Wirksamkeit versus Schädlichkeit von Wirtschaftssanktionen - ihre Bedeutung im Ukrainekrieg

Michael Altenburg, Foto: Studio Ecker

Der internationale Gerichtshof hat den Angriffskrieg Putins in der Ukraine für Unrecht erklärt. Daher haben die EU, die USA und eine Reihe weiterer Länder gegen Russland, russische Banken und dem Regime nahestehende Personen intensive Sanktionen beschlossen. Der Autor sieht jedoch die Gefahr, dass darunter vor allem auch das westliche Finanzsystem zu leiden haben werde. Als Beispiel führt Altenburg den Vermögensverwalter Blackrock an, der seine Wertpapierbestände in Russland nahezu vollständig abschreiben musste. Die dadurch ausgelösten Volatilitätsexplosionen an den Rohstoffmärkten hätten auch schon zu Hilferufen der größten europäischen Rohstoffhändler geführt. Weiterhin führt der Autor historische Beispiele auf, die belegen sollen, dass Sanktionen durchaus effektiv seien, aber auch die Seite beschädigen, von der sie ausgehen. Er fordert, dass die EU ihr Vorgehen weiter mit den USA abstimmt und lehnt eine strategische Autonomie Europas, wie sie in Frankreich gefordert würde, ab. (Red.)

Die russische Invasion der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 hat neue Fakten geschaffen, für deren abschließende Bewertung die Zeit noch nicht gekommen ist. Der internationale Gerichtshof in Den Haag hat am 16. März 2022 mit einer Mehrheit von 13 gegen 2 Stimmen seiner Richter entschieden, dass die von Russland für den Überfall vorgetragene Rechtfertigung eines Genozids von Minderheiten in der Ukraine in keiner Weise belegt werden könne und daher weitere militärische Aktivitäten der russischen Streitkräfte auf ukrainischem Territorium sofort einzustellen seien. Aber die Kampfhandlungen dauern unvermindert an mit hohen Opfern unter der ukrainischen Zivilbevölkerung und einem Flüchtlingsstrom in die westlich gelegenen Nachbarländer, vor allem nach Polen, von inzwischen über drei Millionen, vor allem Frauen und Kinder, während die Männer überwiegend bleiben, um die regulären Streitkräfte bei der Verteidigung der Ukraine zu unterstützen.

Eine Kriegserklärung hat Russland nicht ausgesprochen. Die bislang eindrucksvoll effektive ukrainische Verteidigung gegen die russische Aggression scheint sich auch stark der patriotischen Unterstützung durch Personen ohne Kombattantenstatus zu verdanken. Die NATO, deren Mitgliedschaft in der ukrainischen Verfassung als Zielsetzung verankert ist, hat sich jedoch ukrainischen Bitten um militärische Intervention nachhaltig verweigert, um das Risiko einer nuklearen Eskalation möglichst abzuwenden. NATO- Mitgliedsländer liefern stattdessen Munition, Gerät und vor allem Panzer- und Flugabwehrwaffen in die Ukraine.

Darüber hinaus haben die EU, die USA, Großbritannien, Norwegen, Kanada, Australien, Schweiz und die Türkei sowie - in Ostasien - Japan, Taiwan und Südkorea gegen das Land Russland, gegen russische Banken und gegen solche das Regime von Wladimir Putin unterstützende beziehungsweise ihm nahestehende Personen Wirtschaftssanktionen beschlossen,1) deren Schwere das russische Finanzsystem, das russische Wirtschaftssystem und die russische Bevölkerung existenziell beschädigen müssen.2)

Aufgrund der heutigen Interdependenz internationaler Wertschöpfungsketten, der Lieferbeziehungen und vor allem der Abhängigkeit des Westens von russischem Gas und Öl sind auch schwere Beschädigungen des westlichen Finanzsystems, der westlichen Volkswirtschaften und hohe Entbehrungen der letztlich betroffenen Bevölkerungen zu erwarten, auch in Ländern, die sich den Sanktionen nicht angeschlossen haben, namentlich in den Volkswirtschaften der Entwicklungsländer.

