Redaktionsgespräch mit Robert Ertl und Andreas Schmidt

"Der Begriff Regionalbörse ist überholt"

Dr. Robert Ertl, Foto: BBAG (Freund)

Nicht nur in der Bankenlandschaft, auch bei den Börsen ist Deutschland ein dezentral organisiertes Land. Mehrere Börsenplätze existieren hier nebeneinander und experimentieren mit eigenen Geschäftsmodellen, um sich voneinander abzugrenzen. Die Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen widmet den Regionalbörsen eine Interviewserie, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Chancen und Herausforderungen für die unterschiedlichen Marktplätze zu ergründen. Im dritten Interview der Reihe sprechen Robert Ertl und Andreas Schmidt über die Börse München und deren Stellung als Tor des Mittelstands zum Kapitalmarkt. Aber nicht nur kleine und mittlere Unternehmen finden ihren Weg an die Börse über München. Mit einer europaweiten Neuheit verbucht die Börse München auch die erste Notierung einer Bildungsaktie für sich. Neben der Diskussion um SPACs, den Anlegerboom des vergangenen Jahres und Krypto-Assets zeigt die Börse München so, dass sie nicht nur die nationalen und internationalen Trends aufmerksam verfolgt, sondern sie auch setzen kann. (Red.)

Das Jahr 2020 hat bei nahezu allen Handelsplätzen, die darüber schon berichtet haben, für Rekordhandelsvolumina gesorgt. Wie sieht es bei der Börse München aus?

Robert Ertl: Auch wir konnten 2020 ein deutlich höheres Handelsvolumen an unseren beiden Börsenplätzen "Börse München" und "Gettex" verzeichnen. Um es an ein paar Zahlen deutlich zu machen: Das Ordervolumen der Börse München kletterte 2020 bei Aktien um 115 Prozent, bei Gettex waren es sogar 697 Prozent! Der Zertifikatehandel legte bei Gettex dem Volumen nach um mehr als 100 Prozent zu, die Anzahl der Trades sogar um 162 Prozent! Mehr als die Hälfte des Umsatzes von Gettex stammt dabei von Kunden neuer Marktteilnehmer, die wir 2020 angeschlossen haben.

Das Deutsche Aktieninstitut hat ja einen Anstieg der Aktionärszahlen von 2,7 Millionen für 2020 genannt, viele davon junge, gutverdienende Menschen. Insofern resultieren die höheren Volumina nicht nur aus der tatsächlich erhöhten Volatilität, sondern auch aus dem Zuwachs an neuen Aktionären.

Ist der Volatilitäts-bedingte Volumenanstieg 2020 in diesem Jahr komplett wieder verschwunden, oder beobachten Sie weiterhin erhöhte Handelsaktivität?

Robert Ertl: Tatsächlich ist dies ein Trend, der anhält - im 1. Quartal 2021 verzeichnen wir sogar noch Steigerungsraten zum sehr guten Jahr 2020; zum Beispiel ein Plus von über 400 Prozent beim Aktienumsatz auf Gettex. Denn das Umfeld aus Niedrigzinsen, hoher Liquidität, steigenden Aktionärszahlen und Indizes in Rekordhöhen hält weiterhin an und wird durch die umfassenden Konjunkturprogramme weltweit eher noch unterstützt.

Aus den Zahlen ist zu lesen, dass Gettex stürmisch wächst, während der klassische Handel darbt. Macht es noch Sinn, diesen aufrechtzuerhalten?

Robert Ertl: Tatsächlich wächst Gettex sehr viel schneller als der "klassische Handel" über die Börse München. Dies hat mehrere Gründe: "Neobroker" haben Gettex als ihren natürlichen Partner entdeckt, da Gettex aufgrund des entgeltfreien Handels ideal zum günstigen Angebot der Neobroker passt. Zusätzlich können wir uns aufgrund der Kombination von entgeltfreiem Handel und hervorragender Preisqualität in den dynamischen Best Execution Policies der Banken sehr gut positionieren. Aber auch die Börse München/Max-One entwickelt sich gut, da wir eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit mit Sparkassen, Genossenschafts- und Privatbanken haben. Berater und ihre Kunden schätzen die Vorteile der Börse München und unser umfassendes Angebot an Informationen und (Online)-Veranstaltungen. Insofern sind wir mit beiden Marktmodellen gut aufgestellt. Von Darben kann keine Rede sein!

Wie kommt Gettex beim Derivatehandel voran? Vor eineinhalb Jahren waren es nur zwei Emittenten, die mit angebunden waren. Wie viele sind es jetzt?

