REGULIERUNG UND RISIKOMANAGEMENT

BELEIHUNGSWERTE: FERN VON DER REALITÄT

Marcus Buder Quelle: Berliner Sparkasse

Die Beleihungswertvermittlungsverordnung (BelWertV) ist zweifellos ein wichtiger Garant für die Stabilität auf dem deutschen Immobilienmarkt. Schließlich verhindert sie, dass sich Preissteigerungen zu schnell in den Bilanzen der Immobilienfinanzierer niederschlagen. Die Kehrseite dieser konservativen Herangehensweise: In den vergangenen Jahren hat sich infolge der dynamisch steigenden Immobilienpreise ein erhebliches Auseinanderdriften zwischen Markt- und Beleihungswerten entfaltet, sehr zum Leidwesen der finanzierenden Institute. Die Autoren halten die BelWertV in ihrer derzeitigen Ausgestaltung deshalb nicht mehr für zeitgemäß und plädieren für gezielte Nachjustierungen. Drei Stellschrauben erachten sie dabei als besonders geeignet: den Kapitalisierungszins, die Bewirtschaftungskosten und Ausnahmen für erstklassige Objekte beziehungsweise Standorte. Red.

Hätte es die Beleihungswertermittlungsverordnung (BelWertV) in den Duden geschafft, stünde sie auf Platz zwei der längsten deutschen Wörter, unmittelbar nach der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung. Doch das ist nicht ihr größtes Problem: Die durch die BelWertV ermittelten Beleihungswerte hinken den in Berlin und anderen Metropolen tatsächlich erzielten Marktwerten inzwischen so weit hinterher, dass man sie nur als Anachronismus bezeichnen kann.

Die Lücke wird immer größer. Das hat zur Folge, dass sich Bankdarlehen für die Immobilienfinanzierung unnötig verteuern. Es ist an der Zeit, die im Wesentlichen seit 2006 gültige Verordnung wieder an die Realität anzupassen. Dazu gäbe es drei geeignete Stellschrauben: Kapitalisierungszins, Bewirtschaftungskosten und Ausnahmen für erstklassige Objekte beziehungsweise Standorte.

Die Beleihungswerte werden gutachterlich ermittelt. Dazu stehen drei unterschiedliche Verfahren zur Verfügung: das Sachwertverfahren, das Vergleichswertverfahren und das Ertragswertverfahren, die auch kombiniert werden können. Für die gewerbliche Immobilienfinanzierung ist das Ertragswertverfahren entscheidend. Vereinfacht gesagt wird dazu die Nettojahresmiete mit einem Kapitalisierungsfaktor multipliziert. Entscheidend ist die Höhe dieses Kapitalisierungsfaktors beziehungsweise seines Kehrwerts, des Kapitalisierungszinses.

Kapitalisierungszins von sechs Prozent ist nicht mehr zeitgemäß

In der gewerblichen Immobilienfinanzierung legt in der Regel ein Gutachter den Kapitalisierungszins fest. Laut BelWertV ist er dabei aber eine Mindestgröße von fünf Prozent für Wohn- und sechs Prozent für Gewerbeimmobilien gebunden, für bestimmte Logistik- oder Einzelhandelskategorien sogar von 6,5 Prozent. Umgerechnet entspricht das der fünfzehn- bis zwanzigfachen Jahresmiete. Von den Multiples von 30 und mehr, die in Berlin und anderen deutschen Metropolen inzwischen aufgerufen werden, ist das weit entfernt.

Aus gutem Grund hat der Gesetzgeber die Beleihungswertermittlung so ausgestaltet, dass der Beleihungswert stets niedriger als der Markt- beziehungsweise der Verkehrswert ausfällt. Damit entsteht für die Fremdkapitalgeber von Immobilienfinanzierungen eine Art Verlustpuffer, falls das Objekt beispielsweise zwangsversteigert werden muss und dabei ein wesentlich niedrigerer Preis erzielt wird. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene trägt dieser Puffer dazu bei, dem Entstehen einer Immobilienkreditblase vorzubeugen. Das ist unbedingt zu unterstützen. Allerdings stellt sich die Frage nach der Größenordnung.

Marktwerte teilweise doppelt so hoch wie Beleihungswerte

Die BelWertV entstand in einer Zeit mit einem substanziell höheren Zinsniveau. Selbst wenn nun die Zinswende bevorstehen und das Zinstief in der Eurozone überwunden sein sollte: Sechs Prozent Zinsen auf mündelsichere Anleihen wird es im Euroraum auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Entsprechend werden auch die Mietrenditen in den begehrtesten Städten nicht mehr in solche Sphären vordringen.

