Aufbruch EU - gemeinsam an einem Strang ziehen

Markus Ferber, Foto: M. Ferber

Mit dem zeitlich befristeten und 750 Milliarden Euro schweren Aufbauinstrument Next Generation EU (NGEU) finanziert der EU-Haushalt, dass Europa nach Corona wieder auf die Beine kommt. Außerdem soll das Geld gleichzeitig dafür genutzt werden, Europa grüner, digitaler und krisenfester zu machen. Und gerade mit Blick auf die Transformation des Wirtschaftsmodells hin zu mehr Nachhaltigkeit stehen die Mitgliedsstaaten vor einer Mammutaufgabe, die eine gut funktionierende Feinabstimmung untereinander erfordert, so der Autor. Dabei sei es wichtig, dass die Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen, jedoch bedeute das nicht, dass das Subsidiaritätsprinzip völlig ausgeblendet werden könne. Sowohl in der Finanz- und Wirtschaftspolitik als auch in der Energie- und Umweltpolitik müsse weiterhin die Möglichkeit für nationale Spielräume erhalten bleiben. Deren Nutzung erfordere allerdings eine gewisse innereuropäische Koordinierung. (Red.)

"In Vielfalt geeint" lautet das Motto der Europäischen Union. Es fasst prägnant den Wesenskern der EU zusammen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union können sich in der Welt nur dann behaupten, wenn sie gemeinsam und mit einer Stimme sprechen. Selbst die größten EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland oder Frankreich sind auf der internationalen Bühne nur Leichtgewichte. Eine starke und geeint auftretende Europäische Union ist daher eigentlich im strategischen Interesse jedes Mitgliedsstaates. Diese Idee - so einleuchtend sie in der Theorie auch scheinen mag - trifft in der Praxis jedoch oftmals auf enorme Herausforderungen.

Die Corona-Pandemie, die im Frühjahr 2020 den europäischen Kontinent erfasst hat, hat das Spannungsfeld zwischen europäischer Solidarität und Eigenverantwortung sehr deutlich gemacht. Bekanntlich sehen die EU-Verträge im Sinne des Haftungsprinzips eine sogenannte No-Bail-Out-Klausel vor, weswegen viele west- und nordeuropäische Staaten die Ideen von gemeinsam ausgegebenen Anleihen stets abgelehnt haben. Die Corona-Krise, die insbesondere in vielen südeuropäischen Mitgliedsstaaten zu enormen wirtschaftlichen Verwerfungen geführt hat, hat diese Linie vor eine Belastungsprobe gestellt. Länder wie Spanien, Italien, Portugal und Griechenland, deren Volkswirtschaft stark vom Tourismus abhängen, hatten einen zweistelligen Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen. Gleichzeitig hat in diesen Ländern die Pandemie mit besonderer Wucht gewütet. Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland hatten viele Länder des europäischen Südens auch nur begrenzten fiskalischen Spielraum, um sich gegen die Pandemie zu stemmen. Entsprechend kam schnell die Forderung nach europäischer Solidarität auf.

Die Europäische Union hat in der Krise tatsächlich schnell reagiert. Zunächst wurde im April 2020 in der Eurogruppe ein umfassendes Hilfspaket bestehend aus Zugang zu ESM-Kreditlinien, einem Rückversicherungssystem für Kurzarbeitsprogramme ("SURE") und einem Unterstützungsprogramm der Europäischen Investitionsbank aufgelegt. Anschließend nahm die Debatte über ein eigenes europäisches Konjunkturprogramm an Fahrt auf. Nachdem zunächst Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ihre grundsätzliche Zustimmung gegeben hatten, hat die Europäische Kommissionen einen Vorschlag für ein 750 Milliarden Euro schweres Paket namens Next Generation EU vorgelegt, das zu einem Teil aus Darlehen und zu einem anderen Teil aus Zuschüssen bestand. Im Gegenzug für die Auszahlung dieser Mittel verpflichten sich die Mitgliedsstaaten im Rahmen sogenannter nationaler Aufbau- und Resilienzpläne Reformen umzusetzen und in Projekte zu investieren, die vorgegebenen Politikzielen, wie beispielsweise Nachhaltigkeit und Digitalisierung, entsprechen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Mitgliedsstaaten mit den europäischen Mitteln nicht einfach Haushaltslöcher stopfen, sondern ihre Wirtschaft nachhaltig reformieren und wettbewerbsfähig werden.

Verschiedene Vorstellungen

Der europäische Gesetzgeber hat den Kommissionsvorschlag binnen weniger Monate verabschiedet, sodass bereits die ersten Gelder geflossen sind - für europäische Finanzierungsprogramme ist das ein beeindruckender Zeitrahmen. Finanziert wird das Programm durch von der Europäischen Union ausgegebene Anleihen, die über einen langen Zeitraum mittels neuer Eigenmittel - deren Einnahme jedoch noch nicht gesetzlich beschlossen wurde - zurückgezahlt werden sollen. Mit diesem Schritt begibt sich die Europäische Union sowohl rechtlich als auch politisch auf Neuland.

