Haben die geldpolitischen Theorien ausgedient?

Abbildung 1: Entwicklung der Leitzinsen wichtiger Zentralbanken Quelle: Thomson Reuters Datastream

Dr. Sebastian Watzka, Seminar für Makroökonomie, Ludwig-Maximilians-Universität München - Welche Bedeutung haben die aktuell vorherrschenden geldpolitischen Theorien noch und müssen sie aufgrund der Nullzinsgrenze modifiziert werden? Viele Beobachter tun sich schwer damit, die weltweit vorherrschende Geldpolitik anhand der gängigen Theorien zu bewerten. Der Autor hält diese auch weiterhin für hilfreich zum Verstehen geldpolitischer Maßnahmen, wenngleich er die Wirkung mancher der sogenannten "unkonventionellen" Maßnahmen durchaus als umstritten einstuft. Die derzeitigen makroökonomischen Probleme der führenden Industrienationen, angefangen vom Euroraum über die USA bis hin zu Japan sind seiner Einschätzung nach nicht allein mit geldpolitischen Maßnahmen zu lösen, sondern benötigen weitreichendere Politikmaßnahmen, unter denen eine stabilitätsorientierte Fiskal- und Sozialpolitik immerhin einen wichtigen Beitrag leisten könnte. (Red.)

Obwohl die Zentralbanken der führenden Industrienationen während der Finanzkrise der letzten Jahre zu scheinbar immer aggressiveren Maßnahmen greifen mussten, blieben die gewünschten realwirtschaftlichen und inflationären Erholungen weitestgehend aus. Zumindest in Teilen der Öffentlichkeit - und auch in einigen akademischen Kreisen - stellt sich zunehmend die Frage der Wirksamkeit dieser Maßnahmen und damit indirekt einhergehend auch die Frage, ob die geldpolitischen Theorien ausgedient haben.

Traditionelle Inflationssteuerung über eine Zinsregel

Typischerweise wurde Geldpolitik in den letzten 20 Jahren mithilfe einer sogenannten Zinsregel durchgeführt, auch Taylor-Regel genannt, da John Taylor sie zunächst nutzte, um die Zinspolitik der Fed für die Jahre 1984 bis 1992 zu beschreiben. Später wurde unter anderem von Michael Woodford gezeigt, dass diese Taylor-Regel unter gewissen weiteren Voraussetzungen optimal im Sinne der Wohlfahrtsmaximierung ist. Die Zentralbank versucht, über diese Zinsregel das Preisniveau zu stabilisieren beziehungsweise das Inflationsziel anzusteuern. Formal kann eine solche Zinsregel wie folgt geschrieben werden:

Taylor-Regel:

Formel 1

wobei die Zentralbank ihren Leitzins typischerweise um mehr als eins zu eins verändert, falls sich die Inflationsrate weiter vom Inflationsziel entfernt. Damit soll gewährleistet sein, dass sich der Realzins im Falle eines Abweichens der Inflationsrate von ihrem Ziel genau so verändert, dass die Ökonomie stabilisiert wird und wieder zur Zielinflationsrate zurückfindet. Grob gesagt soll die Zentralbank also im Boom die Wirtschaft bremsen und in der Rezession stimulieren. Wie Abbildung 1 zeigt, senkten die Zentralbanken als Reaktion auf die Finanzkrise im Jahr 2008 weltweit ihre Leitzinsen auf historische Tiefstände.

Dieser monetäre Stimulus wirkt im Wesentlichen über die Auswirkung der Leitzinsänderung auf den Langfristzins. Hier ist der Zusammenhang formal wie folgt: Der Langfristzins entspricht dem Durschnitt der erwarteten Kurzfristzinsen (Leitzinsen) sowie einer Risikoprämie:

Formel 2

Sowohl der Konsum dauerhafter Güter als auch die Investitionstätigkeit hängen von genau diesem Langristzins ab. Aus der Definition des Langfristzinses ist ersichtlich, dass eine Leitzinsänderung einen stärkeren Effekt auf Konsum und Investitionen hat, wenn diese als dauerhaft eingeschätzt wird.

