URBANE SPEZIES

PHILIPP HAFNER LEITENDER REDAKTEUR, Foto: Verlag Helmut Richardi

"Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, dass alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere Mensch ... ist ein städtebauendes Tier. Weltgeschichte ist die Geschichte des Stadtmenschen."

Als der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler diese Thesen 1918 in seinem Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" formulierte, wurden sie höchst kontrovers aufgenommen. Viele seiner Zeitgenossen empfanden diese Bewertung schlicht als zu kühn, provokant und überhöht.

Gut 100 Jahre später kann die Bedeutung der Städte hingegen wohl nicht mehr hoch genug eingeschätzt werden. Lebten im Jahr 1950 noch mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung auf dem Land, so ist dieser Anteil bis 2015 auf 46 Prozent geschrumpft. Damit leben seit kurzem erstmals mehr Menschen in einer Stadt als auf dem Land.

Und der Urbanisierungstrend bleibt höchst dynamisch. So schätzt die UNO, dass die Städter bereits im Jahr 2050 rund Zweidrittel der Weltbevölkerung stellen werden. Die in Doug Saunders Buch "Arrival City" zu findende Prognose, dass wir gegen Ende dieses Jahrhunderts eine ganz und gar urbane Spezies sein werden, erscheint vor diesem Hintergrund nicht mehr wirklich radikal.

Klar ist damit aber natürlich auch, dass die Antworten auf die drängendsten Schicksalsfragen des in so vielen Lebensbereichen kriselnden Homo sapiens primär in den Städten gefunden werden müssen, sei es mit Blick auf Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, demografischen Wandel, Digitalisierung, Migrationsströme oder jüngst die Pandemie.

Zuversicht ist dabei durchaus angemessen. Denn eine wesentliche Erklärung für die zeitlose Anziehungskraft der Städte ist mit Sicherheit ihre Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden und ihr Angebot an die Bedürfnisse ihrer Bewohner anzupassen.

So waren Städte im Laufe der Jahrtausende unzähligen schweren Krisen und Katastrophen - teils weitaus schlimmeren als Corona - ausgesetzt und trotzdem gelang es ihnen, sich erfolgreich zu transformieren und stets weiterzuentwickeln. Der derzeit wieder einmal lautstark zu vernehmende Abgesang auf die Städte wird sich somit ganz bestimmt ein weiteres Mal als großer Irrtum erweisen. Auf die leichte Schulter dürfen die aktuellen Herausforderungen gleichwohl nicht genommen werden.

Die Corona-Pandemie ist nämlich ein ganz besonderer und langanhaltender Stresstest. Experten sind sich dabei im Wesentlichen einig, dass die Pandemie bei vielen Themen als Katalysator wirkt, sprich sie legt bereits bekannte Defizite schonungslos offen. Die meisten der aktuell so leidenschaftlich diskutierten Probleme sind also alles andere als neu - sie erhalten durch Corona lediglich eine nochmals gesteigerte Dringlichkeit.

Bestes Beispiel dafür ist neben der im Kampf gegen den Klimawandel immer wichtiger erscheinenden Schaffung von zusätzlichen Frei- und Grünflächen die Debatte über die drohende Verödung der Innenstädte: Schrien die monofunktionalen und dabei zugleich immer austauschbarer und öder wirkenden deutschen Stadtbilder nicht schon lange vor Corona nach tiefgreifenden Veränderungen? Wann also, wenn nicht jetzt, sollte mit neuen Ansätzen zur Belebung der Innenstädte sowie zum Umgang mit Leerstand, etwa indem Kreativwerk- und Begegnungsstätten an die Seite des Einzelhandels rücken, experimentiert werden?

Zweifellos sind solche strukturellen Neuordnungsprozesse dabei immer auch mit Schmerzen verbunden. Das werden nicht zuletzt Immobilieninvestoren beziehungsweise -eigentümer zu spüren bekommen. So dürften die in den Fußgängerzonen bislang von Retailern gezahlten Spitzenmieten von vielen Neuankömmlingen nicht annähernd zu erreichen sein. Die Belohnung für den damit einhergehenden Renditeverzicht wäre aber ein nicht zu unterschätzender Beitrag für die dringend benötigte urbane Lebendigkeit und Durchmischung.

Und geht es der Branche im Zuge des ESG-Booms nicht längst um viel mehr als die schnöde betriebswirtschaftliche Rendite? Diesen Eindruck vermitteln ihre Vertreter anno 2021 jedenfalls in jedem Gespräch.

Wie ernst es ihnen mit dieser Beteuerung wirklich ist, wird sich somit auch ein Stück weit am zukünftigen Erscheinungsbild der Städte ablesen lassen können. Der sich aktuell abzeichnende Trend hin zu Mixed-use-Stadtquartieren stimmt diesbezüglich durchaus optimistisch.

Philipp Hafner , Leitender Redakteur, Immobilien & Finanzierung , Helmut Richardi Verlag
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