Vom Eigenleben der Institutionen

Berthold Morschhäuser

Die Harmonisierung der europäischen Finanzmarktaufsicht ist spätestens nach den Folgewirkungen der Lehman-Pleite an den Finanzmärkten zu einem hochpolitischen, von einem vergleichsweise starken Grundkonsens geprägten Projekt geworden. Verschärfungen der Aufsicht genießen im Zweifel eine hohe Grundsympathie in der Öffentlichkeit. Gegen eine wirksame Weiterentwicklung der Finanzarchitektur aufzubegehren und eigene Interessen durchsetzen zu wollen, bedarf deshalb stets einer sorgfältigen Abwägung der möglichen Wirkungen. Der Fortgang der Dinge wird häufig gebremst, weil es vielen Beteiligten an einer ausgewogenen Folgeabschätzung ihrer Handlungen fehlt.

Wie soll die Struktur einer künftigen europäischen Finanzaufsicht aussehen, die einer globalen Finanzkrise der verheerenden Kategorie 2007/2008 möglichst vorbeugen kann? Mit dieser Aufgabenbeschreibung hat die Europäische Kommission im Zuge der Finanzkrise sehr bald eine Expertengruppe um den ehemaligen Gouverneur der französischen Notenbank und früheren IWF-Chef Jacques de Larosière ins Feld geschickt. Deren Bericht vom Februar 2009 war eine der Grundlagen für das seither in mehreren Entwicklungsrunden entstandene Gebilde der Finanzaufsicht für Europa. Anfang 2011 wurde das Europäische Finanzaufsichtssystem (ESFS) eingerichtet, dessen Elemente die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) mit Sitz in London, die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) in Paris sowie die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) in Frankfurt am Main bilden. Überwacht wird das gesamte Finanzsystem vom Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB).

Im Rahmen der Schaffung der europäischen Bankenunion sind dann für die Kreditwirtschaft mit dem einheitlichen europäischen Bankenaufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism - SSM), dem einheitlichen Abwicklungsmechanismus (Single Resolution Mechanism - SRM) und der angestrebten Abrundung durch harmonisierte Regelungen der Einlagensicherung drei weitere Elemente hinzugekommen, deren Ausgestaltung und Umsetzung derzeit die volle Aufmerksamkeit von Aufsichtsinstanzen und Kreditwirtschaft verlangen.

Ende vergangenen Jahres ist die europäische Bankenaufsicht auf die EZB übergegangen. Die Notenbank nimmt diese Aufgabe in enger Abstimmung mit den nationalen Aufsichtsbehörden auf Basis der relevanten Rechtsvorschriften wahr, hat aber längst den klaren Anspruch formuliert, die europäische Bankenaufsicht - soweit machbar - vereinheitlichen und harmonisieren zu wollen. Vonseiten der EZB wird zwar immer wieder darauf verwiesen, nach Möglichkeit Rücksicht auf die unterschiedlichen Geschäftsmodelle in einzelnen Ländern nehmen zu wollen - darunter auch auf die beiden großen Verbundgruppen in Deutschland. Aber unter den rund 6000 Instituten, die dem SSM unterliegen und nicht zu den 124 direkt beaufsichtigten Häusern gehören, dürfte es sicher noch einige hundert geben, die sehr eng unter Beobachtung der EZB-Aufsicht sind.

Ohnehin ist die praktische Umsetzung der indirekten Aufsicht der EZB über die sogenannten Less Significant Institutions (LSI) derzeit besonders im Fokus von Aufsicht und Instituten. Sonderregelungen passen dabei nur bedingt zu einer Bankenunion aus vielen Mitgliedsstaaten. Insofern werden sich auch die deutsche Sparkassenorganisation wie der Genossenschaftssektor von allzu großen Ausnahmetatbeständen verabschieden müssen - all ihren Verdiensten um die Stabilisierung und Vertrauensförderung im Zuge der jüngsten Finanzkrise zum Trotz.

Parallel zum SSM ist die Ausgestaltung des SRM in vollem Gange und wird mit der von Elke König geführten europäischen Abwicklungsinstanz in absehbarer Zeit eine neue Institution schaffen, die im Rahmen ihrer praktischen Arbeit ebenfalls Informations- und Kontrollbedarf generieren wird. Und dass die Weiterentwicklung einer europäischen Einlagensicherung nicht vom Tisch ist, zeigen dieser Tage gerade wieder die heftigen Diskussionen rund um den verkappten Bank Run in Griechenland und das Thesenpapier zur Weiterentwicklung der Währungsunion aus Brüssel.

