PERMANENT VORLÄUFIG

Philipp Hafner, Quelle: Verlag Helmut Richardi

In seinem 2016 erschienenen Buch "Silicon Germany" prägte Christoph Keese den schönen Begriff der "permanenten Vorläufigkeit". Gemeint ist, dass im digitalen Zeitalter ständig alles zur Disposition steht. "Permanent vorläufig" beschreibt aber natürlich auch hervorragend die mittlerweile fast zwei Jahre andauernde Pandemie: Fortlaufend ändern sich die Parameter, sicher Geglaubtes erweist sich als Trugschluss - und zwar schneller, als man das griechische Alphabet aufsagen kann.

Man nehme nur einmal die extremen Ausschläge konjunktureller Frühindikatoren: Die ifo-Konjunkturampel etwa, die die Wahrscheinlichkeit für eine expansive Entwicklung der deutschen Wirtschaft beziffert, lag im Dezember 2021 bei äußerst mickrigen 1,3 Prozent. Nur fünf Monate zuvor waren es noch 99,2 Prozent gewesen - mehr Unsicherheit, wo die Reise hingeht, gibt es nicht. Von derart abenteuerlichen Berg-und-Tal-Fahrten kann längst auch die Immobilienbranche ein Lied singen, Stichwort "Baumaterialpreise": Laut dem Hauptverband der Deutschen Baudindustrie (HDB) lag der Erzeugerpreis für Bauholz Ende 2021 stolze 59,4 Prozent über dem Niveau von Dezember 2020. Der Preis für Betonstahl in Stäben zog binnen Jahresfrist ebenfalls massiv um 57,4 Prozent an. Zwar setzte zum Jahresende eine leichte Beruhigung ein - Bauholz etwa verbilligte sich im Dezember binnen Monatsfrist um 12,8 Prozent - doch letztlich wird man wohl auch das unter die Kategorie "permanent vorläufig" subsumieren müssen.

Als Projektentwickler noch halbwegs verlässlich Kosten und Budgets zu kalkulieren, scheint also zunehmend ein Ding der Unmöglichkeit. Die volatilen Materialpreise sind aber längst nicht das einzige Problem am deutschen Bau: Die Perspektiven werden auch durch die akuten Personalengpässe immer stärker eingetrübt. So hat sich die Zahl der offenen Stellen für Bauingenieure in Deutschland laut HDB von 2009 bis 2020 mehr als verdreifacht, die für Baufacharbeiter fast verdoppelt. Laut der Deutschen Arbeitsagentur gibt es zwar 38 000 Azubis, mehr als 15 000 Lehrstellen bleiben inzwischen jedoch unbesetzt. Und Investitionen in produktivitätssteigernde Maßnahmen wie serielles Sanieren, BIM und 3D-Druck, mit denen sich der Fachkräftemangel einigermaßen auffangen ließe, sind in diesem kleinteilig strukturierten Gewerbe ganz klar die Ausnahme. Entsprechend lag die Arbeitsproduktivität im Baugewerbe laut HDB 2020 nur um magere 6,1 Prozent über dem Niveau von 1991. Zum Vergleich: Im verarbeitenden Gewerbe nahm die Produktivität im gleichen Zeitraum um 79 Prozent zu.

Es bedarf somit keiner prophetischen Gabe vorherzusehen, dass die Ampel-Koalition sehr schnell von diesen ungünstigen Faktoren auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden dürfte. Wobei die ausgerufenen 400 000 neuen Wohnungen pro Jahr ja selbst unter den noch halbwegs günstigen Rahmenbedingungen der Vorjahre nicht annähernd erreicht wurden. So konnte der Wohnungsneubau in den vergangenen Jahren trotz großer Anstrengungen und einem deutlichen Plus bei den Baugenehmigungen nur unmerklich auf zuletzt 306 000 Einheiten (2020) zulegen. Im Gegenzug stieg der Bauüberhang, also die Differenz aus genehmigten, aber noch nicht fertiggestellten Wohnungen, kontinuierlich auf inzwischen fast 800 000 Einheiten an - der höchste Stand seit 1998.

Vielleicht erweist sich der Stau am Bau schlussendlich aber wider Erwarten gar als eine glückliche Fügung des Schicksals. Getreu dem Prinzip der "permanenten Vorläufigkeit" könnte sich die 400 000-Zielmarke nämlich als überdimensioniert herausstellen. Diese Vermutung legen jedenfalls neueste Hochrechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) nahe, denen zufolge deutschlandweit jährlich mittlerweile nur noch 308 000 zusätzliche Wohnungen gebaut werden müssen. Dabei machen Michael Voigtländer & Co. explizit auf einen in der Debatte bislang erstaunlich untergeordneten Faktor aufmerksam: Der demografische Wandel wird hierzulande in den kommenden Jahren voll durchschlagen und vor allem in ländlichen Regionen besteht damit einhergehend die Gefahr, dass man über den tatsächlichen Bedarf hinausschießt. Konkret schätzt das IW, dass die Bevölkerung in 209 von insgesamt 401 deutschen Kreisen in den kommenden Jahren schrumpfen wird. Sage und schreibe jeder zweite Kreis (202) baut demnach aktuell mehr Wohnungen als notwendig.

Hier muss ein Umdenken stattfinden. Das Mantra "Bauen, Bauen, Bauen" hatte vor zehn Jahren angesichts des kräftigen Zuzugs und des zuvor eingebrochenen Wohnungsneubaus zweifellos seine Berechtigung. Doch heute sind die Herausforderungen anders gelagert, "permanent vorläufig" lässt einmal mehr grüßen. Gerade auch mit Blick auf das Schwerpunktthema dieser Ausgabe müssen Devisen wie "Nachverdichtung" oder "Umbau vor Neubau" künftig noch viel stärker beherzigt werden. Denn dass in einem bereits so dicht besiedelten Land wie Deutschland anno 2022 täglich noch immer 50 Hektar (= 70 Fußballfelder) Natur unwiederbringlich zubetoniert, asphaltiert oder gepflastert werden, ist das Gegenteil von nachhaltig.

Philipp Hafner , Leitender Redakteur, Immobilien & Finanzierung , Helmut Richardi Verlag
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