Ein vielleicht extremes, aber keineswegs unrealistisches Rechenbeispiel: Wenn der Beleihungswert einer Immobilie nur halb so hoch ist wie der Marktwert, suggeriert dies einen möglichen Wertverlust von bis zu 50 Prozent. Damit ist marktübergreifend wohl kaum zu rechnen. Im hochregulierten Wohnungssegment kommt noch ein Argument hinzu: die Mietpreisbremse. In den betroffenen Städten und Stadtteilen beschränkt sie die Angebotsmiete auf 110 Prozent des Mietspiegels. Viel Spielraum für Rückgänge bei den Mieten und damit für substanzielle Wertverluste wird sich dort deshalb nicht auftürmen.

Ärgerlicher Kostentreiber

Doch das Auseinanderklaffen zwischen den Beleihungswerten und den Markt- beziehungsweise Verkehrswerten ist mehr als eine statistische Randnotiz. Bei der Immobilienfinanzierung wird die Lücke zum ärgerlichen Kostentreiber. Sie bestraft prosperierende Städte und Regionen und wirkt selbst bei der energetischen Sanierung als Hemmschuh. Wie kommt das?

Bei der Bestimmung des Fremdkapitalanteils einer Immobilienfinanzierung ist das Verhältnis Loan-to-Value (LTV) üblich, also die Relation der Darlehenshöhe zum Objektwert, womit der tatsächliche Marktwert gemeint ist. Eine typische Finanzierung besteht zum Beispiel aus 60 Prozent reinem Fremdkapital und 40 Prozent Eigenkapital, vielleicht noch mit einem gewissen Anteil Mezzaninekapital. Wenn, wie in unserem Extrembeispiel, der realistische Marktwert nun doppelt so hoch ausfällt wie der ermittelte Beleihungswert, beträgt der sogenannte Beleihungsauslauf, also der Verschuldungsgrad in Relation zum Beleihungswert, plötzlich 120 Prozent. Auf dem Papier und gemäß der BelWertV wäre das Projekt damit überschuldet.

Unrealistisch niedrige Beleihungswerte verteuern Bankdarlehen

Davon lässt sich ein gewerblicher Immobilienfinanzierer in der Regel nicht irritieren. Er kennt ja den Marktwert und kann das Potenzial des Objektes und das Marktumfeld einschätzen. Anders sieht es bei der Bankenregulierung aus. Banken und Sparkassen müssen ihre Aktiva mit Eigenkapital unterlegen. Die Höhe des zu bildenden Eigenkapitals richtet sich nach der Risikogewichtung des jeweiligen Aktivpostens.

Gemäß den Eigenkapitalvorschriften nach Basel III müssen Realkredite nur mit sehr wenig Eigenkapital unterlegt werden. Als solche gelten unter anderem grundpfandrechtlich besicherte erstrangige Immobilienfinanzierungen mit einer Beleihungsgrenze von bis zu 60 Prozent. Für sie gilt laut Basel III lediglich eine Risikogewichtung von 35 Prozent für Wohn- und 50 Prozent für Gewerbeimmobilien. In unserem Beispiel entspricht die Beleihungsgrenze von 60 Prozent aber einem tatsächlichen LTV von lediglich 30 Prozent.

Wird jedoch ein tatsächlicher LTV, sprich eine Fremdkapitalquote von 60 Prozent, angestrebt, muss das Institut die andere Hälfte des Fremdkapitals mit wesentlich mehr Eigenkapital unterlegen, was deutlich höhere Zinsen zur Folge hat. Alternativ kann der Projektentwickler selbst die Lücke mit Eigenkapital füllen. Oder er sucht nach Alternativen. Das könnten weniger streng regulierte ausländische Banken sein, aber auch alternative Kapitalgeber, die mit zusätzlichem Fremdkapital oder mezzaninen Kapitalinstrumenten aushelfen.

Alternative Finanzierungsinstrumente schließen die Lücke

Vor dem Hintergrund des Auseinanderdriftens von Markt- und Beleihungswerten und der immer größer werdenden Lücke erhalten solche alternativen Instrumente wie Anleihen oder Nachrangdarlehen von Mezzanine- und Kreditfonds, Versicherungen oder Crowdfunding-Plattformen derzeit Zulauf. Je nachdem, welche Kredittranchen und welche Laufzeiten dabei bedient werden, können dafür allerdings mitunter zweistellige annualisierte Zinssätze verlangt werden.

Würde der Gesetzgeber also den Mindestkapitalisierungszins von sechs Prozent für Gewerbeimmobilien nur um einen Prozentpunkt senken, würde die Lücke zwischen Markt- und Beleihungswert in unserem Beispiel rein rechnerisch von 50 Prozent auf 40 Prozent sinken, bei zwei Prozentpunkten sogar auf 25 Prozent. Der Beleihungsauslauf bei 60 Prozent LTV ginge dann von 120 Prozent auf 100 beziehungsweise 80 Prozent zurück.1) Das von den Banken über den Beleihungsauslauf von 60 Prozent hinaus aufzubringende Fremdkapital würde deutlich sinken und damit auch die Fremdkapitalkosten - ohne dass sich deshalb ein systemisches Risiko am Immobilienmarkt entwickeln würde.

