Nach dem Brexit

Neue Regierung im UK als erste Folge

Im Vordergrund steht noch immer der Schock, dass die Briten tatsächlich am 23. Juni 2016 mit einer allerdings nur relativ knappen Mehrheit für ein Ausscheiden aus der EU gestimmt haben. Das Ergebnis widerlegte schlagartig allzu abstrakte Annahmen zu demoskopischer Treffsicherheit wie zur Antizipationsfähigkeit der Finanzmärkte.

Die Geschwindigkeit der hierauf folgenden Regierungsumbildung war das zweite Überraschungsergebnis. Bereits drei Wochen nach dem Votum folgte die bisherige Innenministerin Theresa May auf David Cameron als Prime Minister. Neuwahlen waren entbehrlich, da die Tories 330 der 650 Unterhaussitze kontrollieren, die Nachfolge also unter sich ausmachen konnten. Die Schärfe der hierzu öffentlich geführten Auseinandersetzungen machte deutlich, wie tief die Frage des Brexit nicht nur die Tories, sondern auch die Labour-Partei, ja das ganze Land gespalten hat. Verblüffenderweise blieben aber bei dem recht wüsten Gerangel die drei Hauptanführer der Leave-Kampagne bei den Tories, erst Boris Johnson, dann Michael Gove und per 11. Juli auch Andrea Leadsome, einer nach dem anderen auf der Strecke.

Die Tory MPs entschlossen sich daher in Ansehung des erst im September 2015 erteilten Regierungsmandats auch zum Verzicht auf eine Befragung aller Parteimitglieder und stellten sich hinter Theresa May als neue Chefin der Tory-Partei. Sie wurde danach, britischen Usancen entsprechend, von der Königin als Nachfolgerin von Cameron nur noch formell bestätigt. Theresa May war - wenn auch nur skeptische - Vertreterin der Remain-Kampagne, aber gilt als Hardliner in Sachen Personenfreizügigkeit und zugleich erfahrene und in Brüssel gut vernetzte EU-Unterhändlerin. In ihrer ersten Erklärung nach der Wahl zur Parteichefin kündigte sie an, Brexit zu einem Erfolg für das UK zu machen und alsbald den Austrittsartikel 50 des EU-Vertrages anzurufen. Trotz der Ruppigkeit des Regierungsumbildungsprozesses wurde damit zügig ein besten parlamentarischen Traditionen genügendes Ergebnis unter Aufrechterhaltung souveräner Entscheidungsfähigkeit erzielt.

Weniger klar überblickbar ist bisher die zu erwartende Reaktion der EU selbst, welcher das britische Wählervotum eine Abfuhr erteilt hat. Diejenigen Instanzen dort, die sich besonders angesprochen fühlten, haben das durch ihre Reaktionen deutlich gemacht. Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, versicherte zwar seinen Respekt vor der Souveränität des britischen Wählerwillens, aber meinte - obwohl das keineswegs in seine Kompetenzen fällt - dass es keine Nachverhandlungen geben werde. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, in dessen Primärkompetenz allfällige Nachverhandlungen ebenso wenig fallen, rückte den Brexit rhetorisch gleichfalls in die Nähe eines möglichst baldigen Rausschmisses mit Strafcharakter, offenbar um etwaige Imitatoren vorzuwarnen und abzuschrecken.

Dagegen mahnte Bundeskanzlerin Merkel zu Geduld und Besonnenheit und erteilte lediglich britischen Versuchen von Rosinenpickerei eine vorsorgliche Absage. Das hat aber andere deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter wie weitere europäische Regierungschefs und Politiker keineswegs davon abgehalten, ihrerseits Schnellschüsse abzugeben. Von Tag zu Tag erweist sich immer deutlicher, dass die Meinungsverschiedenheiten in den 27 verbleibenden Mitgliedsländern der EU zu deren Zukunft und Governance mindestens ebenso heftig und scharf sind wie im UK. Schon deswegen könnte sich der Brexit in der EU zu einer größeren Krise ausweiten als im UK.

Auf den Finanzmärkten reagierten das englische Pfund, offene britische Grundstücksfonds und europäische Bankaktien auf das Brexit-Votum zunächst besonders negativ. Sterling stürzte auf einen über 30-jährigen Tiefstand gegenüber dem Dollar. Der Negativtrend bei Bankaktien wurde neben den Unsicherheiten zur Zukunft des Finanzplatzes London (Anwendbarkeit von MiFID 2 oder nicht?) verstärkt durch Ankündigungen der italienischen Regierung zur Behebung der dortigen Bankenkrise auf nicht EU-konformen Wegen. Eindeutige Langfristtrends sind aber noch nicht auszumachen, was für anhaltend hohe Volatilität auf den Aktienmärkten spricht.

Der vom türkischen Harvard-Ökonom Dani Rodrik 2011 treffend formulierte Zielkonflikt von Globalisierung, Souveränität und Demokratie wird im Brexit unabweisbar manifest. Der Brexit verweist außerdem darauf, dass es nicht nur um das Austarieren legitimer Interessen innerhalb Europas geht. Die in Zukunft zu bewältigenden internationalen Abstimmungen haben zunehmend globalen Charakter. Nicht zuletzt auf der sicherheitspolitischen Ebene wie etwa der NATO bleibt das fortgesetzte Zusammenwirken von EU und Großbritannien unverzichtbar. Angesichts der Veränderungsbeschleunigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse weltweit kann auf die Herausforderung einer angemessenen Anpassung an diese Veränderungen nicht lediglich technokratisch/bürokratisch reagiert werden.

Die jeweils für erforderlich gehaltenen, oft unbequemen Anpassungen müssen von den politisch Verantwortlichen in ihren Auswirkungen transparenter ausbuchstabiert werden. Nur kompetente Regierungsarbeit mit überzeugenden Lösungen bei gleichzeitiger demokratischer Überprüf- und Korrigierbarkeit kann den politischen Prozess wirksam gegen populistische Destabilisierung immunisieren. Wenn das nicht gelingt, wird das Repräsentativprinzip des parlamentarischen Systems durch basisdemokratische Attacken lahmgelegt.

Die Heftigkeit der ja nicht auf Großbritannien beschränkten Diskussion hierzu beleuchtet, wie stark in den letzten Jahren soziale und regional abweichende Belange unter die Räder gekommen sind. Mit der Wahl von Theresa May könnte die Wahrscheinlichkeit einer sich dem Rest der Welt gegenüber durch "ever closer union" trotzig abschottenden EU gestiegen sein. Das größte Risiko besteht nun daher weniger im Timing oder den Details des britischen Ausscheidens aus der EU, sondern in einem Verlust konstruktiver Kommunikations- und Kompromissbereitschaft innerhalb der Rest-EU und ihren Mitgliedsländern und daraus resultierender Handlungsunfähigkeit und fortgesetzter Fragmentierung.

Michael Altenburg, Luzern

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
Noch keine Bewertungen vorhanden


X