Reizthema Negativzinsen

Dr. Berthold Morschhäuser, Chefredakteur, Foto: Fritz Knapp Verlag GmbH

Als die Zfgk-Redaktion vor fast sieben Jahren in der deutschen Kreditwirtschaft nach einer Einschätzung zu den Chancen und Risiken einer langen Niedrigzinsphase gefragt hat (ZfgK 1-2013), war von Negativzinsen nur an einer Stelle die Rede. Mit dem dezenten Hinweis auf japanische Verhältnisse wurde vermutet, dass Negativzinsen im Einlagenbereich den dortigen Erfahrungen nach hierzulande nicht durchsetzbar sind. Zudem überwog die Hoffnung, nur eine zeitlich eng begrenzte Niedrigzinsphase überstehen zu müssen. Spätestens im Juni 2014 deutete sich dann an, dass die Durststrecke länger dauern könnte als in der Branche erwartet. Damals senkte die EZB den Zinssatz für die Einlagefazilität der Banken erstmals in den negativen Bereich ab. Bis Mitte März 2016 war er weiter auf minus 0,4 Prozent herabgeschleust und der Leitzins auf 0,0 Prozent festgelegt.

Erste Banken hatten seinerzeit schon vergleichsweise schnell reagiert und auf manche Kundeneinlagen Negativzinsen aufgerufen. Das Thema ist also längst nicht mehr neu. Betroffen waren meist neue Gelder von Großeinlegern im Firmenkundengeschäft und später auch von Privatpersonen ab Summen von 100 000 Euro. Parallel dazu wurde ab dem Jahre 2015 die Frage aufgeworfen, inwieweit negative Zinsen für die Anleger überhaut juristisch haltbar sind. Dürfen Banken einseitig ohne Zustimmung der Kunden aus laufenden Verträgen von einer positiven Verzinsung auf Negativzinsen umsteigen? Erlauben die Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Erhebung von Verwahrentgelten beziehungsweise lassen die AGBs sich entsprechend anpassen? Bei bestehenden Verträgen wird das überwiegend verneint. Ein Zivilrechtsstreit der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg gegen die Volksbank Reutlingen vor dem Landgericht Tübingen hat der Klägerin diesbezüglich Ende Januar 2018 mit Blick auf Altverträge Recht gegeben. Viele Banken suchen deshalb nach Möglichkeiten, in Verhandlungslösungen mit den Bestandskunden Änderungsverträge mit einem Verwahrverhältnis zu vereinbaren und bei Neuverträgen die Erhebung von (kostendeckenden) Verwahrentgelten einzubeziehen.

Auch die juristische Ausgestaltung der Umkehr der Zahlungslast bei Kreditgeschäften ist zuletzt in den Blick gerückt. Nachdem die KfW konkrete Pläne vorgetragen hat, im Geiste ihres Geschäftsmodells ab Herbst 2020 Negativzinsen im Fördergeschäft anzubieten, könnte es an dieser Stelle schon in absehbarer Zeit nicht mehr nur um besondere Fälle wie die Behandlung von Zinsgleitklauseln gehen, sondern um die Massentauglichkeit von Negativzinsen im gesamten Förderkreditgeschäft. Nicht zuletzt wurden Anfang Oktober 2019 die EZB-Ratsbeschlüsse zur Erhebung der negativen Einlagefazilität von Bank- und Kapitalmarktrechtlern der Universität Hamburg und einer Berliner Kanzlei in einem Gutachten als rechtswidrig einstuft. Weil sie für Rechtsakte mit solch gravierenden Auswirkungen eine Mitwirkung der Mitgliedsstaaten einfordern, legen die Initiatoren den hiesigen Banken beziehungsweise Bankenverbänden eine Klage nahe. Zufriedenstellend geklärt sind all diese Rechtsfragen bis heute nicht. Eine höchstrichterliche Rechtsprechung steht noch aus. Naheliegende Folge ist seit Jahren eine hochgradige Verunsicherung bei Kunden und Banken.

Negativzinsen für die Masse der Privatkunden unbedingt zu vermeiden, war deshalb nicht zuletzt der unsicheren Rechtslage wegen die klare Devise der deutschen Kreditwirtschaft. Sie hat als Handlungsoptionen für ihre Ertragsrechnung weniger auf die direkte Überwälzung ihrer Zinsaufwendungen an die EZB auf die Kunden denn auf andere Maßnahmen gesetzt, etwa auf Zinsanpassungen, Preiserhöhungen insbesondere im Bereich der Kontoführung, einen Ausbau des provisionsabhängigen Geschäftes, verstärkte Anstrengungen zur Kostensenkung sowie eine Ausweitung des Kreditgeschäftes. Doch diese Instrumente sind angesichts der sichtbaren konjunkturellen Delle und den angekündigten Kostensenkungsprogrammen mit spürbarem Mitarbeiterabbau in vielen Branchen mehr und mehr ausgereizt. Schon im auslaufenden Geschäftsjahr 2019 dürften die aktuellen Planungsrechnungen in vielen Banken für die kommende Bilanzsaison auf eine schwierige Ertragslage hindeuten.

