Zeit für eine neue Kultur

Carsten Englert, Redakteur Foto: Fritz Knapp Verlag

Das Jahr 2020 steht im Zeichen der Corona-Pandemie. Diese hat und hatte großen Einfluss auf nahezu alle Bereiche des Lebens und hat in diesem Jahr alle anderen Themen überlagert. Vieles hat sich verändert. Auch auf den Kapitalmarkt hat die Corona-Krise natürlich großen Einfluss. Allerdings war manches davon überraschend. Dass es zunächst zu einem großen Einbruch der Aktienmärkte kam, als der erste große Lockdown begann, war natürlich wenig verwunderlich. Doch was sich dann in Deutschland zeigte, war zumindest ungewöhnlich. Mitten auf dem Tiefpunkt fassten sich viele Privatanleger ein Herz und griffen kräftig zu. Die Folge: Innerhalb von nur etwas mehr als zwei Monaten hatte der DAX beinahe wieder sein altes Niveau erreicht. Natürlich haben dazu auch die gigantischen Rettungspakete und Kreditlinien der Regierungen und nicht zuletzt die Maßnahmen der EZB (PEPP) beigetragen. Dennoch ist es ungewöhnlich, dass die kleinen Investoren hierzulande auf dem Tiefpunkt schon wieder so zuschlagen. Bei früheren Crashs wurde den Privatanlegern in Deutschland die Lust auf Aktien verdorben und viele mieden in der Folge den "bösen spekulativen Kapitalmarkt". So lange, bis er wieder Rekorde verzeichnete. Dann kauften sie wieder und waren erneut enttäuscht bei der nächsten größeren Korrektur ... der Kardinalfehler des Investierens in Aktien!

Doch diesmal, das hat unter anderem auch die Deka bei der Präsentation ihrer Halbjahreszahlen hervorgehoben, haben die Anleger in Deutschland besonnener reagiert, ruhige Hand bewahrt und klug hinzugekauft. Ein nicht mehr für möglich gehaltener Lernprozess hat offensichtlich doch noch eingesetzt. Das ist die Situation auf der Angebotsseite des Kapitals. Doch der Kapitalmarkt hat zwei Pole. Den Investoren stehen die Emittenten als Nachfrager des Kapitals gegenüber. Wie hat es sich bei diesen verhalten? Dazu lohnt es sich, einen Blick auf die globale Entwicklung des Marktes für Initial Public Offerings (IPOs) zu werfen, dem Primärmarkt zum Einsammeln von Eigenkapital für Unternehmen. Gerade in der Krise, so sollte man zumindest meinen, dürfte der Bedarf an Eigenkapital gestiegen sein. Laut dem "Global IPO Watch" von Pricewaterhouse Coopers (PwC) ist in der Tat eine vermehrte Eigenkapitalbeschaffung via IPOs zu verzeichnen. Zumindest global. So ist die Zahl der weltweiten IPOs von 207 im ersten Quartal 2020 im zweiten Quartal zwar zunächst auf 186 gesunken. Doch im dritten Quartal, nachdem die Unsicherheit aus dem Vorquartal weitestgehend weg war, explodierte die Zahl förmlich auf 477. Im ersten Quartal sammelten die Unternehmen dabei 35,7 Milliarden US-Dollar ein. Trotz sinkender Zahl stieg der Emissionserlös im zweiten Quartal auf 42,3 Milliarden US-Dollar. Und im dritten Quartal schließlich drehte auch der Betrag des eingesammelten Kapitals auf 116,7 Milliarden US-Dollar mächtig auf.

Auf globaler Ebene ist also genug Nachfrage und auch Angebot an Kapital für junge Unternehmen vorhanden. Sogar sehr viel, wie das prominente Beispiel des chinesischen Fintech Ant Group - eine Tochter von Alibaba - zeigt. Es sollte der größte Börsengang aller Zeiten werden, das Unternehmen wollte den Rekordbetrag von 34,5 Milliarden US-Dollar einsammeln. Noch aberwitziger war das Kapitalangebot: Mit einer 872-fachen Überzeichnung wollten chinesische Kleinanleger gleich Aktien im Wert von umgerechnet etwa 2,4 Billionen Euro - das deutsche BIP soll laut IWF-Schätzung 2020 gut 3,0 Billionen Euro betragen - haben. Auch das dürfte ein Rekord sein. Allerdings hat sich das IPO in letzter Minute sowohl in Schanghai als auch Hongkong zerschlagen, da die Regulatoren in China die Transaktion stoppten. Warum genau, ist noch nicht bekannt.

