Die Brexit-Folgen werden überschätzt

Glaubt man vielen veröffentlichten Meinungen, so steht in einigen Tagen am 23. Juni die wirtschaftliche Zukunft Europas, ja der Welt, auf dem Spiel. Eine Studie der Confederation of British Industry (CBI) sagt voraus, dass eine Entscheidung der Briten zum Austritt aus der EU die britische Wirtschaft bis zum Jahr 2020 insgesamt 100 Milliarden Britische Pfund und 950 000 Arbeitsplätze kosten wird. Andere Beobachter befürchten nicht nur ein lahmendes Wirtschaftswachstum auf der Insel und ein Einbrechen der Landeswährung, sondern sind darüber hinaus überzeugt, dass der Brexit die Weltwirtschaft insgesamt in Turbulenzen stürzen würde. Auch auf die Immobilienmärkte, orakelt beispielsweise Mark Carney, der Chef der Bank of England, werde ein Anti-EU-Votum negative Auswirkungen haben.

Doch auch im Fall des Brexit gilt, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Einmal abgesehen davon, dass noch längst nicht feststeht, ob sich wirklich die Mehrheit der Briten für den EU-feindlichen Kurs aussprechen wird, werden die immobilienwirtschaftlichen Folgen des Brexit deutlich geringer ausfallen, als dies in der Regel dargestellt wird. Und dies aus mehreren Gründen:

Erstens: Selbst ein Nein der Stimmberechtigten zum Verbleib in der EU würde die Verbindungen zwischen Brüssel und dem Vereinigten Königreich nicht auf einen Schlag kappen. Vielmehr käme es zu längeren Verhandlungen über das künftige gegenseitige Verhältnis. Dabei ist nicht einmal auszuschließen, dass es am Ende dieses Prozesses zu einer zweiten Volksabstimmung kommen könnte, die dann möglicherweise die EU-Befürworter für sich entscheiden würden. Und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, zeigen die Beispiele von Norwegen und der Schweiz, dass auch Nicht-EU-Mitgliedsstaaten enge wirtschaftliche Beziehungen zu den Ländern der Europäischen Union unterhalten können.

Zweitens: Immobilienunternehmen machen ihre Entscheidungen nicht ausschließlich an einem möglichen Brexit fest, sondern orientieren sich an grundsätzlichen strukturellen Entwicklungen. Aus diesem Grund wird der britische Investmentmarkt auch im Fall eines Nein zur EU am 23. Juni mittel- und langfristig keinen Einbruch erleiden. Denn insbesondere für außereuropäische Investoren ist die Frage "EU oder nicht" von zweitrangiger Bedeutung. Viel wichtiger ist für sie, dass London neben Paris der einzige europäische Standort ist, an dem zahlreiche großvolumige Objekte gehandelt werden. Und solche Losgrößen benötigen beispielsweise asiatische Investoren, um auf dem europäischen Markt Fuß zu fassen.

Drittens: Auch die oft ins Feld geführten negativen Auswirkungen des Brexit auf den Finanzplatz London werden nicht im vorhergesagten Ausmaß eintreffen. Vielmehr ist dieser Finanzplatz schon heute nicht unangefochten. Denn zum einen haben sich Frankfurt, Paris und Dublin zu ernsthaften Wettbewerbern für das Londoner Finanzzentrum entwickelt. Zum anderen werden in Zukunft - Brexit hin oder her - Banken als Nachfrager auf dem Büromarkt im Vergleich zu neuen Playern wie beispielsweise großen Internetfirmen an Bedeutung verlieren. Das wiederum bedeutet, dass Investoren, die in Londoner Büroimmobilien investiert sind, auch ohne Brexit-Diskussion auf diese strukturellen Veränderungen reagieren müssen.

Das alles heißt nicht, dass ein allfälliger Brexit völlig ohne Auswirkungen auf den britischen und den europäischen Immobilienmarkt bleiben wird. Natürlich wird er Schleifspuren in der britischen Wirtschaft verursachen. Und natürlich führt die politische Debatte bereits jetzt zu Unsicherheit - und Unsicherheit ist das, was Investoren am wenigsten mögen. Die Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS) hat in einer Studie aufgezeigt, dass internationale Unternehmen Investitionen in Großbritannien angesichts dieser Unsicherheit bereits vor der Abstimmung zurückgestellt haben. Die Folgen sind unübersehbar: Das Transaktionsvolumen ist im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen.

Kurzfristig orientierten Investoren, die ihre Objekte in drei oder fünf Jahren wieder verkaufen wollen, gibt ein möglicher Brexit somit durchaus Anlass, beunruhigt in die Zukunft zu blicken. Für institutionelle Investoren mit langfristigem Haltehorizont hingegen ist ein Anti-EU-Votum der Briten kein Grund zur Panik. Ja, ein möglicher Austritt Groß britanniens ist ein Faktor, der Unsicherheit verursacht - aber in den nächsten 15 bis 20 Jahren werden sich noch viele andere unvorhersehbare Ereignisse massiv auf den Immobilienmarkt auswirken, ohne dass sich Investoren deshalb vom Markt zurückziehen würden.

Im Übrigen lohnt sich ein Blick zurück auf das Jahr 1975, als die Briten schon einmal über ihr Verhältnis zu Europa abstimmten. Das Ergebnis war eindeutig: Gut zwei Drittel entschieden sich dafür, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu bleiben.

Dr. Marcus Cieleback, Group Head of Research, PATRIZIA Immobilien AG, Augsburg

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