Eine besondere Ohnmacht und fast Hilflosigkeit empfinden die hiesigen Kreditinstitute aber gegenüber den drei europäischen Aufsichtsbehörden EBA, ESMA und EIOPA. Deren Massenproduktion an Papieren mit unterschiedlicher Verbindlichkeit und Intention schafft selbst unter Fachleuten Verwirrung. Auch wenn oder gerade weil die von diesen Institutionen veröffentlichten Leitlinien und Empfehlungen keinen rechtlich bindenden Charakter haben, gelingt es nicht einmal den Experten in den einzelnen Häusern den Durchblick zu behalten. Denn im Grunde genommen müssen die Banken das gesamte Material sichten und prüfen. Sie müssen dabei identifizieren, welche Implikationen die von den Behörden herausgegebenen Papiere haben. Bei vor läufigen Entwürfen zu Konsultationen müssen sie im Detail verstehen, was diese für sie bedeuten, um überhaupt konstruktive Einwände und Anregungen formulieren zu können. Und wenn Änderungen gegenüber bestehenden Vorschlägen und insbesondere verbindliche Regelungen in Form von Regulatory Technical Standards (RTS) oder Implementing Technical Standards (ITS) kommuniziert werden, sollten sie sich dringlichst darüber klar werden, welche Auswirkungen diese auf ihr eigenes Haus haben. Konkret geht es darum, welche Geschäftsabläufe betroffen sind, welche IT-Systeme und Prozesse angepasst werden müssen, wie die Mitarbeiter abgeholt werden können, um die Dinge richtig umzusetzen und wie hinterfragt und geprüft werden kann, ob alles funktioniert. Das ist der Alltag. Papiere von 1 000 Seiten sind keine Ausnahme. Hinzu kommen Frage-und-Antwort-Kataloge, Leitlinien und Meinungen.

Wie sehr diese Dinge nicht nur die Banken vor Ort, sondern auch ihre Verbände beanspruchen, hat einmal mehr der VÖB in seinen aktuellen Positionen zur Banken- und Finanzmarktregulierung dargelegt und eine Überarbeitung der Kompetenzen der EU-Aufsichtsbehörden gefordert. Ähnliche Überfrachtungserscheinungen lässt auch der Bundesverband deutscher Banken anklingen - allein im vergangenen Jahr waren als Richtlinie, Verordnung, Konsultationspapiere und Diskussionspapier insgesamt 2 500 Seiten der ESMA rund um MiFID/MiFIR zu verkraften. Der Tenor einer kaum zu bewältigenden Komplexität kommt in diesem Heft selbst in dem Beitrag einer großen Beratungsgesellschaft zum Ausdruck, der man doch gemeinhin ein wirtschaftliches Eigeninteresse an vielen ungeklärten Fragen und damit reichlich Beratungsbedarf unterstellen würde. Die beiden Verbünde haben schon auf die Anforderungen reagiert und mit der S-Rating beziehungsweise Kompetenzzentren bei den Verbänden zentrale Einheiten geschaffen, deren Know-how und deren Services von den Ortsbanken abgerufen werden können.

Eigentlich wäre auch in der europäischen Finanzmarktaufsicht eine akribische Kosten-Nutzen-Abwägung notwendig, wie sie bei jeder betriebswirtschaftlichen Fragestellung in den Banken selbstverständlich ist. Die Praxis sieht anders aus. Bei europäischen Institutionen ohne direkte parlamentarische Kontrolle ist es sogar noch schwieriger als auf nationaler Ebene, ein ungehemmtes Wachstum der Institutionen zu verhindern. Die Vertreter der neuen politischen Ökonomie werden ihre Freude daran haben, ihre bekannten Theorien zur ungehemmten Verbreitung der Bürokratie an einem weiteren Praxisbeispiel zu überprüfen. Wirksame Mechanismen zur Verhinderung von Reibungsverlusten durch eine zu vielschichtige und komplexe Aufsicht zu finden, steht derzeit nicht wirklich auf der politischen Tagesordnung. Vorläufig bleibt es bei wohlfeilen Absichtserklärungen aus der Politik und gewissen Selbstbeschränkungen der Instanzen.

Erst kürzlich hat beispielsweise die EZB mit einem European Reporting Framework ihren guten Willen bekundet, die von den diversen Aufsichtsinstanzen abgerufenen statistischen Daten möglichst zu konsolidieren und Doppelerhebungen zu vermeiden. Aber die Aussichten auf Besserung sind bescheiden. Denn immer neue Risiken rücken in den Fokus. So haben zuletzt die von der BIZ initiierten Anforderungen des BCBS 239 die Eignung der IT-Landschaft besonders in den Blickpunkt diverser Aufsichtsinstanzen gerückt. In vielen Instituten lassen sie einen enormen Anpassungsbedarf vermuten. Ein aktuelles Beispiel gibt das Cyber Risk Questionnaire, das von der EZB versandt wurde. Unschwere Prognose also: Die verschiedenen Institutionen einschließlich der EZB werden die Kreditwirtschaft auch in den kommenden Jahren auf Trab halten.

Dr. Berthold Morschhäuser , ehem. Chefredakteur , Fritz Knapp Verlag
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