Ohne Unterbrechung

Philipp Otto

Foto: Fritz Knapp Verlag

Eine disruptive Technologie, vom englischen to disrupt "unterbrechen" stammend, ist laut Definition eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt. Disruptive Innovationen sind meist am unteren Ende des Marktes und in neuen Märkten zu finden. Die neuen Märkte entstehen für die etablierten Anbieter in der Regel unerwartet und sind für diese, besonders aufgrund ihres zunächst kleinen Volumens oder Kundensegmentes, uninteressant. Sie können allerdings im Zeitverlauf ein starkes Wachstum aufweisen und vorhandene Märkte beziehungsweise Produkte und Dienstleistungen komplett oder teilweise verdrängen. Beispiele für eine solche Entwicklung gibt es einige: Das Automobil verdrängte um 1900 herum in kurzer Zeit die Pferdekutschen. Die Digitalkamera, von Kodak erfunden und für nicht zukunftsfähig erachtet, hat die analogen Kameras längst komplett ersetzt. VHS-Videokassetten gibt es in Zeiten von DVD und Blueray ebenso wenig mehr wie die klassischen Röhrenmonitore. Man könnte diese Liste ziemlich lange fortsetzen.

Banken beziehungsweise Finanzdienstleister fehlen in dieser Aufzählung. Noch, möchte man sagen. Denn auch der Markt für Bank- und Finanzdienstleistungen ist einem starken Wandel unterworfen. Wie bezahlen wir morgen? Wie, wann und wo wollen wir Bankgeschäfte erledigen? Wozu brauchen wir noch Filialen? Wer leiht mir Geld? Wie kann ich Überweisungen tätigen und Rechnungen bezahlen? Aber auch: Wie lange darf ein Geldtransfer dauern? Auf Basis welcher Technologie werden Zahlungsverkehr und Wertpapiertransaktionen abgewickelt? Wie und wo erfolgt die Kundenansprache?

Die Schwierigkeit ist: Fast jeder kennt die Fragen, aber keiner die Antworten. Die zahlreichen Studien, die von emsigen Beratern zu diesen Themen verfasst werden, zeigen das Dilemma: 58 Prozent der Banker beispielsweise glauben, dass die Interaktion mit Kunden im Jahr 2020 mehrheitlich über Onlinekanäle erfolgt. 64 Prozent vermuten, dass mobile Plattformen für den Vertrieb von Bankprodukten in acht Jahren von sehr hoher Bedeutung sein werden. Fast 90 Prozent gehen davon aus, dass sich 2020 die bargeldlose Bezahlung über EC-Karten (electronic cash) und Kreditkarten auf die Bezahlung mittels Mobile Devices und Smartphones verlagert hat. Mehr als drei Viertel erwarten, dass in Technologien für Mobile Business, die Industrialisierung und die Automatisierung von Geschäftsprozessen stark oder sogar sehr stark investiert werden wird. Aber mehr als die Hälfte glaubt nicht, dass die neuen technischen Möglichkeiten und sozialen Medien für Banken zu mehr Umsatz führen werden. Und die meisten gehen davon aus, dass persönliche Beratung auch in Zukunft einen hohen Stellenwert haben wird.

Ähnlich verwirrend sieht es auf der Kundenseite aus: Einer aktuellen PwC-Studie zufolge wollen beispielsweise 55 Prozent der Kunden, also mehr als die Hälfte, gerne mobil bezahlen. Allerdings überwiegen derzeit noch Sicherheitsbedenken, denn über 80 Prozent sind der Meinung, dass es noch besserer Sicherheitsvorkehrungen bedarf, bis sich Mobile Payment auch in Deutschland durchsetzen wird. Im Übrigen werden immer noch über die Hälfte aller Bezahlvorgänge in Deutschland in bar beglichen. Ähnlich sieht es im Alltag aus: Kunden wollen Bankgeschäfte am liebsten online und mobil abwickeln, legen gleichzeitig aber großen Wert auf Filialen, wünschen sich innovative Filialkonzepte, individualisierte Beratung und stets einen persönlichen Ansprechpartner. Kosten darf das Ganze dann natürlich wenig bis nichts.

