Preisstabilität - und was noch alles?

Gregor Brunner, Volontär Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Des Öfteren las man in den vergangenen Monaten Vergleiche der Covid-19-Pandemie mit der Verbreitung der Spanischen Grippe zwischen den Jahren 1918 und 1920. Mit dem zeitlichen Abstand von rund 100 Jahren hätte man damit zumindest einen weiteren Baustein im Gespräch auf der nächsten Soiree - sollte sie jemals kommen - über die bürgerliche Weisheit, dass sich Geschichte vielleicht nicht wiederhole, dafür aber reime. Dabei gab es einige Unterschiede. Zum Beispiel starben, ungewöhnlich für Grippeinfektionen, vermehrt 20- bis 40-Jährige an der Spanischen Grippe, wohingegen Covid-19 vor allem für Menschen höheren Alters tödlich enden kann.

Hinzu kamen noch die Toten, die der erste Weltkrieg forderte. So lag die Produktivität Deutschlands am Boden, während gleichzeitig Kriegsschulden und Reparationen in Goldmark und Sachleistungen bezahlt werden sollten. Geldpolitisch versuchte die Reichsbank mit dem Kauf von Staatspapieren gegenzulenken und finanzierte diesen Kauf durch das Drucken von Geld, welches weder durch Sachwerte wie Gold noch durch eine funktionierende Wirtschaft gedeckt war. Dies führte zur Hyperinflation in den frühen 1920er Jahren, welcher erst durch die Einführung der indirekt durch Gold gedeckten Rentenmark Einhalt geboten wurde. So konnte zwar die Staatsschuld von 300 bis 400 Prozent des BIP am Ende des ersten Weltkrieges auf circa 45 Prozent gedrückt werden, durch die Inflation löste sich jedoch das Vermögen vieler Bürger in Luft auf.

Als weitere Traumata der deutschen Geldpolitik nennt Dr. Albrecht Ritschl, Professor an der London School of Economics für Wirtschaftsgeschichte, in einer Veranstaltung des European Finance Forum, die Kriegsfinanzierung von 1933 bis 1945 sowie die internationalen Interventionen der Nachkriegsjahre bis zur Wiedervereinigung. Egal ob Diktator, Siegermächte oder Bretton Woods: Die Zentralbank war Ritschl zufolge zu vielen Zeitpunkten in nationale oder internationale Systeme eingebettet, welche die geldpolitischen Entscheidungen maßgeblich beeinflussten, und damit nicht der souveräne Akteur in der Geldpolitik. Ritschl nennt diese Bindung an Regierungen den faustischen Pakt des 20. Jahrhunderts: Die Regierung betreibt Geldpolitik, während die Zentralbank Fiskalpolitik betreibt.

Eine Veränderung dieser Dynamik war während der Staatsschuldenkrise zu beobachten. Aufgrund ungewisser Zuständigkeiten in der Europäischen Union ergriff die Europäische Zentralbank in Abwesenheit einer EU-Fiskalpolitik das Heft, um beispielsweise mit Anleihekäufen tief verschuldete Staaten zu stabilisieren. Diese Entscheidung zog lange Debatten über ihre Verhältnismäßigkeit und einen Kompetenzstreit über eine Verfassungslücke der EU nach sich. Gegenwärtig stemmt die EZB ebenso beispiellose Anleihekäufe, um den Mitglieds staaten den Kampf gegen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu finanzieren. Demgegenüber steht aber nun ein gemeinsamer Schuldenhaushalt mit einem Refinanzierungsplan, durch den die Zuständigkeiten wieder klar geteilt und die Verfassungslücke vermeintlich geschlossen werden. Ritschl wertet die Vorlage eines gemeinsamen Haushaltes als integrativen Faktor für die EU, ähnlich der Vergemeinschaftung der Schulden des deutschen Zollvereins mit dem Übertritt in das Deutsche Kaiserreich 1871.

Er erwähnt jedoch auch, dass die geldpolitischen und fiskalischen Gegenmaßnahmen in der Covid-19-Pandemie kriegsähnliche Züge angenommen hätten: So würden Industrien gestützt, die derzeit weitestgehend brach liegen. Die Flug- und Reisebranchen sowie das Gastgewerbe und der Einzelhandel schaffen derzeit nicht die Gegenwerte, die sie unter Normalbetrieb schaffen würden, werden aber dennoch durch den öffentlichen Haushalt finanziert, um bis nach der Krise aushalten zu können. Ähnlich wie in einem Krieg lädt sich die EU damit Schulden auf, deren Deckung durch die Wirtschaft nicht gesichert ist, während die Zentralbank diese aggressive Fiskalpolitik mit aggressiver Geldpolitik begleitet oder sich zu begleiten gezwungen sieht.

