Standortwettbewerb

Die Interdependenz von Börse und Finanzplatz

Der Finanz- und Wirtschaftsstandort Bayern hat sich zu einer der am stärksten wachsenden Regionen Europas entwickelt. 2010 stieg in Bayern das Bruttoinlandsprodukt um 3,9 Prozent - deutschlandweit um 3,6 Prozent. Im europäischen Vergleich liegt nur das Ausnahmeland Luxemburg beim Bruttosozialprodukt pro Kopf noch vor dem Flächenstaat Bayern. München und Bayern kommt als Finanzstandort diese wirtschaftliche Prosperität vor Ort besonders zugute. Eine starke Wirtschaft schafft Binnennachfrage nach Finanzdienstleistungen und fordert einen funktionierenden Finanzsektor. Umgekehrt verbessert der Finanzsektor die Entwicklung der Wirtschaft und übt eine Art Katalysatorfunktion für Investitionen und Wachstum aus. Die Herausforderungen der Zukunft - beispielsweise Klimawandel, demografische Entwicklung, Konsolidierung der Staatsfinanzen - können nur mit einem starken Finanzsektor bewältigt werden.

Der Handelsplatz ist die Drehscheibe

Die Börse München versteht sich als wichtige Drehscheibe für den Finanzplatz Bayern. Sichtbares Zeichen ihres Engagements für den Finanzplatz ist die im Jahr 2000 gegründete Finanzplatz München Initiative, in der sich 50 Finanzinstitute zusammengeschlossen haben, um den Finanzplatz nach außen einheitlich zu vertreten und gegenüber der nationalen wie europäischen Politik mit einer Stimme zu sprechen. Die Initiative vernetzt dabei die unterschiedlichen Unternehmen der Finanzbranche - Börse, Kreditinstitute, Versicherungen, Leasing-, Private-Equity- und Asset-Management-Gesellschaften.

Die Börse stellt seit einigen Jahren die Sprecherin der Finanzplatz München Initiative. Sie bildet den idealen neutralen Rahmen, um die teilweise sehr unterschiedlichen Interessen der breit gefächerten bayerischen Finanzbranche in gemeinsame Stellungnahmen und Maßnahmen zu transformieren. Im ganz wörtlichen Sinne stellt die Börse München den Raum für Treffen, Diskussionen und Vortragsveranstaltungen zum engen Austausch auf der Arbeitsebene unter den Instituten, zu denen inzwischen auch Unternehmen mit Sitz außerhalb Bayerns oder Deutschlands zählen.

Eigenständige Börse als Kernfaktor

Die wesentlichen Entwicklungs- und Erfolgsfaktoren für einen dauerhaft erfolgreichen Finanzplatz sind nach Untersuchungen des Instituts für bankhistorische Forschung ein starker Banken- und Versicherungsstandort sowie ein bedeutender Börsenplatz, außerdem ist eine potente Wirtschaft am Ort sehr hilfreich. Man könnte dabei von drei Säulen sprechen, die allerdings unterschiedlich kräftig entwickelt sein können. Warum benötigt ein erfolgreicher Finanzplatz eine eigenständige Börse? Am Beispiel der Börse München soll dies kurz ausgeführt werden. Die enge Verbindung der Börse zum Finanzplatz ergibt sich dabei zum einen aus ihrer Organisation heraus und bestimmt sich zum anderen aus ihrer Funktion.

Seit ihrer Gründung vor 180 Jahren befindet sich die Börse München zu 100 Prozent im Besitz des Münchener Handelsvereins. In diesem Verein sind überwiegend Münchener und bayerische Unternehmen und Finanzinstitute zusammengeschlossen. BMW, MAN und Siemens, Allianz und Munich Re, Stadtsparkasse München und Uni-Credit Bank, Cortal Consors und ING-Diba, Hauck & Aufhäuser Privatbankiers und Fürst Fugger Privatbank, um nur einige der insgesamt 45 Unternehmen und Kreditinstitute zu nennen, die heute Mitglied sind. Alle 45 Unternehmen sind Marktteilnehmer oder Emittenten an der Börse München.

Schon um die Interessen des Eigentümers der Börse, des Münchener Handelsvereins, und seinen Vereinszweck, nämlich die Förderung der Wertpapierbörse, des Handels und der Industrie, in vollem Rahmen zu erfüllen, zählen die Unterstützung des Finanzstandortes und die Versorgung der Unternehmen mit Kapital dezidiert zu den Aufgaben der Börse München. Denn, auch wenn das durch die oftmals ausschließliche Fokussierung auf Renditeziele etwas aus dem Blickfeld geraten ist, die Hauptaufgaben einer Börse liegen ganz generell in der Versorgung der Realwirtschaft mit Kapital und einer fairen und transparenten Organisation des Sekundärmarktes.