Die negativen Auswirkungen könnten also heftiger sein als die der Belastungen durch Covid-19 oder die der Weltfinanzkrise von 2008/09. Dabei handelt es sich "nicht einmal" um einen offiziellen Krieg, sondern um den heroischen Überlebenskampf eines Landes, dessen Existenzrecht von einem externen Aggressor ignoriert und infrage gestellt wird.

Sanktionen gegen Russland beginnen zu greifen

Die Empörung weiter westlicher Bevölkerungskreise hierüber ist enorm und geht einher mit großer Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen. Das erinnert entfernt an die syrische Flüchtlingskrise von 1915, als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zunächst verkündete "Wir schaffen das!" Schon jetzt werden Stimmen laut, welche die pauschale Vorzugsbehandlung der ukrainischen Flüchtlinge gegenüber Migranten aus Afrika, dem Nahen Osten oder Asien infrage stellen. Es stellt sich weiter die Frage, wie lange der zivile Enthusiasmus anhalten kann und wann dieser unter der Erfahrung eigener sanktionsbedingter Belastungen und Entbehrungen in sein Gegenteil umkippen wird.

Verhandlungen werden zwar geführt, und die Ukraine hat Russland einen Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft bei äquivalenten Sicherheitsgarantien angeboten. Aber die russischen Angriffe werden mit gesteigerter Intensität fortgesetzt.

Gleichzeitig beginnen die Sanktionen zu greifen. Zinszahlungen über 117 Millionen US-Dollar auf zwei russische, überwiegend im Ausland platzierte Staatsanleihen waren per Mittwoch, den 16. März 2022, an die Zahlstelle Citicorp/London fällig, aber nicht eingegangen. Finanzminister Anton Siluanov hatte am vorangegangenen Montag erklärt, dass die entsprechende Zahlungsanweisung erfolgt sei, er aber nicht ausschließen könne, dass deren Umsetzung durch die Sanktionen blockiert worden sei - obwohl Zinsdienst auf Anleihen von den auferlegten Sanktionen explizit bis zum 25. Mai 2022 ausgenommen wurde.

Eine alternative Bedienung in Rubel statt in US-Dollar wurde bei einigen russischen Auslandsanleihen zugestanden, aber in den Anleihebedingungen der beiden zum Zinsdienst am 16. März 2022 fälligen nicht. Minister Siluanov sprach bereits am Montag von einem mutwillig herbeigeführten Verzugsfall.3)

Am Donnerstag, den 17. März 2022, bestätigte allerdings JPMorgan, die als Korrespondenzbank die Zahlungsanweisung vom russischen Finanzministerium entgegengenommen hatte, dass die Zahlung der 117 Millionen US-Dollar an die Zahlstelle Citicorp weitergeleitet worden sei, nachdem man sich dies von der US Treasury noch einmal ausdrücklich habe genehmigen lassen.4) Die Kapitalmärkte reagierten aus Erleichterung hierüber mit kräftigen Kurserholungen, deren Bestand aber ungewiss ist, da eine weitere Verschärfung der Sanktionen schon vor dem 25. Mai 2022 wahrscheinlich scheint.

Schrei nach Hilfe der Rohstoffhändler

Auch im Westen sind bereits substanzielle Einbußen und zunehmende Unsicherheit zu konstatieren: Vom weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock verlautete am 11. März 2022, dass auf russische Wertpapierbestände in Höhe von 18,2 Milliarden US-Dollar per Ende Januar Wertberichtigungen in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar vorgenommen wurden.5) Ähnliche Meldungen kamen von Pimco und anderen großen Akteuren in der internationalen Vermögensverwaltung.

Die seit der Ukraine-Invasion extrem gestiegene Preisvolatilität im Handel mit Gas, Öl und anderen Rohstoffen veranlasste kürzlich die Vereinigung der größten europäischen Händler6) wie BP, Shell, Vitol, Trafigura und Glencore zu einem Ruf um finanzielle Nothilfe an die EZB, die Bank von England und die Europäische Investitionsbank zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen infolge unabsehbar gestiegener Nachschussverpflichtungen bei Kreditsicherungsmitteln.7) Da es sich hierbei nicht um kleine, sondern große, robuste Firmen handelt, kann man vermuten, dass die Nöte bei den Kleineren noch größer sind.