Allen Beteiligten war klar, dass die Europäische Union angesichts der enormen wirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Krise handeln musste. Andernfalls hätte die Corona-Krise auch die Europäische Union selbst vor eine Zerreißprobe gestellt. Da eine angemessene Reaktion mit den begrenzten Haushaltsmitteln der Europäischen Union jedoch kaum darstellbar gewesen wäre, musste mit Next Generation EU eine kreative politische Lösung gefunden werden. Es war jedoch schnell klar, dass die Vorstellungen der Mitgliedsstaaten, wie dieses Instrument auszusehen habe, sehr weit auseinandergingen. Auf der einen Seite standen die sogenannten "sparsamen Vier" (Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark), die ein im Volumen begrenztes Paket, das möglichst nur aus Zuschüssen besteht und an strikte Konditionen geknüpft ist, auf der anderen Seite die Länder des besonders schwer gebeutelten europäischen Südens, die ein möglichst großes Paket wollten, das vor allem aus Zuschüssen besteht und an möglichst wenige Bedingungen geknüpft ist. Das Ergebnis dieser Gemengelage war ein klassischer europäischer Kompromiss.

Ausnahmeerscheinung oder langfristiges Projekt?

Inzwischen hat die Debatte, entlang ähnlicher Konfliktlinien, noch eine neue Dimension angenommen: Die Frage ist, ob Next Generation EU ein einmaliges Projekt bleiben soll oder verstetigt werden sollte. Die klare Vereinbarung war zwar, dass es sich um ein einmaliges Projekt handelt, mit dem auf eine Krise ungekannten Ausmaßes reagiert wird. Nichtsdestoweniger hat Next Generation EU bei einigen Mitgliedsstaaten bereits Begehrlichkeiten geweckt. Immerhin ließen sich mit einer Verstetigung des Programmes für viele Mitgliedsstaaten die eigenen Refinanzierungskosten senken und neue Haushaltsspielräume erschließen.

Bei aller Liebe zur europäischen Solidarität zeigt die Debatte um Next Generation EU jedoch auch, wie schnell man auf eine schiefe Ebene kommen kann. Wäre vor zwei Jahren ein 750 Milliarden Euro schweres europäisches Umverteilungsprogramm noch vollkommen undenkbar gewesen, wird nun schon von einigen dessen Verstetigung gefordert. Dabei weiß eigentlich selbst der Volksmund, dass man mit dem Geld anderer Leute meist besonders freigebig ist. Eine Aufweichung des Haftungsprinzips ist daher nicht erstrebenswert. Einen Teil der Staatsverschuldung zu europäisieren würde auch dazu führen, dass viele Mitgliedsstaaten nun noch deutlich weniger Anreize für eine stabilitätsorientierte Haushaltspolitik hätten, was der Stabilität der gemeinsamen Währung alles andere als zuträglich wäre.

Insofern ist zu beobachten, dass die beeindruckende Solidaritätsleistung, zu der die Europäische Union im Rahmen der Corona-Krise bereit war, auf der einen Seite den Weg für neue Unstimmigkeiten bereitet hat und auf der anderen Seite keine langfristige Lösung sein kann. Mittel- bis langfristig muss in der Haushaltspolitik wieder mehr Eigenständigkeit von den Mitgliedsstaaten eingefordert werden. Mehr Eigenverantwortung bedeutet indes nicht, dass jeder genau das tut, was er will. Im Gegenteil: Je weiter die wirtschaftspolitische Integration der EU voranschreitet, desto mehr Koordinierung ist geboten, um einen funktionierenden Binnenmarkt und eine stabile gemeinsame Währung sicherzustellen. Deswegen ist es so wichtig, dass die Maßnahmen zur wirtschaftspolitischen Steuerung - wie zum Beispiel das Europäische Semester - gut funktionieren. In wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zusammenzuarbeiten muss nämlich nicht zwangsläufig auf eine Transferunion hinauslaufen.

Mammutaufgabe Green Deal

Das andere politische Großprojekt dieser Legislaturperiode ist zweifelsohne der Green Deal, also das Projekt, unser Wirtschaftsmodell sukzessive zu dekarbonisieren, um im Idealfall bereits im Jahr 2050 Klimaneutralität erreichen zu können. Mit diesem Projekt hat sich die Europäische Union ein geradezu monumentales Ziel gesetzt, das eben solche Herausforderungen mit sich bringt. Der erste wesentliche Zwischenschritt zur CO2 -Neutralität ist das Vorhaben, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 abzusenken. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Europäische Kommission im Sommer 2021 ein Gesetzespaket mit dem Titel "Fit for 55" präsentiert, das eine ganze Reihe von ambitionierten Einzelmaßnahmen - vom Ausbau des Emissionshandelssystems über Vorgaben für Pkw-Abgaswerte bis zur Besteuerung von Energieträgern - zur Dekarbonisierung beinhaltet.