Robert Ertl: Aktuell stehen wir noch bei zwei Emittenten: HVB Onemarkets und HSBC Deutschland mit etwa 200 000 Zertifikaten, da bleibt kaum ein Wunsch offen. Wir sind zuversichtlich, dass sich dieses Jahr ein weiterer Emittent anschließen wird. Und natürlich bleibt die Anbindung weiterer Emittenten erklärtes Ziel. Wir definieren den Erfolg von Gettex aber nicht nur über die Zahl der Emittenten. Wir beobachten das Handelsvo lumen genau und den Anteil des Handelsvolumens unserer beiden Emittenten über die Börse Gettex.

Hier sind wir sehr zufrieden, wie die bereits genannte Steigerung der Umsätze im Zertifikatehandel zeigt. Auch hier hat unsere neu angebundene Kundschaft dazu beigetragen, dass die Zahl der Orders und die Volumina stark nach oben gingen. Und wenn man den Trend dieser Neobroker analysiert, geht der eher hin zu einer überschaubaren Anzahl von Handelsplätzen und Produkten.

Welchen Mehrwert bietet eine Notierung an einer Regionalbörse einem Unternehmen gegenüber einer Notierung an einem internationalen Handelsplatz?

Andreas Schmidt: Der Begriff Regionalbörse ist überholt. An unseren Handelsplätzen Börse München und Gettex werden 250 000 Wertpapiere aus aller Welt gehandelt. Insbesondere an Gettex sind internationale Orderflow Provider und Neobroker angeschlossen, die ganz neue Anlegerschichten erschließen. Der für die europäische Wertpapieraufsicht ESMA so wichtige "Most Relevant Market" (MRM) liegt in der Regel auch außerhalb Frankfurts. Mit unserem KMU-Segment m:access steht die Börse München für den Mittelstand. Aktuell sind dort 65 Aktiengesellschaften aus Deutschland, Österreich, Schweiz und den Niederlanden gelistet. Sie haben eine Marktkapitalisierung von insgesamt über 17 Milliarden und über 30 000 Beschäftigte. Der m:access All Share Index hat im vergangenen Jahr mit 10,39 Prozent Plus den DAX, der nur 3,55 Prozent Plus erzielen konnte, deutlich übertroffen. m:access-Unternehmen schätzen einfache Regeln und die unbürokratische Unterstützung durch die Börse. Wir veranstalten für sie allein in diesem Jahr wieder neun Investorenkonferenzen, digital oder persönlich.

Die Unternehmen, gerade auch im Mittelstand, haben sich im Zuge der Corona-Krise vorsorglich mit Kapital vollgesaugt, vornehmlich mit Fremdkapital. Haben Sie in Ihrem Mittelstandssegment m:access eine erhöhte Primärmarkt-Aktivität zur Kapitalaufnahme festgestellt?

Andreas Schmidt: Definitiv. Im Vordergrund steht aber bei m:access-Emittenten eher das Eigenkapital. Der Kapitalmarkt hat sich für sie gerade auch in der Krise als stetige Quelle der Unternehmensfinanzierung bewährt. Die Zahl der Kapitalerhöhungen hat sich verdoppelt, das Volumen fast verdreifacht. Gab es in m:access im Jahr 2019 noch 13 Kapitalerhöhungen mit einem Volumen von 63 Millionen Euro, so waren es 2020 bereits 26 Kapitalerhöhungen im Volumen von 184 Millionen Euro. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden neun Maßnahmen in Höhe von 108 Millionen Euro erfolgreich durchgeführt. Der Trend hält an. Mehr als die Hälfte der in m:access notierten Unternehmen hat damit seit Jahresbeginn 2020 Kapitalerhöhungen durchgeführt und ist so gut durch die Krise gekommen: Eigenkapital ist Trumpf! Deshalb bieten wir künftig unser börsliches Zeichnungstool auch notierten Emittenten für die Begleitung von Kapitalerhöhungen an.

Vor eineinhalb Jahren hatte Ihr Kollege Dr. Marc Feiler im Gespräch mit der ZfgK angedeutet, dass die Börse München die Entwicklungen rund um Blockchain und Krypto-Assets laufend beobachte. Gibt es mittlerweile konkretere Gedankenspiele, hier tätig zu werden?