Börsen legen die Regeln für den Handel mit Wertpapieren fest, wobei diese Regeln durch die Börsenordnungen ebenso definiert werden wie durch die jeweilige nationale Rechtsprechung, gewährleistet durch die zuständige Börsenaufsicht. Für ihre Dienstleistung verlangen die Börsen Gebühren, die allerdings durchaus variieren und im Schnitt in Deutschland im Vergleich zu anderen Börsen, etwa in den USA, äußerst niedrig sind. Für die Leistungen, die die Börse zu erbringen hat, spielt es aufgrund ihres öffentlichen Auftrages keine Rolle, ob es sich bei den Geschäftspartnern um Weltkonzerne oder mittelständische Unternehmen handelt.

Anbindung an den Kapitalmarkt

Mittelständische Unternehmen an den Kapitalmarkt zu führen, wird gerade in Deutschland eine immer wichtigere Aufgabe. Dies ist jedoch ein langfristiges, beratungsintensives und auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Geschäft, das sich nicht in schnelle Renditeziele ummünzen lässt. Mittelständische Unternehmen aus Deutschland sind mit großem Erfolg auf den Weltmärkten aktiv, sind innovativ und forschungsintensiv. Oftmals sind sie technologisch führend und besetzen weltweit Nischen. Im weltweiten Vergleich gibt es jedoch in Deutschland sehr viel weniger Aktiengesellschaften. Familiengeführte Unternehmen des Mittelstandes sind an der Börse eindeutig unterrepräsentiert. So waren 2010 in Deutschland knapp 700 inländische Unternehmen an der Börse notiert - in Großbritannien und Nordirland beispielsweise über 2100 heimische Unternehmen. Nach einer PwC-Studie zählen zu den größten Herausforderungen für Familienunternehmen die Liquiditäts- und Kostenkontrolle, die Personalknappheit, die Unternehmensorganisation und die Finanzierung. Auch die Nachfolge der Geschäftsführung spielt eine wichtige Rolle. All diesen Herausforderungen kann mit einer Kapitalbeschaffung über die Börse mit Erfolg begegnet werden, sei es durch ein IPO oder über die Begebung einer Anleihe. Um auch mittelständischen Familienunternehmen den Gang an die Börse zu erleichtern, gründete die Börse München 2005 das Qualitätssegment M-Access. Es verbindet die berechtigen Interessen der Anleger mit minimalem bürokratischem Aufwand und Kosten für die Unternehmen. Erst später folgte die Deutsche Börse in Frankfurt mit ihrem Segment Entry Standard. In M-Access sind derzeit 40 Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von aktuell 1,9 Milliarden Euro gelistet. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2010 haben die meisten deutschen Börsen dem Mittelstand durch eigene Anleihesegmente auch den Zugang zu Fremdkapital erleichtert. Was bis dato überwiegend Großkonzernen auf der einen Seite und institutionellen Anlegern auf der anderen Seite vorbehalten war, können jetzt auch kleinere und mittlere Unternehmen in Anspruch nehmen. Besonders Privatanleger nutzen diese Anlageform und so konnten bisher insgesamt mehr als eine Milliarde Euro an den verschiedenen deutschen Börsenplätzen eingesammelt werden. Die Börse München erweiterte das Regelwerk ihres Aktiensegments M-Access für Anleihen ab einem Volumen von 25 Millionen Euro.

Volkswirtschaftliche Bedeutung des Sekundärmarkts

Eine ausreichende Versorgung der kapitalmarktwilligen und -fähigen Unternehmen über die Börse funktioniert aber nur, wenn über den Sekundärmarkt ausreichend Liquidität für den Handel garantiert werden kann. Nur die Börsen erfüllen beim Handel mit Wertpapieren die Forderungen nach Transparenz und Anlegerschutz. Über den Handel an der Börse wird durch Angebot und Nachfrage der Preis von Wertpapieren definiert. Die Preisfindung im Sekundärmarkt ist - neben der Kapitalbeschaffung im Primärmarkt - die zweite wesentliche volkswirtschaftliche Funktion von Börsen. Eine nachvollziehbare Preisbildung anhand der jeweiligen Marktsituation als Grundvoraussetzung auch für eine entsprechende Reaktion des Anlegers - ob privat oder institutionell - funktioniert aber nur bei absoluter Transparenz der Preisstellung. Dies wird heute durch den Handel an außerbörslichen Plattformen (MTFs) oder den direkten Handel zwischen Finanzinstituten allerdings mehr und mehr erschwert.

