Neue Realitäten

Carsten Englert Redakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Nun läuft der unrechtmäßige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine schon etwas mehr als einen Monat. Was zuvor lange Zeit für die meisten von uns völlig unvorstellbar schien, ist nun bereits zur täglichen Bedrohungsnormalität geworden: Der Weltfrieden steht auf der Kippe, in einem Maße wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das bringt viele neue Realitäten, denen man sich stellen muss.

Einigen daraus resultierenden Aufgaben hat sich die noch recht frische Ampel-Koalition bereits angenommen. Völlig unvorstellbar erschien zuvor, dass die Regierung mal eben 100 Milliarden Euro aus dem Ärmel schüttelt, um das Ärgste, was mehr als 30 Jahre Kaputtsparen der Bundeswehr angerichtet haben, wieder auszubügeln. Zudem wird auch diskutiert, Kohle und oder Atomstrom zumindest länger laufen zu lassen - ein Pragmatismus, der bei den Klimaideologen in Regierungsverantwortung zuvor ebenfalls kaum erwartet werden durfte.

Zwar ist großes Zähneknirschen an der Grünen Basis darüber wahrzunehmen. Doch diese sollte sich nicht grämen, sondern den Vorteil aus ihrer Sicht erkennen: Russland, Saudi-Arabien, Iran, Katar, Venezuela. Alles undemokratische, diktatorische Staaten, die dem Westen nicht freundlich gesinnt sind. Diese Staaten verfügten im Jahr 2020 nach Schätzungen von Statista über Ölreserven in Höhe von mehr als 900 Milliarden Barrel und damit mehr als die Hälfte des gesamten Vorkommens. Nach aktuellen Ölpreisen entspricht das mehr als 100 Billionen US-Dollar Einnahmepotenzial, das von Diktaturen in Waffen investiert werden kann - und auch wird. Und das ist nur das Öl! Russland, Iran und Katar förderten im Jahr 2016 auch beispielsweise 53,6 Prozent (Quelle: Wikipedia) des weltweit geförderten Erdgases, was 1,04 Billionen Kubikmeter entspricht - wohlgemerkt in einem Jahr. Wer bislang einem kompletten Ausstieg aus dem Zeitalter der fossilen Brennstoffe skeptisch gegenüberstand, der dürfte nun überzeugt sein. Es ergeben sich also neue Realitäten auch für bisherige Bremser der nachhaltigen Transformation. Das sollte in neuen Schwung umgewandelt werden!

Noch kann man natürlich nicht detailliert absehen, welche Auswirkungen der Ukraine-Krieg auf die deutsche und europäische Wirtschaft haben wird. Doch einiges zeichnet sich bereits ab. Primäre Wirkungen sind natürlich die aufgrund der Sanktionen verbotenen Geschäfte mit Russland und russischen Unternehmen: Im Januar 2022 exportierten deutsche Unternehmen Waren im Wert von 2,8 Milliarden Euro - und damit weniger als drei Prozent des gesamten Exports. Wenn diese nun weitestgehend ausfallen, ist das natürlich kein Weltuntergang, aber es wird das Wachstum bremsen. Doch sind die Auswirkungen damit nur an der Oberfläche angekratzt. Eine weitere primäre Wirkung verdeutlicht das Beispiel Leoni. Das Unternehmen ist wichtigster Automobilzulieferer für Kabel und Kabelbäume und produziert letztere vor allem in der Ukraine. Auch hier kam es natürlich zum Produktionsstopp. Daraufhin standen bei Volkswagen und BMW eine Zeit lang die Bänder still. Die für Deutschland so wichtige Autoindustrie hatte ja schon durch Corona mit einer Störung der Lieferketten zu kämpfen, das Problem wurde jetzt nochmals verschärft.

Ein zweiter wichtiger Faktor sind die außer Kontrolle geratenen Rohstoffmärkte. Schon in der Corona-Pandemie stiegen die Preise für die meisten Rohstoffe, nach dem Einmarsch und vor allem den folgenden Sanktionen ist diese Entwicklung weiter eskaliert. Kein Wunder, Russland ist nicht nur bei Öl und Gas einer der wichtigsten Produzenten, auch bei vielen Industriemetallen spielt der Aggressor eine große Rolle. So litt beispielswiese der Handel mit Nickel - Russland ist hier drittgrößter Produzent nach Indonesien und den Philippinen - unter Verwerfungen.