Insofern ist es keineswegs überraschend, dass sich nach den Ankündigungen der EZB im Sommer dieses Jahres, ihre expansive Geldpolitik beizubehalten und gar die Anleihekäufe wieder aufzunehmen, gerade in den Verbünden die Tonlage in der Diskussion über die Wirkungen und Folgen verschärft. Die kommunikative Einstimmung der Kunden auf eine Erhebung von Negativzinsen im Massengeschäft ist dabei nicht zuletzt ein Vehikel, um die generelle Kritik an der Geldpolitik der EZB in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Von der Sachlage her ist das nachvollziehbar. Die überwiegend sehr auf das zinsabhängige Geschäft angewiesenen deutschen Banken leiden unter der anhaltenden Margenverengung im Zinsgeschäft, wissen um die Risiken einer noch weiteren Ausweitung des Kreditgeschäftes und finden weniger Spielraum für Kostensenkungen. Auch die Sorge um die Belastung der hochgradig auf Einlagen und festverzinsliche Werte gestützten privaten Altersvorsorge breiter Bevölkerungsschichten ist sicherlich berechtigt. Aber eine allzu starke Schelte der EZB-Politik ist eine Gratwanderung, denn sie erzeugt nicht nur öffentlichen Druck für Veränderungen, sondern gefährdet das Vertrauen in die Notenbank.

Gewiss sind die Negativzinsen eine Folge der Geldpolitik. Aber man darf der EZB nicht gleich unterstellen, dass sie die deutschen Banken in den Ruin treiben will. Die Notenbank weiß um mögliche Nebenwirkungen ihrer expansiven Geldpolitik, angefangen von der Gefährdung der Funktion des Zinses als Knappheitsindikator an den Geld-, Kredit- und Kapitalmärkten über die Lenkung der Produktionsfaktoren in die Wirtschaftssektoren, in denen sie am dringendsten benötigt werden (Allokationsfunktion), der vermögensverzehrenden Wirkung (Akkumulationsfunktion) bis hin zu den Risiken für die Finanzstabilität durch eine Aushöhlung der Geschäftsmodelle von Banken, Versicherungen und Bausparkassen. All diese Punkte sind in den vergangenen Jahren in Fachbeiträgen (siehe etwa ZfgK 13-2017 und ifo Schnelldienst 20-2019) und vielen Veranstaltungen mit Beteiligung hochrangiger EZB-Vertreter angesprochen und diskutiert worden. Zudem steht das schwierige Mandat der EZB, nämlich einerseits eine Geldpolitik für alle Euroländer betreiben zu müssen, dabei andererseits einer bei allen Harmonisierungsbemühungen im Prinzip eigenständigen Fiskalpolitik der Länder ausgesetzt zu sein, auf nationaler wie europäischer Ebene unter juristischer Beobachtung beziehungsweise Überprüfung. Und nicht zuletzt sind die Niedrig- oder Negativzinsen global betrachtet kein europäisches Phänomen, sondern die Renditen von vielen Staatsanleihen notieren weltweit im negativen Bereich.

In dieser schwierigen Gemengelage stehen Politik, Wissenschaft, Kreditwirtschaft und Notenbanken in einer gemeinsamen Verantwortung. Politiker haben sich mit EZB-Schelten bisher erfreulicherweise zurückgehalten. Es ist besser, konstruktiv und ohne Emotionen über Vorschläge wie eine steuerliche Absetzbarkeit von Negativzinsen zu diskutieren als ein EZB-Bashing zu betreiben. Das sollten auch die Wissenschaft und die Kreditwirtschaft beherzigen. Nicht zuletzt die beiden großen Verbundgruppen repräsentieren per Ende 2018 mit ihren 1250 Ortbanken unter den 1785 Kreditinstituten mit 70 Prozent das Gros der hiesigen Institute. Insofern hat es eine Signalwirkung, wie sich deren Spitzenverbände BVR und DSGV in Sachen Negativzinsen positionieren. In einschlägigen Portalen und vielen Printmedien werden längst Listen geführt, welche Banken ab welchen Beträgen Negativzinsen erheben. Es wird genau registriert, ob die rechtlich selbstständigen Mitgliedsinstitute ihren Kunden gegebenenfalls nur den eigenen Aufwand ihrer Zinsaufwendungen gegenüber der EZB belasten oder am Ende mit diesem Instrument gar noch ihre Ertragsrechnungen verbessern wollen (siehe Gespräch des Tages).

Die EZB-Geldpolitik wird für ganz Europa und nicht für Deutschland gemacht. Wie die Masse der hiesigen (Klein-)Sparer auf Negativzinsen im Einlagen- und möglicherweise bald auch im Kreditgeschäft reagieren wird, ist indes noch völlig unklar. Das sollte die Notenbank bei der künftigen Ausrichtung ihrer Geldpolitik nicht ausblenden. Sonst droht beim Thema Negativzinsen ein schleichender Vertrauensverlust in die EZB und in die Kreditwirtschaft.

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