Banken müssen einen Spagat schaffen. Die Institute müssen auf die neuen Entwicklungen reagieren, müssen raus aus ihrer Komfortzone. Sie müssen bereit sein, Änderungen im Konsumentenverhalten anzuerkennen und entsprechend umzusetzen. Es entsteht aber mitunter der Eindruck, dass die Bereitschaft zum freien Denken, zum "Herumspinnen" und Experimentieren noch nicht überall gleichermaßen in den Köpfen der verantwortlichen Vorstände und Geschäftsführer angekommen ist. Das Beharrungsvermögen ist sehr ausgeprägt, denn natürlich sind die bislang erzielten Erfolge groß und nachweislich. Natürlich sind die Auswirkungen der neuen Technologien zwar spürbar, aber noch keineswegs bedrohlich - anders als beispielsweise die Niedrigzinspolitik der EZB, die an Strukturen und Zukunftsfähigkeit mancher Häuser sehr viel stärker rüttelt. Natürlich wurden die Banken schon mehr als einmal totgesagt und Totgesagte leben bekanntlich länger. Und natürlich sind Banken und Sparkassen gegenüber den neuen Wettbewerbern aus der Fintech-Szene an einer entscheidenden Stelle im Nachteil. Sie müssen sehr viel vorsichtiger agieren, denn die Gefahr eines Reputationsverlustes im Falle eines Unglücks ist bei den etablierten Spielern naturgemäß sehr viel größer. "Digitaler werden - bewährtes Geschäftsmodell erhalten" heißt der Titel des Beitrags von DSGV-Hauptgeschäftsführer Joachim Schmalzl in diesem Heft, der das Dilemma bestens ausdrückt.

All das kann ein Nachteil sein, weil vielleicht zukunftsweisende Veränderungen nicht oder nur zu zaghaft angegangen werden und die Finanzdienstleister ganz im Sinnes des "disruptive change" plötzlich vor Märkten stehen, auf denen sie keine Rolle mehr spielen können. "In den nächsten zehn Jahren werden wir mehr Verwerfungen und Veränderungen in der Bankenwelt und der weltweiten Finanzbranche sehen, als das in den vergangenen 100 Jahren der Fall gewesen ist", vermutet beispielsweise Brett King, CEO des US-Mobile-Banking-Anbieters Moven. Noch drastischer sieht es Dan Schatt, COO des US-Fintechs Stockpile: "Die Konsumenten wenden sich mit hoher Geschwindigkeit von traditionellen Banken ab. Deren konventionelles Geschäftsmodell ist auf dem besten Wege auszusterben."

Die "Traditionalisten" sind da natürlich etwas zurückhaltender. "Der Beitrag der Kreditwirtschaft kann vor allem darin bestehen, anerkannter und vertrauenswürdiger Mittler zwischen Verbrauchern und Akzeptanten zu sein. Es gilt auch künftig Bezahlverfahren bereit zustellen, die Sicherheit für beide Seiten genauso stiften, wie Effizienz für den Akzeptanten und Bequemlichkeit für den Verbraucher", so Andreas Martin, Vorstand des BVR, in seinem Beitrag in diesem Heft. Joachim Schmalzl sieht die Herausforderung darin, "einerseits die gewohnten Bedürfnisse der Kunden zu bedienen, aber auch die neuen technischen Möglichkeiten mit anzubieten - und zwar in Ergänzung und nicht als Ersatz". Und Andreas Krautscheid vom Bundesverband deutscher Banken sieht die Kreditwirtschaft bereit, mit digitalen Angeboten auf veränderte Kundenwünsche zu reagieren und auch europäische Lösungen anzubieten.

Klar ist: Banken und Sparkassen haben auch Vorteile. Sie gelten als extrem sicher. Sie haben die Kundenbasis. Sie haben mit dem Konto nach wie vor das Ankerprodukt. Zudem ändern sich die Lebensbedingungen anders als bei einem Meteoriteneinschlag oder einem Vulkanausbruch nicht abrupt, sondern die Veränderungen ziehen sich über einen längeren Zeitraum hin. Und zahlreiche Kooperationen mit Fintechs oder gar Übernahmen der kleinen Spezialisten zeigen schon jetzt eine wachsende Veränderungsbereitschaft auf. Und bekanntlich ist es manchmal ja auch ganz vorteilhaft, nicht zu den First Movern zu gehören und alle Kinderkrankheiten mit zu durchleiden.

Aber: Banken und Sparkassen stehen nicht nur im heftigen Wettbewerb mit den neuen Anbietern, sondern auch untereinander. Das macht das einheitliche Agieren, das abgestimmte Argumentieren gegenüber Aufsichtsbehörden und Gesetzgebern wie der EU-Kommission natürlich keineswegs einfacher. Entsprechend nehmen die Gemeinsamkeiten immer mehr ab, gerade im Zahlungsverkehr. Die Anteile an Mastercard - verkauft. Visa Europe - verkauft. Concardis - verkauft. Die Kooperation von Sparkassen und Giesecke & Devrient - beendet. All das mag betriebswirtschaftlich sinnvoll und nachvollziehbar sein. Aus strategischen Gründen erschließt sich das Vorgehen dagegen nicht immer, drohen doch neue Abhängigkeiten. Und über die Sache mit den Banken und dem (nicht) erfolgreichen Outsourcing könnte man mehrere Seiten füllen.

Entscheiden, wer den Wettbewerb um den Zahlungsverkehr am Ende gewinnt, muss und wird der Kunde. Banken haben gute Chancen. Fintechs auch. Erfolgreich wird sein, wem es gelingt, die Dienstleistungs- und Wertschöpfungskette am stabilsten und besten abzubilden - ohne Unterbrechung.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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