Nullzinsgrenze und unkonventionelle Geldpolitik: Forward Guidance

Abbildung 1 zeigt aber auch, dass der Spielraum für weitere Zinssenkungen aufgrund der Nullzinsgrenze für Nominalzinsen bei einigen Zentralbanken bereits recht früh erreicht war. Die eigentlich richtige Taylor-Regel muss also wie folgt modifiziert werden:

Taylor-Regel:

Formel 3

Nun wird explizit berücksichtigt, dass der Nominalzins nicht unter null fallen kann.1) Wenn Zentralbanken aber bei Erreichen der Nullzinsgrenze ihren geldpolitischen Kurs weiter lockern müssen, weil zum Beispiel die Inflationsraten nicht zum gewünschten Ziel zurückkonvergieren und der geldpolitische Kurs noch immer nicht expansiv genug ausgerichtet ist, können sie immer noch sogenannte "unkonventionelle" Maßnahmen einsetzen.

Eine der ersten solcher Maßnahmen, die von der Fed und der EZB ergriffen wurde, war die sogenannte Forward Guidance, die besonders von Michael Woodford stark propagiert wurde.2) Forward Guidance ist im Wesentlichen eine Maßnahme der Zentralbank über die glaubhafte Ankündigung die zukünftigen Leitzinsen über einen längeren3) Zeitraum niedrig zu halten, und so den Langfristzins stärker zu senken als dies ohne diese Zusatzinformation möglich wäre. Dabei gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie genau das Forward Guidance ausgestaltet werden kann. Die Zentralbank kann sich zeitlich vage oder konkret bis zu einem Termin binden oder sie kann ihre Niedrigzinspolitik von bestimmten makroökonomischen Zielgrößen wie der Inflationsrate abhängig machen.

Quantitative Easing und Helikopter-Geld

Eine weitere wichtige Maßnahme, die vor allem von der Fed früh ergriffen wurde, ist das sogenannte Quantitative Easing (QE).4) Bei QE kauft die Zentralbank Wertpapiere (meist Staatsanleihen, aber auch MBS oder ETFs im Falle der Bank of Japan) auf, um ihre Bilanz auszudehnen und die Reserven der Geschäftsbanken zu erhöhen, damit diese wiederum ihre Kreditvergabe ausweiten.5) (Abbildung 2)

Empirische Studien, die sich mit Forward Guidance und QE-Maßnahmen beschäftigen, zeigen, dass die Langfristzinsen auf die gewünschte Weise reagieren. Insbesondere lässt sich nachweisen, dass schon die Ankündigung eines Anleihekaufprogramms zu einer deutlichen Reduzierung der mittel- und langfristen Zinsen führt (vergleiche Abbildung 3). Außerdem zeigen inzwischen etliche Studien, dass QE sehr wohl die gewünschten realwirtschaftlichen Effekte hat und sich grundsätzlich auch positiv auf die Inflationsentwicklung auswirkt. Die Stärke dieser Effekte ist allerdings umstritten und vermutlich deutlich geringer als bei traditionellen Leitzinssenkungen. Die Auswirkungen auf Inflationserwartungen entsprechen in der Regel ebenso den Zielen der Zentralbank.6)

Allerdings besteht vor allem in der Eurozone das Problem, dass die gelockerten Kreditbedingungen nur teilweise in die reale Wirtschaft übertragen werden. Die EZB ist zwar in der Lage die geldpolitischen Bedingungen zu lockern, aber der Transmissionsmechanismus in die Realwirtschaft ist weiterhin gestört. Daher stellt sich die Frage, wie dieser Übertragungsmechanismus wieder verbessert werden kann.

Eine radikale Möglichkeit wäre das sogenannte Helikopter-Geld, wie es schon von Milton Friedman 1969 theoretisch analysiert wurde und von Ben Bernanke in seiner bekannten Rede "Deflation: Making Sure 'It' Doesn't Happen Here" als ein Ausweg aus der Deflation Japans in Erwägung gezogen wurde.7) Da die Debatte um das Helikopter-Geld aber weitestgehend akademischer Natur ist, wird in diesem Beitrag nicht weiter darauf eingegangen.

