WOHNUNGSWESEN

GENOSSENSCHAFTLICH GETRAGENE QUARTIERSENTWICKLUNG - ERFAHRUNGEN AUS BADEN-WÜRTTEMBERG

Dr. Annika Reifschneider, Foto: Annika Reifschneider

"Gemeinsam handeln, mehr erreichen" - das ist der zeitlose Grundgedanke einer jeden Genossenschaft. In Baden-Württemberg versucht das Ministerium für Soziales und Integration derzeit gemeinsam mit dem dortigen Genossenschaftsverband, diesen ebenso simplen wie genialen Ansatz auch im Bereich der Quartiersentwicklung zum Durchbruch zu verhelfen. Die genauen Hintergründe und Ziele des Projekts sind Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Dabei geht die Autorin insbesondere auch auf die verschiedenen Finanzierungsmodelle sowie die Rolle der regionalen Volksbanken und Raiffeisenbanken ein. Red.

Das Thema Wohnen wird häufig als die "soziale Frage unserer Zeit" bezeichnet. Um den ländlichen Raum sowie die städtischen Quartiere lebenswert zu gestalten, muss eine funktionierende und auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichtete (Dienstleistungs-)Infrastruktur gewährleistet sein.

Neue Ansprüche an das Wohn- und Lebensumfeld

Der demografische Wandel verändert das Zusammenleben, das hat auch der Bericht der Enquetekommission Pflege aus dem Jahr 2016 bestätigt. Neben Herausforderungen wurden dort auch viele Potenziale herausgestellt, die im Bereich der Quartiersentwicklung gehoben werden können. Basierend auf diesen Empfehlungen der Enquetekommission Pflege verfolgt etwa das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg seit 2017 die Landesstrategie "Quartier 2030 - Gemeinsam.Gestalten."

Das Ziel von Quartiersentwicklung ist es, mit einer sozialräumlichen Orientierung ein Umfeld zu schaffen, das ein gutes Miteinander und Älterwerden vor Ort ermöglicht. Das betrifft altersgerechte Angebote, aber auch solche, von denen noch mehr Menschen im Quartier profitieren, wie beispielsweise Angebote für junge Familien und Alleinlebende. Zusätzlich kann die Quartiersentwicklung auch ökologische Aspekte bei der Konzeption von Energie- und Mobilitätskonzepten berücksichtigen und innovative Formate wie Co-Working-Spaces aufgreifen.

Dabei handelt es sich also zum einen um Maßnahmen, dem demografischen Wandel zu begegnen und allen Menschen ein gutes Altern in ihrer gewohnten Umgebung zu ermöglichen. Zum anderen sollen innovative Wohn- und Lebensräume geschaffen werden, die den heutigen Wünschen der Bewohner entsprechen. Dabei geht das Verständnis von Wohn- und Lebensräumen über die "eigenen vier Wände" hinaus, die Schaffung einer sorgenden Gemeinschaft sowie von Orten der Begegnung gehen mit diesen Maßnahmen Hand in Hand.

Zudem profitieren vom Quartier nicht nur die Menschen vor Ort, sondern auch die Standorte selbst. Durch die Bindung der Bewohner und wirtschaftlichen Akteure an ihr Quartier entsteht häufig ein vertrauensvoller Umgang untereinander sowie eine verstärkte Bindung und Identifikation mit dem Quartier.

Wettbewerb um die innovativsten Ideen

Die genossenschaftlich getragene Quartiersentwicklung schafft neben dem reinen Wohnen auch ein soziales Umfeld, bietet vielfältige Leistungen aus dem Bereich der Daseinsvorsorge, kann neue Dimensionen der Infrastruktur schaffen und ermöglicht ein Zusammenwirken aller Akteure.

Diese Vorzüge der (Sozial-)Genossenschaften in der Quartiersentwicklung sind es, die das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg dazu bewogen haben, im Rahmen der Landesstrategie "Quartier 2030 - Gemeinsam.Gestalten." gemeinsam mit dem Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband (BWGV) und finanziert aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg das Projekt "Genossenschaftlich getragenen Quartiersentwicklung" auf den Weg zu bringen. Herzstück des Projektes ist ein Wettbewerb, bei dem die innovativsten Ideen und Initiativen für die Entwicklung von Quartieren gesucht werden.

Hierbei steht die Unterstützung von Ideen für die Entwicklung von Quartieren vor Ort im Vordergrund. Dazu erhalten interessierte Initiativen eine kostenlose Erstberatung durch den BWGV, Unterstützung beim Erstellen von Mustersatzungen, zahlreiche Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch und nicht zuletzt individuelle Beratungsangebote - durch den BWGV sowie die Projektpartner, sodass eine fachliche Expertise in den Bereichen Beteiligung, Finanzierung, Einwerben von Fördermitteln, architektonische Gestaltung, Organisation von Betreuung und Pflege sowie natürlich die Vermittlung von Grundlagen zum Genossenschaftswesen vorhanden ist.