Die größte strangulierende Wirkung für das Wirtschaftswachstum dürften jedoch die Energiepreise haben. Einerseits senken diese die Nachfrage, da die Menschen weniger Geld für Konsum übrig haben. Da ändert auch das Maßnahmenpaket der Regierung nichts, es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein - aber immerhin! Andererseits verteuern diese die Produktion enorm. Dabei sieht man in der Abbildung, dass der Anstieg der Produzentenpreise in der Eurozone schon im Januar 2022 und damit vor dem Einmarsch des Diktators in der Ukraine abenteuerliche Niveaus erreicht hat. Es steht zu befürchten, dass die Zahlen für März nochmals einen neuen Rekord erreicht haben. Zumal der Ölpreis seit dem Einmarsch gut 20 Prozent - in der Spitze sogar 40 Prozent - gestiegen ist, der Erdgaspreis ebenfalls um 20 Prozent.

Erste Frühindikatoren deuten nun auch schon an, wie sich der Ukraine-Krieg quantitativ auf die deutsche Wirtschaft auswirken könnte. So ist der am 25. März 2022 veröffentlichte ifo Geschäftsklimaindex für den März massiv auf 90,8 Punkte abgestürzt nach 98,5 Punkten zuvor. Als Grund führt das ifo-Institut einen "historischen Einbruch" der Erwartungen um 13,3 Punkte, der sogar den Rückgang bei Ausbruch der Corona-Krise im März 2020 (minus 11,8 Punkte) übertrifft. Das ökonomische Institut dazu: "Die Unternehmen in Deutschland rechnen mit harten Zeiten." Das sind die neuen Realitäten für die Wirtschaft, die es auch zuvor schon nicht leicht hatte. Doch natürlich ist es keine Lösung, nun den Kopf in den Sand zu stecken. Mehr Versorgungssicherheit ist ein Thema, das angegangen werden muss und auch wird. Doch das ist eine langfristige, vor allem auch politische Aufgabe. Für die Unternehmen selbst heißt es nun noch flexibler, noch effizienter und innovativer zu werden. In der Industrie spielt da das Schlagwort "Industrie 4.0" eine große Rolle. Die vernetzte und digitale Produktion verspricht laut Michael Ochs und Stephan Weber (siehe Seite 16) flexible und wandelbare Produktionsprozesse. Die beiden Autoren sehen darin auch einen "Garant wirtschaftlicher Resilienz in Krisenzeiten." Sie mahnen aber auch an, dass es dafür die entsprechenden flexiblen Finanzierungen braucht.

Auch für die Geldpolitik gibt es neue Realitäten. Mantrahaft hat die EZB in den vergangenen Monaten beschworen, die Inflation ist nicht gekommen, um zu bleiben. Der Anstieg sei nur vorübergehend und auf temporäre Faktoren zurückzuführen. Das dürfte sich nun endgültig als dramatische Fehleinschätzung entpuppt haben. Denn die hohen Inflationsraten verfestigen sich und das Wachstum wird zusätzlich noch gebremst. Wie die Abbildung zeigt, stiegen Verbraucherpreisindex und Erzeugerpreisindex deutlich an, während die Industrieproduktion - alle drei Indikatoren jeweils auf die Eurozone bezogen und auf Jahressicht - sinkt. Es deutet sich also doch die fatale Stagflations-Falle an - eine Sichtweise, die auch die Ökonomen des BdB teilen. Dabei gilt es zu bedenken, dass in der Abbildung nur Daten bis Januar 2022 berücksichtigt sind. Die Ukraine-Krise dürfte die "Schere" noch weiter auseinandertreiben. Einige Kassandrarufer warnen davor schon seit einiger Zeit, aber auch hier beschwichtigt die EZB - immer noch. Es wird Zeit, dass sich die EZB der neuen Realität stellt. Zwar wurde eine vorsichtige geldpolitische Wende eingeleitet, doch stellt sich die Frage, ob das angesichts eines Stagflations-Szenarios immer noch der richtige Schritt ist.

Deutschland und Europa insgesamt stehen vor komplexen neuen Realitäten und müssen sich jetzt noch schneller und intensiver neu erfinden als es ohnehin schon notwendig war. Die Banken sind als finanzierende Stütze dabei. Es ist nicht weniger als ein existenzieller Kampf um Frieden, Freiheit und Wohlstand. Es geht um alles! Packen wir es an!

Die Stagflations-Falle (in Prozent) Quelle: Investing.com
Carsten Englert , Leitender Redakteur, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen , Fritz Knapp Verlag

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