Die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Hervorzuheben ist, dass ihre Brisanz noch nicht im Bewusstsein der breiteren Bevölkerung angekommen ist, die sich emotional angesprochen zu fühlen scheint, wenn dem ukrainischen Präsident Selenskyj online Gelegenheit eingeräumt wird, dem US Kongress und einen Tag später den Deutschen Bundestag wegen mangelnder Unterstützung Vorwürfe zu machen.

Einschlägige Lektionen

Man kann verstehen, dass der medial talentierte ukrainische Präsident in seiner Not alle Register zu ziehen versucht. Andererseits steht die Welt angesichts der Paranoia von Putin weiterhin an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg, sodass man eher über Deeskalationsstrategien nachdenken sollte, anstatt sich weiter in eine Polarisierung hineinzusteigern, welche durch die Sanktionen faktisch mitverursacht wurde.

Wie kommt man aus dieser gefährlich emotional aufgeladenen Lage wieder glimpflich heraus? Die Geschichte der Wirtschaftssanktionen enthält einschlägige Lektionen. Dass diese uns nicht mehr voll bewusst sind, liegt vermutlich daran, dass wir seit über siebzig Jahren keinen großen Krieg mehr in Europa hatten.

Gerade Deutschland hat Wirtschaftssanktionen während wie nach dem Ersten Weltkrieg empfindlich zu spüren bekommen, was aber dessen Ende nicht beschleunigt hat. Ebenso wenig haben die Embargos des Völkerbundes 1935/36 Mussolini von seinem Überfall auf Äthiopien abhalten können. Mussolinis Kalkül war, vielleicht ähnlich wie das von Putin 2022, sich mit seinem Einmarsch so zu beeilen, dass er ihn vollendet hätte, ehe die Wirtschaftssanktionen voll wirksam würden. Das ist ihm dann auch trotz heftiger Gegenwehr der Äthiopier durch den völkerrechtswidrigen Einsatz von Giftgas gelungen, aber hat Italien für Jahre danach wirtschaftlich nachhaltig paralysiert, was den Aufstieg des Faschismus in Italien aber eher bestärkt statt geschwächt hat.

Auch der Aufstieg des Nationalsozialismus hat psychologisch nicht wenig mit der Missachtung der lähmenden Auflagen des Versailler Friedens zu tun, welche im weiteren Verlauf auch zu Hitlers Gier auf Sicherung der Kornkammer Ukraine beigetragen haben, um einem Aushungern durch Sanktionen zuvorzukommen. Selbst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Sanktionen durch den Bombenkrieg der Alliierten auf die deutsche Zivilbevölkerung verstärkt wurden, blieb der Wehrwille, zusätzlich aufgepeitscht durch die Reden von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, weitgehend ungebrochen. Zum größten Erstaunen der Alliierten trafen diese bis in die letzten Kriegstage auf erbitterten Widerstand des Volkssturms und des fanatisierten, oft nicht einmal volljährigen "letzten Aufgebotes."

Anhaltende Beliebtheit von Wirtschaftssanktionen

Wirtschaftssanktionen sind also durchaus effektiv, aber offensichtlich beschädigen sie auch die Seite, von der sie ausgehen. Und sie erzeugen überproportionalen sozialpsychologischen Gegendruck bei der Seite, die verunsichert und geschwächt werden sollte.

Das gilt vor allem für den Paranoiker Putin, der alle denkbaren Manipulationsmechanismen der staatlichen russischen Medien nutzt, während eine unabhängige Berichterstattung inzwischen total unterdrückt wurde und Zuwiderhandlungen mit mehrjährigen Gefängnisstrafen bedroht sind. Dadurch wurde die eigentlich so empfindsame russische Seele abgestumpft und verroht, die wir doch von Tolstoi, Pushkin und Tschaikowsky her kennen und lieben, der aber jahrelang ein von Hass und Lüge verzerrtes Bild des Westens eingeimpft wurde.