Vielleicht wird die gegenwärtige Situation nach der Staatsschuldenkrise als ein zweites Trauma der europäischen Geldpolitik in die Geschichte eingehen. Noch kennen wir die Auswirkungen nicht komplett. Mit einem Sprung auf 0,9 Prozent im Januar 2021, im März gar auf 1,7 Prozent, scheint die Inflation in der Eurozone ihre Rückkehr anzutreten. Derzeitige Indikatoren deuten aber nicht auf ein dauerhaftes Halten des Niveaus von knapp unter 2 Prozent hin. Die klassischen Mittel der Geldpolitik scheinen keine Wirkung mehr zu zeigen. In diesem Falle könnte man in naher Zukunft beobachten, wie die EZB neue Wege in der Geldpolitik beschreitet, um die Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Eurozone zu stimulieren.

Spannend dabei ist, dass im Regelfall die Unterstützung der Wirtschaftspolitik allenfalls indirektes Ziel einer Notenbank sein sollte. Priorität hat nach dem Modell der unabhängigen Deutschen Bundesbank die Preisstabilität, die durch andere Aufgaben nicht beeinträchtigt werden sollte. Das amerikanische Federal Reserve System mischt diesem Ziel noch die Förderung der Beschäftigung bei. In manchen Zentralbanken sind zudem die jeweiligen Finanzaufsichtsbehörden angesiedelt. Und seit Kurzem kommen nun verstärkt die Forderung an sowie der Wille bei Notenbanken auf, Klimarisiken bei der Erfüllung ihrer Ziele zu berücksichtigen. Zu Recht? Drohen nicht Interessenkonflikte?

Besagtes Modell entsprang der Vorsicht vor zu großer Zentralisierung von Macht bei einzelnen staatlichen Organen in der deutschen Nachkriegszeit sowie vor einer Wiederholung der Instrumentalisierung der Reichsbank, an deren Ende die Hyperinflation in den 1920ern stand. Deshalb wurde 1957 die Bundesbank von der Politik unabhängig und mit dem konservativen Ziel der Geldwertstabilität aus der Taufe gehoben. Während der achtziger Jahre folgten Zentralbanken vieler anderer Staaten diesem Modell der Unabhängigkeit. In der Rückschau kann dieser Schritt als der richtige betrachtet werden, da mittlerweile in mehreren Arbeiten ein Zusammenhang zwischen unabhängigen Zentralbanken und niedrigen Inflationsraten sowie geringer Varianz der Inflationsraten hergestellt werden konnte.

Was passiert aber nun, wenn der Zeitgeist sich ändert, wenn statt einer konservativen Geldpolitik dauerhaft eine expansive gefordert wird und Wünsche an Zentralbanken herangetragen werden, die sie, auch wenn es keine formellen Ziele im Mandat der Notenbank wären, erfüllen soll? Was wären die Folgen, wenn dauerhaft nur noch willfährige Kandidaten an die Spitze einer eigentlich unabhängigen Institution gesetzt werden? Welchen Druck können Politiker erzeugen, die früher einmal auf der anderen Seite, an der Spitze einer Notenbank, standen?

Die zunehmenden Ziele abseits der Preisstabilität - die Rettung eines verschuldeten Staates, die Stabilisierung der beaufsichtigten Banken, die Entwertung einer Währung zur Exportförderung, die Rettung des Klimas oder die Bewältigung einer Pandemie - verwässern immer mehr das ursprünglich vorwiegend eindimensional ausgerichtete Modell der unabhängigen Notenbanken und fordern ein Abwägen der Ziele gegeneinander. Sobald es dabei aber zu Konflikten mit Bereichen wie Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Fiskal- oder Klimapolitik kommt, darf auch die Frage gestellt werden, ob ein Akteur für ein solches Einmischen seine formelle Unabhängigkeit gegen ein demokratisches Mandat eintauschen müsste.

Dem geschriebenen Wort zufolge sind Notenbanken weiterhin unabhängig. Allerdings zwingen die Umstände sie immer mehr in bestimmte Richtungen, wodurch man argumentieren kann, dass zwar die formelle Unabhängigkeit weiter besteht, die reelle Unabhängigkeit aber zunehmend verloren geht. Derzeit wird der Kurs der expansiven Geldpolitik ungebremst verfolgt, auch wenn diese offensichtlich nicht mehr oder nur bedingt wirkt, wie sich an den fragilen Inflationszahlen zeigt. Zentralbanken müssen achtgeben, dass sie sich nicht ungewollt wieder zu Gespielinnen externer Kräfte machen, die ihre schwerwiegenden geldpolitischen Eingriffe in verschiedene andere Politikbereiche mit katastrophalem Effekt auszunutzen wissen, ebenso wie in vergangenen Zeiten. Ob Geschichte sich wiederholt oder nicht, liegt wie immer an den handelnden Personen.

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Gregor Brunner , Redaktionsvolontär , Fritz Knapp Verlag GmbH
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