Doch die Entwicklung unterscheidet sich in den wichtigen Wirtschaftsräumen und Ländern. Auf dem amerikanischen Kontinent stieg die IPO-Aktivität gegenüber 2019 stark an. So wurden dort bis zum 30. September im laufenden Jahr 292 IPOs an den Start gebracht, im gesamten Jahr 2019 waren es 251. Das dabei eingesammelte Kapital stieg von 74,1 Milliarden US-Dollar im gesamten Vorjahr auf bislang 111,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020. In der Region Asien-Pazifik sank zwar die Zahl der IPOs von 660 auf bislang 498 und das eingesammelte Kapital auf 68,8 Milliarden US-Dollar nach 71,7 Milliarden im Vorjahr. Sollte Ant doch noch an die Börse kommen in diesem Jahr, wäre die Marke von 100 Milliarden US-Dollar allerdings schnell übersprungen. Asien ist also bei der Anzahl der IPOs global führend und Amerika, dort natürlich insbesondere die USA, ist global führend bei der Höhe des eingesammelten Kapitals. Und Europa? Die Region EMEA - also Europa plus Naher Osten und Afrika - ist überall globales, trauriges Schlusslicht. Läppische 80 IPOs und 14,3 Milliarden US-Dollar eingesammeltes Kapital stehen 2020 in den ersten drei Quartalen zu Buche.

Wie sieht es dabei speziell in Deutschland aus? Bei der Zahl der IPOs im laufenden Jahr (Stand: 30. September 2020) rangiert Deutschland mit fünf Börsengängen in der Region EMEA auf dem fünften Platz, hinter Norwegen, Großbritannien, Israel und Schweden. Beim eingesammelten Kapital mit traurigen 1,1 Milliarden US-Dollar (30. September) liegt Deutschland ebenfalls auf Rang fünf hinter Großbritannien, Niederlande, Polen und Norwegen. Um diese Platzierungen mal einordnen zu können: Laut den Zahlen des IWF (World Economic Outlook Database, Oktober 2020) wird das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland in diesem Jahr fast dreimal so hoch ausfallen wie in Norwegen, Israel und Schweden zusammen. Allerdings haben diese drei Länder gemeinsam jedoch siebenmal so viele IPOs wie Deutschland an den Markt gebracht. Zumindest norwegische Unternehmen haben dabei auch mehr Kapital eingesammelt als die deutschen Pendants. Betrachtet man das dritte Quartal 2020 isoliert, ist es zwar etwas besser, aber immer noch weit entfernt von dem, was wünschenswert wäre. Bei der Zahl der IPOs und beim eingesammelten Kapital liegt Deutschland hier immerhin auf Rang drei. Allerdings reichten dafür schon drei IPOs mit kumuliert 0,8 Milliarden Euro Emissionsvolumen.

Allein mit der Verunsicherung der Emittenten durch die Corona-Pandemie ist das traurige Bild des IPO-Marktes in Deutschland aber nicht zu erklären. Der Trend zu immer weniger IPOs hält hierzulande dafür schon zu lange an. Das zeigt der Blick auf die IPO-Statistiken der Deutschen Börse und von PwC. Der vorläufige Tiefpunkt war 2019 mit nur vier Börsengängen erreicht, tendenziell sinkt die Zahl seit dem Jahr 2012 (zehn IPOs). Zum Vergleich: Global stieg die Zahl von 2012 bis Ende September 2020 hingegen um gut 19 Prozent. Auch wenn die Zahl in diesem Jahr wieder leicht gestiegen ist, wird man den Eindruck nicht los, dass der Neuemissionsmarkt in Deutschland komplett austrocknet.

Der Kapitalmarkt wurde von deutschen Unternehmen ja schon immer eher stiefmütterlich behandelt. Aber woran liegt es, dass sich das in den letzten Jahren und vor allem jetzt auch in der Krise nochmals verschlimmert? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten und dürfte vielschichtig sein. Doch eines wird dadurch klar: Es wird endlich Zeit, die Kapitalmarktunion weiter voranzutreiben! Und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Denn es ist nicht nur Deutschland, ganz Europa gibt hier ein trauriges Bild ab, zumal ein Viertel des 2020 in der Region EMEA eingesammelten Kapitals in Großbritannien anfiel, das die EU nun verlässt. Eine ausreichende Versorgung mit Eigenkapital ist jedoch unabdingbar, um die vielen großen Zukunftsherausforderungen lösen zu können. Der Staat allein wird das nicht richten können und ist dabei sogar kontraproduktiv. Er sollte sich auf die erwähnten Rahmenbedingungen beschränken.

Für eine bessere (beidseitige) Aktienkultur und bessere Versorgung der Realwirtschaft mit Kapital braucht es nicht nur mehr Aktionäre, eine neue Börsengangskultur der Unternehmen wäre ebenso dringlich und könnte so viele Kräfte in der Realwirtschaft freisetzen. Auf gesetzlicher Ebene wäre es hilfreich, wenn die Kapitalmarktunion vorankäme und somit für einheitliche Regeln in Europa gesorgt würde. Zudem sollten die Anforderungen an die Prospektpflicht und sonstige regulatorische Vorgaben vereinfacht werden, um die Kosten für einen Börsengang zu senken. Aufgrund der seit Jahren anhaltenden Liquiditätsschwemme bei gleichzeitigem Renditenotstand waren die Voraussetzungen für Unternehmen nie besser. Daher vor allem der Appell an die Unternehmer: Geht an die Börse!

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Carsten Englert , Leitender Redakteur, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen , Fritz Knapp Verlag
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