Kein Mensch ...

Philipp Otto Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Carlos San Juan ist für viele in Spanien inzwischen ein Held. Dabei ist er schon 78 Jahre alt. Doch der frühere Arzt macht etwas, was vielen anderen aus der Seele spricht. Er kritisiert den zunehmenden Trend zur Digitalisierung unseres Alltags. "Ich bin alt, aber kein Idiot", lautet der Slogan der Petition von Carlos San Juan, für die er bereits über 550 000 Unterschriften gesammelt hat. Auslöser der Aktion war, als er mehrere Tage kein Geld abheben konnte, weil er dafür erst über eine App online einen Termin in der Filiale hätte vereinbaren müssen. "Ich wollte mir doch nur holen, was mir gehört." Daraufhin schrieb San Juan einen Brief an den spanischen Zentralbank-Präsidenten: "Mein Name ist Carlos, ich bin fast 80 Jahre alt und verstehe Maschinen, Apps und das Internet nicht sehr gut, wie Tausende von Menschen in meinem Alter. Es macht mich sehr traurig, dass die Banken alte Menschen wie mich vergessen haben. Jetzt ist fast alles online. Wir haben diese Ausgrenzung nicht verdient. Deshalb fordere ich eine humanere Behandlung in den Bankfilialen."

Doch um zu den Menschen in den Filialen zu gelangen, die ihm dann helfen können, hilft ihm kein Mensch mehr. Denn die Digitalisierung übernimmt alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens. Computerisierung und Vernetzung wird in den Bereichen Produktion, Verkehr, Wissenschaft, Verwaltung und Haushalt immer weiter ausgebaut. Daraus ergeben sich einerseits enorme Chancen: Prozesse werden unendlich reproduzierbar, genauer, sicherer und insgesamt kostengünstiger. Und es werden neue Innovationen möglich. Doch vor allem ältere Menschen haben oftmals Probleme mit der Digitalisierung des Alltags, wie das Beispiel von Carlos San Juan zeigt. Der spanische Zentralbank-Präsident rief Carlos übrigens auf dessen Brief hin an und ließ sich die Probleme genau schildern. Anschließend wurden die Bankenverbände in Spanien aufgefordert, Vorschläge für eine bessere Inklusion der Älteren vorzulegen.

Wird sich also tatsächlich aufgrund des Briefs eines 78-jährigen spanischen Arztes etwas zum Besseren verändern? Es wäre wahrlich wünschenswert. Denn auch der im Sommer vorgelegte Achte Digitalisierungsbericht der Bundesregierung thematisiert die Gefahren der Digitalisierung sehr deutlich. "Die Voraussetzungen für die digitale Teilhabe älterer Menschen sind noch nicht überall gegeben. Häufig fehlt es am nötigen Wissen, an ratgebender Unterstützung oder an Geld, um sich digitale Geräte anzuschaffen", schrieb die damalige Bundes-Familienministerin Franziska Giffey im Vorwort. Und bei der Vorstellung des Berichtes ergänzte sie noch, dass die Digitalisierung natürlich auch für ältere Menschen ein riesiges Potenzial berge, das man noch viel stärker ausschöpfen müsse, indem die digitalen Angebote stärker an den Bedürfnissen ausgerichtet und älteren Menschen geholfen wird, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Nur so könne die "digitale Kluft" abgebaut werden. "Wir dürfen nicht zulassen, dass Seniorinnen und Senioren abgehängt werden", forderte die SPD-Politikerin.

Passiert ist seitdem wenig, klar, es waren ja auch Neuwahlen. Stattdessen schreitet die Digitalisierung munter voran, nicht nur im Bankgeschäft, wo mittlerweile zwei Drittel der Kunden zwischen 14 und 74 Jahren das Onlinebanking-Angebot ihrer Bank oder Sparkasse nutzen. Vor 10 Jahren war es noch weniger als die Hälfte. Im Gegenzug verschwinden immer mehr Filialen. Waren es 2011 noch 37 719 Zweigstellen in Deutschland, ist die Zahl per Ende 2020 auf noch 24 100 zusammengeschrumpft, Tendenz immer schneller abnehmend. Klassische Bankdienstleistungen wie schlichtes Geldabheben oder Überweisungen sind an den Schaltern der modernen "Beratungscenter" kaum noch möglich, natürlich auch, weil viel zu wenige Menschen diese in Anspruch nehmen. Aber jenen, die dies gerne würden, wird die Möglichkeit dazu genommen und es fehlt an Alternativen.