Im abschließenden Teil dieses Beitrags wird nun vielmehr auf das eigentliche makroökonomische Problem an der Nullzinsgrenze eingegangen und wie dieses optimalerweise von der Politik gelöst werden könnte. Es ist nämlich mitnichten so, dass die geldpolitischen Theorien ausgedient hätten. Es ist aber durchaus so, dass Geldpolitik in der aktuellen Situation allein zwar durchaus den Aufschwung fördern und unterstützen kann, dass sie dabei aber auch auf eine stabilitätsorientierte Fiskal- und Sozialpolitik angewiesen ist. Andernfalls drohen noch stärkere Verwerfungen auf den Finanzmärkten mit ungewissen Konsequenzen für die Finanzmarktstabilität, die Vermögensverteilung und letztendlich auch für die deutschen Sparer.

Bei genauerer Betrachtung von Abbildung 3 fällt besonders auf, dass die Langfristzinsen nicht erst seit den expansiven Stabilisierungsmaßnahmen der Zentralbanken infolge der Finanzkrise auf das derzeit historische Tief gefallen sind. Ganz im Gegenteil: Bereits seit den 80er Jahren sind die Langfristzinsen weltweit gefallen. Und trotz dieser historisch niedrigen Nominalzinsen verharrt die Inflationsrate auch weiterhin auf niedrigem und teilweise negativem Niveau (vergleiche Abbildung 4).

Andauerndes makroökonomisches Nachfragedefizit

Daher ist das weiterhin andauernde Problem der Industrienationen nicht die vermeintlich exzessiv-expansive Geldpolitik der Zentralbanken, sondern schlicht und einfach das andauernde makroökonomische Nachfragedefizit.8) Wie Abbildung 5 zeigt, ist die Kehrseite dieser Medaille die weiterhin hohe Ersparnis des privaten Sektors - trotz niedriger Zinsen. Zwar ist es richtig, dass überschuldete spanische Haushalte ihre Schulden abbauen müssen und ihren Konsum einschränken, aber dies gilt nicht im selben Ausmaß für die deutschen Haushalte.

Gleichwohl wäre es in dieser Situation im Sinne eines gleichgewichtigen Anpassungsprozesses hilfreich, wenn der deutsche Fiskus weniger Wert auf das Erreichen der sogenannten "schwarzen Null" und stattdessen mehr auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft legen würde. Eine deutlich expansivere Fiskalpolitik und eine Rückkehr zu einer die Lebensrisiken absichernden Sozialpolitik wären hier angemessen, auch um dringend erforderliche private Investitionen und Innovationen zu fördern. Abbildung 6 zeigt eindrucksvoll die negativen Nominalzinsen auf deutsche Staatsanleihen bis zu einer Laufzeit von neun Jahren. Abgesehen davon, dass es schlicht nicht vorstellbar ist, dass es für den Bund keine Investitionsmöglichkeiten gibt, die eine positive soziale Rendite versprechen,9) sind diese negativen Nominalzinsen auch eine Verschwendung von Steuermitteln.

Ganz im Sinne des oben zitierten Vorschlags von Keynes in Fußnote 7 sei mit folgendem provokanten Vorschlag geschlossen: Der Bundesfinanzminister kann sich, wie Abbildung 6 zeigt, derzeit zu negativen Zinsen verschulden. Man stelle sich nun der Einfachheit halber vor, eine einjährige deutsche Bundesanleihe wäre mit minus 1,0 Prozent verzinst und der Finanzminister möchte Bundesanleihen im Nennwert von einer Million Euro emittieren. Im einfachsten Fall (also etwa ohne Coupon-Zahlungen) würde er bei Emission der Anleihe 1 010 101,01 Euro einnehmen. Bei einem Zins von minus 1,0 Prozent würde er im nächsten Jahr die eine Million Euro wieder auszahlen. Der Minister - und insofern der Staat - bekommen die Differenz, also die 10 101,01 Euro gewissermaßen dafür bezahlt, dass dem Sparer eine sichere Anlage ermöglicht wird. Selbst der risikoscheueste Finanzminister könnte diese Verschuldung recht sorgenfrei wie folgt durchführen: Die eine Million Euro, die nach einem Jahr wieder ausgezahlt werden muss, wird bei der Bundeswehr gebunkert und von der Bundeswehr bewacht. Der Überschuss, also die 10 101,01 Euro könnte dann an die Steuerzahler ausgezahlt werden.

Literaturangaben

Bernanke, B. (2002): "Deflation: Making Sure 'It' Doesn't Happen Here", Speech delivered before the National Economists Club, Washington, D. C. November 21, 2002.

