Versicherungen

Fatale Folgen der EZB-Politik

Prof. Dr. Dirk Meyer, Institut für Volkswirtschaftslehre,
Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg
Foto: HSU (Schröder)

Die Niedrigzinsphase trifft die Versicherungsbranche mit voller Wucht. Drei Indikatoren zeigen die Auswirkungen der Geldpolitik der europäischen Zentralbanken. Erstens: Der Garantiezins (korrekt: Höchstrechnungszins) sank zwischen dem Jahr 2000 und 2015 von 4,0 auf 1,25 Prozent. Seit 2017 beträgt er nur noch 0,90 Prozent, eine weitere Absenkung auf 0,25 Prozent ab 2022 ist bereits beschlossen. Zum zweiten sank der Rohüberschuss der Lebensversicherer. Während dieser Überschuss im Fünfjahreszeitraum 2009 bis 2014 noch durchschnittlich 15,7 Prozent der Prämieneinnahmen ausmachte, sank er von 2015 bis 2019 auf 12,2 Prozent. Drittens schließlich: Da bei grober Schätzung im Mittel 80 Prozent der Lebensversicherungsverträge mit Garantiezinsen von 2,25 Prozent und mehr ausgestattet sind, wurden die Versicherer zum Schutz der Altkunden - und zulasten der Neukunden - 2011 zum Aufbau einer jährlich neu zu berechnenden sogenannten Zinszusatzreserve verpflichtet. Aufgrund der sinkenden Marktverzinsung der Anlagen stieg diese von 1,5 Milliarden Euro 2011 über 31,6 Milliarden Euro 2015 auf 87 Milliarden Euro im vergangenen Jahr.

Doch damit nicht genug. In einer bislang unveröffentlichten Studie hat die Deutsche Aktuarvereinigung e.V. (DAV) die Kosten der Niedrigzinspolitik der EZB für die Versicherungswirtschaft im Zeitraum 2015 bis 2019 einmal detailliert berechnet. Angenommen wird ein Zinssenkungseffekt durch die EZB-Anleihekaufprogramme von 1,0 Prozentpunkten. Aus den jährlichen Neuanlagen der Versicherer ab 2015 stehen bei einer Laufzeit von 10 Jahren deshalb bereits jetzt konkrete Verluste fest. Je nach Sparte betragen sie für die Lebensversicherer 61,5 Milliarden Euro, die privaten Krankenversicherungsunternehmen 12,9 Milliarden Euro sowie für die Pensionskassen, Pensionsfonds, Versorgungswerke und Zusatzversorgungskassen der betrieblichen Altersversorgung insgesamt 24 Milliarden Euro. Es entstanden in diesen fünf Jahren Zinsmindereinnahmen in Höhe von knapp 100 Milliarden Euro - und ein Ende ist nicht abzusehen.

Zugleich hat die EZB-Politik des "kostenlosen Kredits" Auswirkungen auf die Zinszusatzreserve, denn ein reduzierter Referenzzins macht bei gleichbleibenden vertraglichen Leistungszusagen eine höhere Sicherheitszuführung notwendig. Die DAV ermittelt eine Differenz der für 2019 getätigten Zuführung von tatsächlichen 75,6 Milliarden Euro und dem ohne den EZB-Zinseffekt sich ergebenden Betrag von lediglich 55,6 Milliarden Euro Zusatzkosten in Höhe von 20 Milliarden Euro.

Diese Niedrigzinskosten zahlen langfristig die Kunden, deren Vorsorge beziehungsweise Versorgung im Alter teils erheblich teurer wird. Da die kalkulierten Versicherungsprämien konstant bleiben sollen, die Leistungen beispielsweise der Krankenversicherung oder einer Risikolebensversicherung mit dem Alter aber steigen, müssen Altersrückstellungen aus dem Prämienaufkommen gebildet werden, die dann am Kapitalmarkt angelegt werden. Durch die nur geringe Verzinsung der Anlagen muss die Basis dieser Altersrückstellung entsprechend hoch ausfallen, was ein höheres Prämienniveau zur Folge hat. Gemäß der DAV-Studie beträgt der Prämienanstieg eines Dreißigjährigen in der Zeit bis zu seinem 67. Lebensjahr für eine Krankenvollversicherung zirka 8 Prozent, für eine Risikolebensversicherung etwa 9 Prozent, für eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung zirka 12 Prozent und für eine Pflegeversicherung sogar rund 34 Prozent. Dieser Prämienanstieg ist quasi leistungslos, denn ihm steht kein Zusatznutzen gegenüber.

Neben Beitragssteigerungen reagieren die Versicherer mit einem Anstieg des risikobehafteten Anlagebestandes an Wertpapieren, um die Renditefähigkeit ihrer Deckungsstöcke aufrechtzuerhalten. Lag zur Jahrtausendwende der risikolose Zins einer 10-jährigen Bundesanleihe noch bei 5,5 Prozent jährlich, so ist er aktuell auf minus 0,4 Prozent gefallen. Beitragsgarantien von 100 Prozent sind mit solchen Investments nicht mehr möglich. Entsprechend müssen die Versicherer das Garantieniveau absenken und den Negativzins sicherer Anleihen durch risikoreichere Anlagen wie Immobilien, Infrastruktur und Finanzierungen für private institutionelle Investoren ausgleichen, um eine positive Rendite für den Versicherungsnehmer zu erzielen. So bestanden die Kapitalanlagen der Lebensversicherungen 2019 zu 82,9 Prozent aus Rentenpapieren, zu 11,8 Prozent aus Aktien und Beteiligungen und zu 3,6 Prozent aus Immobilien. Trotzdem sank die Nettoverzinsung von 4,5 Prozent im Jahr 2015 auf 3,9 Prozent im Jahr 2019.

Sinkende Anlageerträge der Versicherungen, die Notwendigkeit höherer Rückstellungen für Altverträge zulasten der Neukunden, riskantere Kapitalanlagen und eine abnehmende Solvabilität der Versicherer einerseits, höhere Prämien beziehungsweise geringere Leistungszusagen an die Versicherten andererseits machen die Eigenvorsorge zunehmend unattraktiv, gefährden die Vorsorge und die Finanzstabilität der Unternehmen. Haben das Bundesverfassungsgericht, Bundesregierung und Bundestag bei ihrer Prüfung der Verhältnismäßigkeit des EZB-Anleihekaufprogramms PSPP diese volkswirtschaftlich wichtige Branche übersehen?

Prof. Dr. Dirk Meyer , Institut für Volkswirtschaftslehre , Helmut-Schmidt-Universität
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