZB, in: Ifo Working Paper No. 105, 24.6.2011.

Fußnoten

1) Hellwig (2018b); Sinn (2019).

2) Deutsche Bundesbank (2020).

3) Ausführliche Buchungsbeispiele in Kuhn/Hüfner (2020), S. 30-32.

4) Sinn (2012), S. 167 ff., 177 ff. und 201; Sinn (2018), S. 27 ff.; Sinn/Wollmershäuser (2011), S. 11 und 15.

5) Fratzscher (2018); Franz/Fratzscher (2018), S. 2 ff.; Lambert/König/Fratzscher (2013), S. 20 ff.; Eisenschmidt et al. (2017), S. 21 f.; Bofinger (2018).

6) Siehe oben Fußnote 5.

7) Berger (2018); Hellwig (2018a); Fratzscher (2018); Lambert/König/Fratzscher (2013), S. 22 ff.

8) Lambert/König/Fratzscher, (2013), S. 19 f.; Bofinger (2018).

9) Sinn (2018), S. 34 f.

10) Sinn (2018), S. 36; Sinn (2012), S. 362 ff.

11) Fratzscher (2018); Lambert/König/Fratzscher (2013), S. 25 ff.

Prof. Britta Kuhn VWL und International Economics, Hochschule RheinMain, Wiesbaden
Prof. Britta Kuhn , VWL und International Economics, Hochschule RheinMain, Wiesbaden

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