Bernanke, B. und M. Gertler (1995): "Inside the Black Box: The Credit Channel of Monetary Policy Transmission", Journal of Economic Perspectives, Volume 9, Number 4, Fall 1995, Pages 27-48.

Fratzscher, M. (2014): "Die Deutschland-Illusion. Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen." Hanser Verlag.

Friedman, M. (1969), "Optimum Quantity of Money." Aldine Publishing Company, 1969.

Hünnekes, F. (2016): "Effectiveness of Forward Guidance: Evidence from the euro area", Masterarbeit am Seminar für Makroökonomie der LMU München, August 2016.

Keynes, J. M. (1936): "The General Theory of Employment, Interest and Money", Macmillan, Cambridge University Press for the Royal Economic Society. Michaelis, H. und S. Watzka (2017): "Are there differences in the effectiveness of quantitative easing at the zero-lower-bound in Japan over time?", Journal of International Money and Finance 70 (2017) 204-233.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2016): "Zeit für Reformen" - Jahresgutachten 2016/17.

Schenkelberg, H. und S. Watzka (2013): "Real effects of quantitative easing at the zero lower bound: Structural VAR-based evidence from Japan", Journal of International Money and Finance 33 (2013) 327-357.

Watzka, S. (2011), "Wirksame Konjunkturpolitik kann Rezession verhindern und Wachstum fördern", ifo Schnelldienst 21/2011 - 64. Jahrgang.

Woodford, M. (2012), "Methods of Policy Accommodation at the Interest-Rate Lower Bound", Paper presented at the Jackson Hole Conference 2012.

Fußnoten

1) Inzwischen ist klar, dass die sogenannte Nullzinsgrenze tatsächlich etwas unter null liegt. Insofern müsste es im Text richtigerweise "effektive" Zinsuntergrenze heißen. Aufgrund des üblichen Gebrauchs des Wortes Nullzinsgrenze wird dies der Einfachheit halber beibehalten.

2) Vgl. Michael Woodfords (2012) Aufsatz, den er bei der Fed-Jackson-Hole-Konferenz vorgestellt hat.

3) In der modernen Literatur zur Liquiditätsfalle, die von Krugman (1998) initiiert wurde, bedeutet "länger" hier insbesondere auch länger als unter zukünftigen Gegebenheiten für die Zentralbank zum dann vorherrschenden Zeitpunkt optimal wäre. Die Zentralbank sollte also auch dann zukünftig die Zinsen niedrig halten, wenn die Taylor-Regel bereits höhere Zinsen erfordern würde. Vor diesem theoretischen Hintergrund sind die insbesondere in Deutschland immer wiederkehrenden Forderungen, die EZB solle die Niedrigzinsphase möglichst bald beenden, kritisch zu bewerten (vgl. dazu das jüngste Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2016).

4) Im Deutschen kann Quantitative Easing mit quantitativer Lockerung übersetzt werden. Im Text wird hauptsächlich die einfache Abkürzung QE verwendet.

5) Dieser sogenannte Bank-Lending Channel (oder Kreditvergabekanal) wurde unter anderem von Bernanke und Gertler entwickelt (vgl. Bernanke und Gertler, 1995).

6) Vgl. hier die Studien über die Erfahrungen der Bank of Japan mit QE von Schenkelberg und Watzka (2013) und Michaelis und Watzka (2017). Vgl. auch Hünnekes (2016) für eine Übersicht über die Auswirkungen von Forward Guidance im Euroraum.

7) Interessanterweise ist der eigentliche Vater des Helikopter-Geldes nicht Milton Friedman, sondern John Maynard Keynes. Keynes schlug vor, Geldnoten in Flaschen zu füllen, diese zu vergraben und die Ausgraberechte effizient an die Meistbietenden zu versteigern (vgl. Keynes, General Theory, 1936, p. 129). Helikopter-Geld klingt aber zweifelslos eleganter als etwa "Flaschengeld."

8) Bereits 2011 wies ich in einem Beitrag (Watzka, 2011) auf diese Problematik und mögliche Lösungswege hin.

9) Einfache Beispiele wären mehr öffentliche Investitionen in Bildung, Hochschulen, öffentliche Infrastruktur etc. Vgl. Fratzscher (2014).

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