Denn längst erfolgt der Handel mit Wertpapieren nicht mehr ausschließlich über die Börsen, sondern auch über Multilateral Trading Facilities oder MTFs und durch den direkten Handel (Over the Counter oder OTC-Handel), zum Teil auch in Dark Pools sowie sogenannte Broker/Dealer Crossing Networks (BDCNs). Auch wenn die Marktanteile aufgrund der fehlenden Transparenz nicht eindeutig zuzuordnen sind, soll der Marktanteil der regulierten Börsen in Europa seit Einführung der MiFID im November 2007 von 80 auf 65 Prozent zurückgegangen sein, nach einer anderen Schätzung sogar auf nur noch 50 Prozent. Allein die inzwischen fusionierten MTFs Chi-X und Bats kommen auf einen Marktanteil von 29 Prozent am europäischen Aktienhandel, bei Aktien des Londoner FTSE-100-Indizes sogar auf 35 Prozent. Zum Vergleich: Die Deutsche Börse und die Nyse kommen zusammen auf einen Anteil von 30 Prozent.

Intransparenz durch Dark Pools

40 Prozent des Aktienhandels in Europa findet aber weder an Börsen noch über "börsenähnliche" MTFs statt, sondern wird OTC abgewickelt, so eine Einschätzung des Europäischen Börsenverbandes FESE. Durch den OTC-Handel wollen die beteiligten Kreditinstitute bei hochvolumigen Ordergrößen einen eventuell auftretenden Preiseffekt ("Market Impact") verhindern. Allerdings ergab eine Untersuchung von Gomber und Pierron, dass 40 Prozent der Orders an nichtorganisierten Märkten nur eine Durchschnittsgröße von weniger als 7 500 Euro haben. Das ist wesentlich niedriger als auf Xetra - dort sind es 20000 Euro. Einen "Market Impact" gibt es bei einer solchen Ordergröße nicht.

Wenn der außerbörsliche Handel nicht mehr ausschließlich zwischen zwei Parteien stattfindet, sondern kollektiv erfolgt, spricht man von Dark Pools. Diese elektronischen Handelsnetze verfügen über geschlossene Orderbücher. Orderdetails werden nicht vollständig offengelegt, im Rahmen einer Ausnahme von der Nachhandelstransparenz kommt es nur zu verzögerten Veröffentlichungen. Institutionelle Investoren, Hedge-Fonds und Investmentbanken können hier anonym handeln. Im Vordergrund steht die Geschwindigkeit.

Den tatsächlichen Marktanteil von Dark Pools abzuschätzen ist schwierig, Beobachter gehen von einem "rasant steigenden" Geschäft aus und das Analysehaus Tabb Group schätzt, dass die derzeit 31 Dark Pools in Europa einen Anteil zwischen vier und sieben Prozent am Aktienhandel haben. Interessanter ist die geschätzte Wachstumsrate für 2011: sie wird bei fast 50 Prozenz erwartet.

Trend zur Globalisierung und Konzentration auf Derivate

Doch wie tangiert die Verlagerung des Wertpapierhandels weg von den Börsen den jeweiligen Finanzplatz? Wenn die Börsen den tatsächlichen Wert von Papieren nicht mehr exakt widerspiegeln, die Vergleichbarkeit der Marktdaten nicht mehr gewährleistet wird, können auch institutionelle Investoren, Banken und Finanzinstitute, nicht mehr adäquat reagieren. Eine vom europäischen CFA-Institut durchgeführte Untersuchung europäischer Aktienmärkte vom November 2007 bis Juli 2009 kommt zu dem Schluss, dass die Intransparenz zu höheren Kosten für Datenbeschaffung und -konsolidierung führt. Insofern setzt sich auch bei den Banken - als Betreiber von MTFs und Dark Pools sowie im OTC-Handel aktiv selbst Auslöser des Prozesses - langsam die Erkenntnis durch, dass dieser Weg so nicht weiter beschritten werden kann. Die Volatilität der Aktienmärkte erhöht sich, eine Entwicklung, die weder den Anlegern noch den an den Börsen gelisteten Unternehmen entgegenkommt.

Die Börsen reagieren mit multinationalen Zusammenschlüssen oder verabschieden sich weitestgehend aus dem Aktienhandel und konzentrieren sich auf Derivate. Denn während Börsen einer strengen Regulierung mit allen daraus resultierenden Folgekosten (Personal und Technik) unterliegen, arbeiten MTFs mit deutlich weniger Regularien und Bürokratie, Dark Pools sogar im regulierungsfreien Raum. Nicht zuletzt hat die Finanzkrise gezeigt, dass die Reduzierung des Kontrahentenrisikos - erinnert sei nur an Lehman Brothers - ein nicht zu vernachlässigendes Asset der Börsen darstellt.