Auch in anderen Lebensbereichen geht ohne das Smartphone oder zumindest das Internet kaum noch was. Arzttermine bitte online vereinbaren, das Rezept wird den Patienten dann nach einem kurzen Telefonat zugeschickt. Termine in der öffentlichen Verwaltung, sei es zur Beantragung des neuen Personlausweises oder zum Ummelden eines Autos - nur noch online. Die Steuererklärung: Bitte elektronisch ausgefüllt und via "Elster" an das Finanzamt geschickt, Papier nur noch in allergrößten Ausnahmen. Schon lustig, dass man sich für dieses System ausgerechnet den Namen des diebischsten aller Vögel geborgt hat. An der Supermarktkasse kein Bargeld mehr - entweder davorhalten oder reinstecken. Wo genau bitte, muss ich was hinhalten? Oder die Bestellung von Konzerttickets, natürlich nur online. Sollte die Seniorin das noch hinbekommen und sogar über eine internetfähige Debit- oder Kreditkarte verfügen, fehlt es dann häufig am zweiten mobilen Endgerät, das man für die Zwei-Faktor-Authentifizierung zwingend braucht. Sicherer ist das System damit zweifelsohne geworden, aber es grenzt auch aus.

Vorbei scheinen die Zeiten, als ältere Menschen an der Kasse ihr Kleingeld abzählen durften oder beim Bäcker noch einen kleinen Schnack halten konnten. So wird Einsamen durch die dank Technologisierung höhere Effizienz manchmal das Highlight eines Tages genommen. Supermärkte in den Niederlanden und in Japan haben deswegen die "Plauderkassen" eingeführt, an denen alles besonders langsam geht und geschultes Personal immer ein offenes Ohr hat. Wie schön!

Denn auch über die Folgen der Digitalisierung auf das Sozialverhalten lässt sich unendlich diskutieren. Die Stanford University überlegt bereits, geisteswissenschaftliche Disziplinen wie Ethik in das Studium der Informatik einzubauen. Denn, so die Annahme, technischer Fortschritt darf sich nicht nur an dem orientieren, was möglich oder wirtschaftlich am attraktivsten erscheint, sondern muss sich wieder mehr an den menschlichen Bedürfnissen orientieren. Je mehr Technik im Alltag eingesetzt wird, umso mehr verschwimmt der Unterschied zwischen technischen und menschlichen Gebilden. Virtuelle Räume, wie sie beispielsweise Meta (Facebook) plant, sind zwar ebenfalls Begegnungsstätten, aber es sind nur Täuschungen. Sie können echte soziale Kontakte nicht ersetzen. Und zu guter Letzt noch: Unbestritten birgt die Digitalisierung enorme Vorteile. Aber eben auch neue Herausforderungen: Smart Devices, PCs und vernetzte Haushaltsgeräte werden zunehmend zum Ziel von Hackern. Vernetzte Produktionsanlagen, Fahrzeuge, Verkehrsinfrastruktur und alle anderen mit dem Internet verbundenen Geräte bieten auch Kriminellen neue Möglichkeiten. Und unsere digitalisierte Infrastruktur ist aufgrund ihrer höheren Komplexität auch mit immer nur steigender Wahrscheinlichkeit von Ausfällen und Unterbrechungen bedroht. Was machen wir im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben eigentlich, wenn mal der Strom ausfällt?

Übrigens: Wer glaubt, dieses Problem würde sich im Laufe der Jahre mit den sehr viel technik-affineren jungen Lauten im wahrsten Sinne des Wortes auswachsen, der sei gewarnt. Angesichts der enormen Geschwindigkeit der technischen Innovationen kann dieses Wissen in zehn Jahren genauso veraltet sein, wie das der Alten heute.

PS: Natürlich weiß der der Kreditwirtschaft mitunter durchaus zugetane Chronist um all die vielfältigen Bemühungen der Institute, auch die Zielgruppe der Senioren bestmöglich mit Bankdienstleistungen zu versorgen und so ihrem Auftrag nachzukommen. Aber der Trend zu immer mehr Effizienz und Fortschritt ist sicherlich nicht abzusprechen. Ihm ist "Mehr Mensch" immer lieber als "Kein Mensch".

Filialgeschäft und Online-Nutzung Quelle: Deutsche Bundesbank (Anzahl Bankfilialen), Statista (Onlinebanking-Nutzer)
Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft

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