Robert Ertl: Tatsächlich befinden wir uns weiterhin im Beobachtungsmodus und laufendem Austausch mit Plattformbetreibern. Die überwiegende Anzahl unserer Marktteilnehmer wollen jedoch lieber ETCs auf Kryptowährungen handeln. Unser Angebot wird in diesem Bereich laufend erweitert und rege genutzt. Daher haben wir den Bereich "Krypto-ETCs" auf unserer Gettex Website auch prominenter platziert. Und inzwischen gibt es ja auch eine Bitcoin-Börse, deren Aktien an der Börse München und auf Gettex gehandelt werden.

Mit der International School Augsburg (ISA) ist die laut Börse München erste Bildungsaktie Europas in München an die Börse gegangen. Wie hoch war die Nachfrage danach?

Andreas Schmidt: Die 2005 gegründete ISA ist an Wachstumsgrenzen gestoßen, ein neues Schulgebäude muss gebaut und finanziert werden. Neben staatlichen Zuschüssen ist dafür ein erhöhter Eigenkapitalanteil nötig. Dies hat dank des Börsengangs geklappt. Allerdings hat sich gezeigt, dass fast ausschließlich Retail-Investoren die Aktie nachgefragt haben. Die ISA ist eine gemeinnützige AG, die keine Dividenden ausschütten darf. Dies war für Institutionelle offenbar schwierig.

Eine Bildungsaktie ist in Deutschland ja schon sehr ungewöhnlich. Der Bildungssektor hat eine besondere Bedeutung, gepaart mit der leider recht verbreiteten Abneigung gegen Börsen in Deutschland, vor allem und gerade auch im Bildungssektor. Wie passt das zusammen?

Andreas Schmidt: Das Thema Bildung und so manche Defizite im staatlichen Bildungssektor finden inzwischen die notwendige Aufmerksamkeit von Politikern, Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Journalisten. Ein privater Beitrag als Ergänzung zur staatlichen Grundversorgung ist dabei sinnvoll. Dies belegt das Beispiel der Internationalen Schule Augsburg: Unternehmen rund um Augsburg sind auf nicht deutschsprachige Expats angewiesen; Eltern streben eine internationale Ausbildung ihrer Kinder an und Schülerinnen und Schüler wollen frühzeitig sprachliche und interkulturelle Kompetenzen erlernen.

Die Finanzierung ist dabei auch von bürgerschaftlichem Engagement getrieben, die Aktie ist das geeignete Instrument, die Börse liefert die Infrastruktur. Das gilt übrigens auch für Fremdkapital. So hat die Stadt München im letzten Jahr einen "Social Bond" der Landeshauptstadt über 120 Millionen im regulierten Markt der Börse München emittiert. Die Mittel werden dabei zur Finanzierung eines Schulcampus und von sozialem Wohnraum eingesetzt. Auch hier zeigt sich: Geld ist da, und Investoren sind bereit, es auch für soziale Zwecke bereitzustellen.

Erwarten Sie jetzt daraus eine Sogwirkung auf andere Bildungseinrichtungen? Werden weitere Bildungsaktien folgen?

Andreas Schmidt: Der Börsengang der ISA war ein Leuchtturm-Projekt. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm. Der Leuchtturm leuchtet. Gerade im Bereich der privaten Hochschulen sehen wir Potenzial. Das gilt für die Hochschulträger, aber auch für Einzelaktivitäten. Denken Sie an die zahlreichen Spin-offs universitärer Forschungseinrichtungen, etwa im Bereich von Biotech, KI und IT. Dort stellen sich Finanzierungsfragen, die der Kapitalmarkt beantworten kann.

Die ISA ist als gemeinnützige AG an den Start gegangen. Das ist ebenfalls ein selten gesehenes Vehikel. Was ist bei einer gemeinnützigen AG anders als bei einer "normalen" Aktiengesellschaft?

Andreas Schmidt: Wie gemeinnützige Vereine genießen auch gemeinnützige Aktiengesellschaften einen steuerlichen Sonderstatus, sie zahlen keine Gewerbe- und keine Körperschaftssteuer. Die Gemeinnützigkeit ist Voraussetzung, dass das Unternehmen sowohl staatliche Zuschüsse erhält als auch spendenfähig ist, wichtige zusätzliche Säulen der Finanzierung. Daran sind einige Bedingungen geknüpft.

So darf das Unternehmen keine Dividenden ausschütten. Außerdem sieht die Abgabenordnung vor, dass die Management- und Verwaltungsstrukturen straff organisiert sein müssen. Deshalb sind die Corporate-Governance-Strukturen ohnehin schon vorhanden. Gewinne bleiben als investive Mittel im Unternehmen und unterstützen das Wachstum. Und so können derartige Investments für sogenannte Impact-Investoren interessant sein.