Mindestkapitalisierungszins: Pauschale Absenkung nicht marktgerecht

Allerdings ist zu überlegen, ob eine pauschale Senkung des Mindestkapitalisierungszinses die Wirklichkeit am deutschen Immobilienmarkt angemessen abbildet. Der seit mehreren Jahren zu beobachtende deutliche Anstieg der Marktwerte fokussiert sich im Wesentlichen - mit einigen Ausnahmen - auf die großen A-Städte wie Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt. Es wird, überspitzt formuliert, nicht zwischen Berlin und Cottbus unterschieden.

Ein kleines Zugeständnis hatte der Gesetzgeber bereits gemacht: Bei erstklassigen Gewerbeobjekten darf der Mindestkapitalisierungszins unter bestimmten Bedingungen um einen halben Prozentpunkt unter den sonst angesetzten 6,0 respektive 6,5 Prozent liegen. Doch warum gilt das nur für Gewerbe- und nicht für Wohnobjekte? Auch dort gibt es Spitzenobjekte mit wesentlich niedrigeren Mietrenditen, die einen geringeren Mindestkapitalisierungszins rechtfertigen würden.

Dieses kleine Zugeständnis könnte im Rahmen einer wesentlich breiteren Regelung aufgegriffen werden. Zusätzlich zur Unterscheidung von Core- und Nicht-Core-Objekten wäre auch eine Matrix nach Standorten darstellbar. Der Mindestkapitalisierungszins in A-Städten könnte dann einen halben oder einen ganzen Prozentpunkt niedriger veranschlagt werden als in B-Städten und dort wiederum um halben Prozentpunkt niedriger als in C-Städten oder im ländlichen Raum. Denn auch die Mietrenditen liegen in Berlin, Hamburg oder München unter denjenigen im Eichsfeld oder in Ostfriesland.

Bewirtschaftungskostenpauschale ist oft zu hoch angesetzt

Neben dem Kapitalisierungszins gäbe es theoretisch noch eine weitere Stellschraube zur Modernisierung des Ertragswertverfahrens: die Bewirtschaftungskostenpauschale. Die BelWertV sieht aktuell einen Bewirtschaftungskostenabzug von 15 Prozent der Nettomieterträge vor. Nach den Mietsteigerungen der vergangenen Jahre sind die meisten Wohn- und Gewerbeimmobilien in den Metropolen von 15 Prozent nicht umlegbaren Nebenkosten jedoch weit entfernt. Damit werden die rechnerischen Erträge nochmals geschmälert und der Beleihungswert entfernt sich noch weiter vom Marktwert.

Allerdings ist Vorsicht geboten, wollte man die Pauschale deutschlandweit senken. In vielen Teilmärkten sind 15 Prozent noch immer realistische Nebenkosten. Deshalb könnte es auch hier eine überlegenswerte Option sein, zwischen Topimmobilien in A-Städten und anderen Lagen zu unterscheiden. Allerdings würden die überschaubaren Auswirkungen auf die Beleihungswerte den Aufwand für ein sehr viel komplexeres Verfahren kaum rechtfertigen.

Mit einer Absenkung des Mindestkapitalisierungszinses und der Einführung einer Matrix, die sowohl die Qualität der Objekte als auch der Standorte berücksichtigt, ließe sich die Beleihungswertermittlungsverordnung an relativ einfach Stellschrauben nachjustieren, ohne diese im Grunde sinnvolle Verordnung strukturell reformieren zu müssen. Das Ergebnis wären realistischere und faire Beleihungswerte - und niedrigere Fremdkapitalkosten für die Immobilienfinanzierung.

Fußnote

1) Ausgangslage: Marktwert = 100, Mietzins = 3 Prozent, LTV = 60 Prozent

Mindestkapitalisierungszins = 6 Prozent -> Beleihungswert = 50 -> Lücke = 50, Beleihungsauslauf = 120 Prozent

Mindestkapitalisierungszins = 5 Prozent -> Beleihungswert = 60 -> Lücke = 40, Beleihungsauslauf = 100 Prozent

Mindestkapitalisierungszins = 4 Prozent -> Beleihungswert = 75 -> Lücke = 25, Beleihungsauslauf = 80 Prozent.

DER AUTOR MARCUS BUDER Bereichsleiter Gewerbliche Immobilienfinanzierung, Berliner Sparkasse
DER AUTOR BERND MILKE Leiter Abteilung Wertermittlung, Berliner Sparkasse
Marcus Buder , Bereichsleiter Gewerbliche Immobilienfinanzierung, Berliner Sparkasse, Berlin

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