Die anhaltende Beliebtheit von Wirtschaftssanktionen trotz ihrer offensichtlichen Schädlichkeit hat viel mit der Leichtigkeit zu tun, mit der eine Exekutive sie im Handumdrehen anordnen kann, ohne sich groß mit parlamentarischen Hürden wie bei einer regulären Kriegserklärung aufhalten zu müssen. Aber ihre negative Seite wirkt lange Zeit nach, wie sich an der Unbeliebtheit der USA nicht nur in der Dritten Welt zeigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg selbstgerecht und ohne Not in Konflikte auf fernen Kontinenten intervenierten und dadurch viel Elend verursachten und wachsendes Ressentiments züchteten.

Der jetzige Präsident der Vereinigten Staaten ist ein erfahrener, balancierter Mann, der nicht den Weg der Besserwisserei und Bevormundung weitergeht, sondern seine Verantwortung als Führer der - noch - weltweit mächtigsten Nation im Geist disziplinierter, kooperativer Zusammenarbeit wahrzunehmen versucht, dabei allerdings bisweilen Zugeständnisse an heimische Wählerstimmungen zu machen gezwungen ist. Es bleibt zu hoffen, dass die ungeheuerlichen von Wladimir Putin verbreiteten Lügen und die von ihm angeordneten Kriegsverbrechen diesen auch innerhalb Russlands möglichst bald einholen und zu einem friedlichen Einlenken zwingen. Das wären die besten Aussichten für ein im Moment eher unwahrscheinliches Obsiegen von Joe Biden bei den Midterm Elections im November dieses Jahres.

Abgestimmtes Vorgehen zwischen Europa und USA nötig

Europa gibt in diesem größeren Rahmen bislang eher ein schwaches Bild ab. Die Europäische Union hat sich bei den antirussischen Sanktionen stark profiliert, und vor allem Deutschland muss dafür nun die Zeche zahlen, wenn es tatsächlich noch zum totalen Stopp russischer Gas- und Öllieferungen kommen wird. Das späte und dafür umso plötzlichere Erwachen für ein eigenes, deutlich stärkeres europäisches Engagement im Sicherheitsbereich ist dagegen eine erfreulich realistische Folge des Ukrainekrieges.

Angesichts der bleibenden Herausforderungen durch Russland und vor allem auch China ist ein anhaltend eng abgestimmtes Vorgehen zwischen Europa und den USA auch in den wichtigen Innovationsfeldern wie der Digitalisierung und deren konsequent freiheitlicher Governance unverzichtbar. Eine strategische Autonomie Europas, wie sie etwa französischen Politikern vorzuschweben scheint, passt nicht in unsere globalisierte Welt, deren Offenheit und Effizienz gegenwärtig durch den Vormarsch von autokratischen Regimen stärker gefährdet ist als seit vielen Jahren. Dabei geht es weniger um das absehbar demografisch absteigende Europa, als um die Zukunft, also um die Gewinnung der jungen Herzen und Hirne der aufstrebenden Volkswirtschaften der Dritten Welt. Eine schlechte Mischung von Protektionismus und nationalistischen Sonderwegen passt auch nicht zur entschiedenen Bekämpfung von Klimawandel und pandemischen Eventualitäten, an denen unser Planet zugrunde gehen könnte, wenn kein friedlicher Weg aus dem jetzigen Ukraine krieg gelingt.

Fußnoten

1) https://www.piie.com/blogs/realtime-economic-issues-watch/russias-war-ukraine-sanctions-timeline

2) So auch Martin Sandbu in der FT: Economic impact of war in Ukraine could go from bad to worse; https://www.ft.com/content/9a7ab033-8569-4877-b543-7ab0db19654a

3) FT Artikel vom 15.März: What to expect as Russia warns of historic debt default; https://www.ft.com/ content/9ed033f2-eaa4-4cce-974d-78592a3075af

4) Russia edges closer to averting default as JPMorgan processes bond payment: https://www.ft.com/ content/4419e072-ae44-4791-98c5-ef840c650ace

5) BlackRock funds hit by US$ 17 bn in losses on Russian exposure: https://www.ft.com/content/e796 7c06-77f3-45f6-9bf5-f141f899dba5

6) EFET/European Federation of Energy Traders

7) Energy traders call for "emergency" central bank intervention: https://www.ft.com/content/6cdc4859-db8c-4137-8436-2a10cb50f579?emailId=6231f1ba6ea9b600049410bd&segmentId=3d08be62-315f-7330-5bbd-af33dc531acb

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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