Thema europäische Kapitalmarktunion: Sind sie zufrieden mit dem, was hier in den letzten eineinhalb Jahren auf politischer Ebene passiert ist?

Andreas Schmidt: Der Europäische Rat hat am 15. Februar 2021 Änderungen an der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) und an der Prospektverordnung angenommen. Ziel ist es, EU-Unternehmen die Rekapitalisierung auf den Finanzmärkten zu erleichtern. Am 30. März 2021 hat der Rat zusätzlich Anpassungen des EU-Rahmens für Verbriefungen angenommen. Beides wurde beschlossen, um Unternehmen im Rahmen der Covid-Pandemie zu helfen. Dazu wurden zum Beispiel die Research-Regelungen für Small- und Mid-Cap-Unternehmen erleichtert. Auch im Rahmen des Prospektrechts sind schlankere "EU Wiederaufbauprospekte" möglich. Dies sind richtige Maßnahmen, die insbesondere KMU entlasten. Allerdings müssen diese Regelungen auch nach Covid-19 gelten. Die Regulierungsflut der vergangenen Jahre geht damit noch nicht zurück.

Mit den Special Purpose Acquisition Companies (SPAC) schwappt gerade ein Trend aus den USA nach Deutschland. Haben die SPAC das Zeug, langfristig das klassische IPO zu ersetzen?

Andreas Schmidt: Ein Markenkern der Börse ist Transparenz. Privatanleger, semiprofessionelle Investoren und Vermögensverwalter wollen wissen, in was sie investieren. "Die Katze im Sack zu kaufen", ist für sie keine Option. Und beim SPAC weiß man ja nicht, was oder ob überhaupt etwas in den Sack kommt. Es ist eine Investitionsmöglichkeit für spekulativ orientierte Anleger, die wie ein Venture Capitalist denken. In den USA ist dieses Denken weit verbreitet und so sind erhebliche Finanzmittel in SPACs geflossen. Die SPAC Unternehmen haben jetzt zwei Jahre Zeit, die Mittel durch Kauf anderer Unternehmen einzusetzen. Ein klassisches IPO sieht anders aus und wird durch SPACs nicht ersetzt. Und: "Börsenmäntel" gibt es ja auch noch.

Glauben Sie SPAC sind einer Aktienkultur eher förderlich, weil sie mehr Unternehmen an den Markt bringen oder halten Sie diese eher für eine Gefahr für die in Deutschland zwar erstarkende, aber doch noch recht fragile Aktienkultur?

Andreas Schmidt: Wer in eine leere Hülle investiert, vertraut darauf, dass die handelnden Personen - bei SPACs Sponsoren genannt - verantwortlich mit dem eingesammelten und treuhänderisch verwalteten Kapital umgehen. Werden die SPAC-Verantwortlichen diesem Vertrauen gerecht, ist die Aktienkultur nicht in Gefahr. Und so fragil ist sie ja nach jüngsten Zahlen auch in Deutschland nicht mehr.

Was sind für deutsche Börsen in diesem Jahr die großen regulatorischen Themen, mit denen sie sich befassen müssen?

Andreas Schmidt: Das große Thema bleibt Sustainable Finance - für Emittenten mit Blick auf ihre Finanzierungskosten nach der Taxonomie-Verordnung, für Kreditinstitute mit Blick auf die neuen Beratungspflichten für Privatanleger und für die Börse mit Blick auf neue Produkte, die zum Handel zugelassen werden. Der Wettbewerb um Kapital wird "grün" geführt. Dabei ist das Bürokratie-Ungetüm "ESG" mit "E" noch nicht am Ende; "S" wie social und "G" wie "good governance" sind schon in den Startlöchern. Spannend sind die Regulierung von Krypto- Assets und der Blockchain sowie diffizile Fragen der Besteuerung rund um den Wertpapierhandel.

Wenn Sie als Börsenbetreiber im Bundestagswahljahr einen Wunsch an die neu gewählten Entscheidungsträger frei hätten, welcher wäre das?

Andreas Schmidt: Ich wünsche mir von Politikerinnen und Politikern: regelt Weniger einfacher.

Robert Ertl: Dem stimme ich zu: Und wenn sie dann auch noch den Menschen vertrauen und mehr zutrauen, regelt sich vieles von selbst.

Dr. Robert Ertl Vorstand, Bayerische Börse AG, München
Andreas Schmidt Vorstand, Bayerische Börse AG, München
 

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