Alters- und generationengerecht

Die drei Preisträger werden zudem durch Experten und Partner des BWGV von der Gründung bis zur Eintragung ins Genossenschaftsregister intensiv begleitet und unterstützt, von Beratungsangeboten und Betreuung vor Ort bis hin zur Etablierung einer eigenen Homepage.

Die Landesstrategie "Quartier 2030 - Gemeinsam.Gestalten." hat das Ziel, das Wohnumfeld der Menschen alters- und generationengerecht zu gestalten. In einem Quartier sollen sich die Menschen wohlfühlen, eingebunden sein und alles Notwendige vorfinden - und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Familienstand. Aufbauend auf diesem Anliegen ist es Ziel des gemeinsamen Projektes, den vielen Initiativen im ganzen Land die Möglichkeiten der genossenschaftlichen Quartiersentwicklung näherzubringen und bei der Umsetzung zu unterstützen.

Durch die kostenlose Erstberatung können die Akteure herausfinden, ob ein Genossenschaftsmodell für sie überhaupt infrage kommt und welche Punkte dafür zu klären sind. Zudem werden der Erfahrungsaustausch zwischen den Initiativen gefördert, bei der Partnersuche unterstützt und regelmäßige Vernetzungsangebote, Workshops, Barcamps und Webinare angeboten.

Vielversprechende Ansätze im Bereich der Daseinsvorsorge

Bereits seit einigen Jahren machen die Einwohner in vielen dörflichen Gebieten, aber auch in städtischen Strukturen die gleichen Erfahrungen: Angebote der Daseinsvorsorge fallen weg, gewisse Bedarfe können somit nicht mehr zufriedenstellend erfüllt werden. Hierbei sind unterschiedliche Ausprägungen zu beobachten, vom Wegfall der letzten Einkaufsmöglichkeit vor Ort und einer damit einhergehenden fehlenden Nahversorgung, über die Schließung von Kultureinrichtungen bis zur unzulänglichen Infrastruktur in den Bereichen Mobilität oder im Hinblick auf Betreuungsleistungen sowie die ärztliche Versorgung. Hier bieten genossenschaftliche Modelle schon heute in vielen Bereichen nachhaltige, innovative und zukunftsträchtige Lösungsansätze.

Der BWGV hat in den vergangenen Jahren spannende Projekte in diesem Umfeld auf den Weg gebracht und begleitet. Im Bereich der Nahversorgung zählt der BWGV aktuell rund 30 genossenschaftliche Dorfläden zu seinen Mitgliedern. Viele davon stehen inzwischen auf wirtschaftlich soliden Beinen und bereichern zudem die Lebensqualität vor Ort. Nicht nur durch die ortsnahe Versorgung mit Lebensmitteln und weiteren Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs, sondern auch durch die Schaffung sozialer Treffpunkte.

Auch ergibt sich häufig die Situation, dass im Dorf oder Stadtteil ein Gebäude leer steht und die Menschen vor Ort sehr genaue Vorstellungen und Wünsche bezüglich der zukünftigen Nutzung des Gebäudes haben. Beispiele in diesem Zusammenhang sind die Schaffung von Wohnraum kombiniert mit verschiedenen Angeboten der Daseinsvorsorge, wie zum Beispiel Pflege- und Betreuungseinrichtung, die Sicherstellung der medizinischen Versorgung (etwa in Form eines genossenschaftlich organisierten medizinischen Versorgungszentrums) oder die Ansiedelung eines Gasthauses.

Mithilfe einer Genossenschaft kann ein solches Objekt gemeinschaftlich konzipiert und umgesetzt werden, stets unter der Maßgabe der wirtschaftlichen Tragfähigkeit. Die Rechts- und Unternehmensform der eingetragenen Genossenschaft (eG) ermöglicht bei der Realisierung dieser Projekte nicht nur die Partizipation aller Beteiligten vor Ort, sondern weist auch verschiedene Möglichkeiten im Hinblick auf die Finanzierung auf. So können sich Kommunen, zivilgesellschaftliche Akteure, Bürger ebenso wie Unternehmen, Stiftungen oder kirchliche Einrichtungen gemeinsam auf den Weg machen, um sowohl in ländlichen Gebieten wie auch in städtischen Quartieren den Herausforderungen der Zeit, wie zum Beispiel den demografischen Wandel oder fehlenden Angeboten der Daseinsvorsorge, gemeinsam zu begegnen.

