Börsen

Panik vor den Toren der Stadt

Der Begriff Torschlusspanik bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch die Angst, altersbedingt keinen Partner mehr zu finden. Die ursprüngliche Bedeutung geht auf das Mittelalter zurück. Wenn die Stadttore am Abend geschlossen wurden und man war als Bürger noch unterwegs, musste man vor den Toren der Stadt übernachten und war Räubern und wilden Tieren schutzlos ausgeliefert. Im übertragenen Sinn also die Angst, eine wichtige Angelegenheit nicht mehr oder zu spät erledigen zu können. Ein wenig erinnert das aktuelle Verhalten der Börsenbetreiber an die historische Bedeutung des Wortes. Da es naturgemäß nur eine begrenzte Zahl von bedeutenden Börsen gibt und schon eine Reihe von Fusionen stattfand, herrscht offenbar nackte Panik bei der Suche nach zukaufbaren Skaleneffekten. Objekt der Begierde diesmal: die spanische Börse.

Doch zunächst von vorn. Der Übernahmewahn grassiert schon eine ganze Weile in Europas Börsenlandschaft. Die Euronext übernimmt Irland, dann Norwegen und sticht dabei die Nasdaq aus. Die Deutsche Börse will die Börse London. Scheitert damit aber. Die Börse London will Refinitiv kaufen. Die Hongkong Stock Exchange wollte dann die Börse London, die dafür aber den Refinitiv-Happen wieder ausspucken sollte. Daraus wurde jedoch nichts. Nun streckt die Euronext die Fühler nach Spanien aus. Doch plötzlich taucht nahezu gleichzeitig aus dem Hintergrund unerwartet der "edle Ritter", die Schweizer Börse SIX, auf und will der Euronext die spanische Börse wegschnappen. Während die Euronext noch prüft, haben die Schweizer schon ein konkretes, großzügiges Angebot gemacht (Details zu den Zahlen siehe Bankenchronik auf Seite 8). Einen Tag später geisterten die Gerüchte durch den Äther, dass auch noch die Deutsche Börse und der von den Londonern verschmähte Börsenbetreiber Hongkong Stock Exchange an den Spaniern interessiert sein sollen.

Die Frage, ob es der SIX tatsächlich nur um Skaleneffekte und neue Märkte geht, drängt sich bei dieser Konstellation natürlich sofort auf. Immer noch schwelt der sogenannte Äquivalenzstreit zwischen der Schweiz und der EU. Die EU weigert sich bislang, die Äquivalenz der Schweizer Börsen anzuerkennen, zumindest so lange, bis die Schweiz ein übergeordnetes bilaterales Gesamtabkommen unterschreibt. Die Vermutung ist zumindest nicht abwegig, dass die SIX mit dem Kauf eines EU-Börsenbetreibers einen Fuß in die Tür des EU-Marktes bekommen möchte. Auf Nachfrage weist die SIX jedoch diese Vermutung vehement von sich. Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage interessant, wie die EU-Regulatoren auf den Übernahmeversuch reagieren werden.

Tatsache ist jedoch, dass die SIX mit der Übernahme an Bedeutung gewinnen würde. Gemessen am Umsatz würde SIX/BME die Milliarden-Euro-Grenze recht deutlich überschreiten und sich hinter London und der Deutschen Börse in Europa auf Rang 3 einreihen. Das könnte erklären, warum plötzlich auch die Deutsche Börse dem Vernehmen nach an der BME interessiert ist. Konkurrenz auf Abstand halten ist auch ein Argument für Übernahmen.

Nun ist die Angst da, dass die Tore ein weiteres Mal geschlossen werden und bis auf eine Börse alle anderen das Nachsehen haben. Es warten dann wilde hungrige Tiere da draußen - sie selbst. Das Streben nach Größe ist nicht nur die Suche nach Skaleneffekten, es ist auch die Sorge, selbst zum Futter eines anderen Börsenbetreibers mit Torschlusspanik zu werden. Und mit jedem weiteren unabhängigen Anbieter, der vor den "wilden Tieren" geschluckt werden wird, wird die Torschlusspanik größer werden. Bei der Vielzahl der Kombattanten im Hauen und Stechen, wird es spannend zu sehen, wer es noch vor Einbruch der Dunkelheit hinter die sicheren Tore schafft. Der Schweizer "Ritter" dürfte Stand jetzt dabei die besten Chancen haben, alleine da er der schnellste war und sich dabei auch großzügig zeigte.

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