Wie eng Börsen mit dem Finanzstandort in Verbindung gebracht werden, beweisen die vielen besorgten Stimmen, die einen Ausverkauf oder doch zumindest eine Schwächung des Finanzstandortes Frankfurt nach einer möglichen Fusion mit der New Yorker Börse befürchten. Hintergrund ist, dass gerade im Bereich Listing eher New York als Frankfurt bestimmend sein wird vermutlich auch mit allen Konsequenzen hinsichtlich der nationalen Aufsichtsbehörde. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, ist doch die Kapitalisierung der an der Nyse gelisteten Unternehmen in etwa zehnmal so hoch wie diejenige in Frankfurt.

Fakt ist, dass sich die internationalen Kapitalströme auf immer weniger, immer größere Finanzzentren konzentrieren und dieser Tendenz folgend die Börsen zu immer größeren Mega-Börsen fusionieren. Derzeit nimmt das Fusionskarussell wieder Fahrt auf, wie nicht zuletzt die Verhandlungen zwischen der Deutschen Börse AG und der New Yorker Nyse beweisen. Ob dieser Trend zur Globalisierung und Fusionierung über kurz oder lang eine Gegenbewegung verursacht, hin zur Regionalisierung wie in anderen Wirtschaftsbereichen auch, wo man bereits von einer "Glokalisierung" spricht, bleibt abzuwarten.

Börsen im Fokus

Börsen sind wichtig für den jeweiligen Finanzplatz, allerdings ist ihre Bedeutung schwer zu quantifizieren. Gibt es auch bedeutende Finanzplätze ohne eine eigenständige Börse? Hat sich die Bedeutung eines Finanzplatzes nach der Übernahme der "Heimatbörse" durch eine auswärtige Börse geschwächt oder umgekehrt, gestärkt, nachdem sich eine Börse "vergrößert" hat? Diese Fragen lassen sich schwer beantworten.

Überprüft man die 20 größten Finanzplätze auf der Basis des aktuellsten "Global Financial Centres Index 9" (GFCI) von März 2011 und setzt sie ins Verhältnis mit den Daten der World Federation of Exchanges zur Marktkapitalisierung und Handelsvolumen der jeweiligen Börse, ergibt sich eine positive Korrelation. Unter den 20 größten Finanzplätzen finden sich mit Genf (Position 9), San Francisco (Position 13), Bejing (Position 17) und Washington D. C. (Position 18) nur vier ohne eigene Börse. Und die größten (Wertpapier-)Börsen der Welt definieren auch die bedeutendsten Finanzplätze: Die Nyse verhilft ihrer Stadt New York zu Platz zwei und die drittgrößte Börse der Welt, die Shanghai Stock Exchange, landet mit der Nummer fünf des GFCI nur zwei Ränge hinter ihrer Größe.

Es gibt zwar Finanzplätze ohne eigene Börse, aber sie sind die Ausnahme, und im Gegenzug verhelfen große Börsen ihren Finanzplätzen zu einem vorderen Platz im Ranking, wie das Beispiel der drittgrößten Börse Nasdaq OMX zeigt, die Boston zu Rang 12 im GFCI-Indes verhilft.

Der Index bewertet insgesamt 75 Finanzplätze nach ihrer Bedeutung anhand eines Punktesystems aus 76 Faktoren, untergliedert in die Bereiche Beschäftigte, Infrastruktur, Marktzugang, wirtschaftliche Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen. Außerdem werden international tätige Finanzexperten befragt. Als Ergebnis belegt London den ersten Platz, gefolgt von New York City und Hongkong.

In einem Artikel vom 16. März 2011 hinterfragte die Börsenzeitung allerdings kritisch das Streben der Finanzplätze nach immer höheren Umsätzen. Abschreckendes Beispiel sei Dublin, das als "Hochburg der Schattenbanken" zu einem europäischen Finanzzentrum erwuchs - die Nummer 33 im Ranking des GFCI.

Insofern definiert sich die Börse München auch weiterhin als starke Säule zwischen Finanzsektor und Wirtschaft. Ein hohes Maß an Autarkie, Konzentration auf die eigenen Stärken und das Eingeständnis, eine vor allem dienende Funktion innezuhaben, bestimmen auch weiterhin Selbstverständnis und Strategie der Börse München.

Dr. Christine Bortenlänger , Geschäftsführende Vorständin , Deutsches Aktieninstitut e. V., Frankfurt am Main
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