Genossenschaftsbanken kommt Schlüsselrolle zu

Dabei übernehmen zum Teil auch die regionalen Genossenschaftsbanken eine wichtige Rolle bei der Realisierung der Projekte: Ob rein als Kreditgeber oder selbst Mitglied tragen sie durch ihre ausgeprägten Netzwerke mit dazu bei, ein genossenschaftliches Ökosystem zu etablieren und alle Beteiligten vor Ort optimal zu vernetzen. Ganz nach dem Motto von Friedrich Wilhelm Raiffeisen: "Was den Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele".

Die genossenschaftlich getragene Quartiersentwicklung trägt also dazu bei, die Attraktivität von Orten nicht nur zu bewahren, sondern sie zukunftsträchtig aufzustellen - unter Beteiligung aller Akteure, unter Berücksichtigung genossenschaftlicher Werte und Prinzipien (etwa Demokratieprinzip, Selbsthilfe, Regionalität, Transparenz) und bei gleichzeitiger Beachtung der wirtschaftlichen Tragfähigkeit. Der BWGV hat, basierend auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre, das Konzept "WohnenPLUS" entwickelt, welches im Rahmen von drei unterschiedlichen Modellen umgesetzt werden kann:

1. Bau beziehungsweise Erwerb und Betrieb eines oder mehrerer Häuser als Genossenschaft.

2. Gründung einer Dach- oder Dienstleistungsgenossenschaft zum Management mehrerer Einheiten.

3. Genossenschaftlich organisierte Quartiers-/Stadtteilentwicklung.

Ein individuell zugeschnittener Kapitalmix, bestehend aus Fremd- und Eigenkapitalinstrumenten, ist für jedes Unternehmen entscheidend. So auch für Genossenschaften, unabhängig davon, in welchem Wirtschaftsbereich die Unternehmung tätig ist. Die große Vielfalt genossenschaftlicher Unternehmungen macht deutlich, dass die individuellen Ausgestaltungsmöglichkeiten in Verbindung mit der wirtschaftlichen Tragfähigkeit diese Rechtsform für viele Wirtschaftsbereiche attraktiv macht und zur Gestaltung und Umsetzung funktionierender Geschäftsmodelle beiträgt.

Vielfältige Finanzierungsmodelle

Aufgrund der im Genossenschaftsgesetz vorgeschriebenen Maßgabe der Förderung der Mitglieder stellt die Gewinnerzielung keinen Selbstzweck dar. Der Jahresüberschuss ist vielmehr Mittel zum Zweck zur Förderung der Mitglieder, da durch ihn im Sinne der Selbstfinanzierung eine Substanzerhaltung beziehungsweise -entwicklung des genossenschaftlichen Geschäftsbetriebes sowie eine Risikoabdeckung erfolgt. Zur Finanzierung von genossenschaftlichen Geschäftsmodellen stehen die nachfolgend aufgeführten Möglichkeiten zur Verfügung:

1. Zeichnung von Geschäftsanteilen.

2. Erhebung eines Eintrittsgeldes.

3. Erhebung eines regelmäßigen Mitgliedsbeitrags.

4. Hereinnahme von nachrangigen Mitgliederdarlehen.

5. Hereinnahme von (nicht nachrangigen) Mitgliederdarlehen, in der Höhe begrenzt, zweckgebunden.

Darüber besteht natürlich die Möglichkeit, Fremdkapital von Dritten sowie Fördermittel und Schenkungen (in gewissem Maße) zu akquirieren. Auch Sacheinlagen sind theoretisch möglich. Gemeinnützige Genossenschaften können darüber hinaus auch Spenden annehmen und Spendenbescheinigungen ausstellen. Welches Finanzierungsmodell zum Tragen kommt, ist immer in Abhängigkeit der individuellen Rahmenbedingungen zu betrachten. Gerade im Bereich der Quartiersentwicklung, mit der Vielzahl an beteiligten Akteuren, zu denen nicht selten auch die regionalen Volksbanken und Raiffeisenbanken zählen, bieten verschiedene Modelle eine nachhaltige und bezahlbare Finanzierung an, deren Ausgestaltung eine Durchmischung des Quartiers von sozialem Wohnungsbau bis zu höherpreisigen Angeboten gewährleisten kann.

Weitere Informationen rund um das Projekt und den Wettbewerb finden Sie online unter: https://www.wir-leben-genossenschaft.de/de/Foerderprojekt-Genossenschaftlichgetragene-Quartiersentwicklung-8302.htm.

Informationen zur Landesstrategie "Quartier 2030 - Gemeinsam.Gestalten." finden Sie unter: www.quartier2030-bw.de.

DIE AUTORIN DR. ANNIKA REIFSCHNEIDER Fachgebietskoordinatorin Genossenschaftswesen, Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband e.V., Stuttgart
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