Während das grundsätzliche Ziel der Dekarbonisierung von allen Mitgliedsstatten geteilt wird, gibt es hinsichtlich des besten Weges zur Klimaneutralität unterschiedliche Ansichten. Die Haltung der meisten Mitgliedsstaaten hängt nicht unwesentlich von ihrem Startpunkt mit Blick auf Wirtschaftsstruktur und Energiemix ab. So fällt es Ländern wie Schweden oder Österreich schon deshalb leicht ein hohes Niveau an erneuerbaren Energien zu erreichen, weil sie dank geografisch günstiger Gegebenheiten schon seit Langem auf Wasserkraft setzen. Auf der anderen Seite haben viele mittel- und osteuropäische Ländern seit dem Fall des Eisernen Vorhangs verstärkt auf Kohleverstromung gesetzt und haben einen deutlich schwierigeren Transformationspfad vor sich. Aus genau diesem Umstand ergab sich bisher auch die grundsätzliche europäische Grundlinie, dass der Energiemix Sache der Mitgliedsstaaten ist. Ähnliche länderspezifische Besonderheiten ziehen sich durch die vielen sektoralen Vorschläge, die die Europäische Kommission als Teil des "Fit for 55"-Pakets vorgelegt hat.

Hierin zeigt sich ein grundsätzliches Problem der europäischen Vorschläge zur Dekarbonisierung der Wirtschaft: Sie sind auf der einen Seite spezifisch auf jeden Sektor zugeschnitten, lassen auf der anderen Seite aber trotzdem kaum Raum für nationale Spielräume. Die weitaus elegantere Lösung hätte schlichtweg darin bestanden, sich die vielen sektoralen Einzelmaßnahmen zu sparen und stattdessen noch stärker auf einen umfassenden Emissionshandel zu setzen. Das Emissionshandelssystem als marktwirtschaftliches Instrument ist nämlich komplett technologieneutral und entfaltet dahin seine Lenkungswirkung, dass CO2-Einsparungen stets dort vorgenommen werden, wo diese am kosteneffizientesten zu erzielen sind. Ein solcher Ansatz hätte auch den Mitgliedsstaaten mehr Spielraum gegeben, nationale Spezifika zu berücksichtigen. Ein weiterer Vorteil würde darin bestehen, dass Emissionen auch tatsächlich nur einmal und nicht mehrfach besteuert werden, was bei einer Vielzahl von parallel laufenden und nicht immer ideal auf einander abgestimmten Einzelmaßnahmen ansonsten schnell passieren kann.

Hoher Koordinierungsaufwand

Auch wenn ein stärkerer Fokus auf das Emissionshandelssystem als zentraler Steuerungsmechanismus zweifelsohne die ordnungspolitisch sauberere Lösung gewesen wäre, ist davon auszugehen, dass sich sowohl die Mitgliedsstaaten als auch das Europäische Parlament im nun anlaufenden Gesetzgebungsprozess weitgehend an der von der Europäischen Kommission vorgegebenen Struktur orientieren werden. Der Koordinierungsaufwand - sowohl in den politischen Verhandlungen als auch in der späteren Umsetzung - wird daher hoch bleiben.

Mit der Umsetzung von Next Generation EU und der Transformation des Wirtschaftsmodells hin zu mehr Nachhaltigkeit stehen für den Rest dieser Legislaturperiode zwei politische Mammutaufgaben an, die eine gut funktionierende Feinabstimmung zwischen den Mitgliedsstaaten erfordern. Gemeinsam an einem Strang zu ziehen, bedeutet jedoch nicht, das Subsidiaritätsprinzip vollständig auszublenden. Ganz im Gegenteil: Je enger sich die Mitgliedsstaaten koordinieren, desto wichtiger ist der Respekt vor dem Subsidiaritätsprinzip. Sowohl in der Finanz- und Wirtschaftspolitik als auch in der Energie- und Umweltpolitik muss es weiterhin nationale Spielräume geben. Deren Nutzung erfordert zwar eine gewisse innereuropäische Koordinierung, die aber akzeptiert werden muss, wenn das Motto "In Vielfalt geeint" mit Leben gefüllt werden möchte.

Markus Ferber , Mitglied des Europäischen Parlaments, Brüssel
Noch keine Bewertungen vorhanden


X