Kredit-Ratings unter Nachhaltigkeitsaspekten

Prof. Dr. Björn Holste, Foto: Liminalytics GmbH

Seit Kurzem sind die Genossenschaftsinstitute verpflichtet, ein neues Rating zu verwenden, um Ausfallrisiken von Firmenkunden besser prognostizieren zu können. Die Autoren kritisieren, dass dabei das Thema Nachhaltigkeit nicht ausreichend berücksichtigt würde. Es handele sich bei der neuen Rating-Methode um ein modulares Verfahren. Dabei enthalte nur das Qualitative Modul als einziges Modul Ansätze, die eine Integration von Nachhaltigkeitsthematiken ermöglichen würden. Um den Anknüpfungspunkt in diesem Modul richtig nutzen zu können, brauche es jedoch dementsprechend geschulte Kreditanalysten. Die Autoren sehen in der neuen Methodik eine vergebene Chance. Zumal sie einen sehr großen Einfluss der Nachhaltigkeitsrisiken auf die Tragfähigkeit der Geschäftsmodell der Firmenkunden sehen. Um diesen mehr Rechnung zu tragen raten sie den Kreditanalysten zur Verwendung von Szenarien, die sich an die kuratierte Sammlung von Modellen des NFGS orientieren können. (Red.)

Seit August 2021 sind die Volks- und Raiffeisenbanken verpflichtet, ein neues Rating zu verwenden, um Ausfallrisiken von Firmenkunden besser einschätzen zu können. Das zu Recht aktuell im Fokus stehende Thema "Nachhaltigkeitsrisiken" findet sich in dieser Methodik jedoch nicht.

Dieser Beitrag befasst sich daher mit Nachhaltigkeitsaspekten im Allgemeinen und Auswirkungen von Klimaaspekten im Speziellen und zeigt deren Einflüsse auf die Bonitäts-, Branchen- und Sicherheitenbewertung auf. Es wird dargestellt, an welchen Stellen diese mit etwas Kreativität auch in der neu eingeführten Rating-Systematik berücksichtigt werden können. Schließlich wird eine Ausgestaltung der Rating-Methodik für Firmenkunden vorgestellt, die auf zukünftig tragfähige Weise diese Aspekte berücksichtigen könnte.

Rund drei Jahre befand sich die neue Rating-Methodik in der Vorbereitung, bevor die Implementierung abgeschlossen war und alle Nutzer Zugriff auf die aktualisierten Funktionen bekommen haben. Dieser Zyklus mag auf den ersten Blick lang erscheinen, ist aber für die Entwicklung und Umsetzung von IT-Projekten in der stark regulierten Bankenlandschaft keine Seltenheit.

Die neue Rating-Methodik für Firmenkunden

Im Vergleich mit Innovationszyklen in anderen Industrien liegen diese Implementierungszeiten durchaus im bundesweiten Durchschnitt. Im Vergleich mit der Klimaforschung lässt sich streiten, wie schnell Innovationszyklen tatsächlich sind. Unglücklicherweise sind jedoch im Vergleich, auf den es ankommt, die Zyklen schneller - drei Jahre sind für die klimatische Veränderung und die sich hieraus ergebenden Risiken zum aktuellen Zeitpunkt ein relativ langer Zyklus.

Auch wenn die Prognosen der Simulationsrechnungen die großen chronologischen Meilensteine 2030, 2050 und 2100 enthalten, zeigen sich jedoch bereits auf kleineren Zeitskalen wesentlichen Veränderungen: Selbst wenn der Anstieg der mittleren Temperatur nicht für alle Bürger fühlbar sein mag, sind die mit der Erwärmung einhergehenden Schwankungen deutlich spürbar. Das Wetter wird nicht nur wechselhafter und öfter für die jeweilige Jahreszeit untypisch. Insbesondere werden die Höhe und Bandbreite der Schwankungen (also die Varianz) größer, was etwa in sintflutartigen Regenfällen und damit einhergehenden Überschwemmungen mündet. Die durch intensive Bebauung und Verdichtung der Wohngebiete und die Überlastung der Infrastruktur (Auslegung der Abwasserkanäle, aber auch Dimensionierung von Stromkabeln für das Aufladen elektrischer Fahrzeuge) verstärken die steigende Varianz der Extremwetterereignisse zusätzlich.

Eine aktuelle Studie des MIT [3] ermittelt, dass Fintechs zwar eine Beschleunigung der Innovationszyklen in den zahlungsverkehrnahen Geschäftsfeldern (Retail Lending, Robo Advise, Zahlungsverkehr und zugehörige Abwicklungsdienstleistungen) ermöglicht haben, jedoch Beratungsgesellschaften und Rating-Agenturen die von Natur aus "langsameren" Felder dominieren, die mit regulatorischen Prozessen und internationalen Zertifizierungen zu tun haben.

Die neue Rating-Methodik des "VR-Rating Firmenkunden" ist ein modulares Rating-Verfahren, das neben Firmenkundenstammdaten und technischen Informationen wie Konto- und Schufa-Verhalten auch Finanzkennzahlen in Form von Jahresabschlüssen sowie zusätzlich eine Reihe qualitativer Fragen voraussetzt. In der Anwendung werden das Finanz- und Kundenmodul durch das qualitative Modul unterstützt. Alle Module werden monatlich mit Daten aus dem Kernbankensystem aktualisiert, sofern neue Informationen vorliegen, was bei qualitativen Fragen und Bilanzdaten in weiteren als monatlichen Abständen erfolgen dürfte. Auf diese Weise wird unter anderem die Integration des Jahresabschluss-basierten VR-Rating-Verfahren und des VR-Firmenkunden-Schnell-Ratings ermöglicht.

Für die Zwecke dieses Artikels und im Bezug zum Oberthema der Nachhaltigkeit wird das qualitative Modul herausgegriffen, da dies das einzige Modul ist, das Ansätze für eine mögliche Integration von Nachhaltigkeitsthematiken enthält. Hier sind 13 Fragen im Standard-Teilmodul, zwei zusätzliche Fragen im Agrar-Teilmodul und eine Frage für Non-Profit-Organisationen beinhaltet.

Fünfzehn Monate ist das qualitative Modul gültig, sofern kein Kreditausfall erfolgt oder andere Änderungen auftreten. Diese Gültigkeitsdauer ist nominal kürzer als die für das Finanzmodul zulässigen 24 Monate, führt aber in einem idealisierten Beispiel durch die Verzögerung der Bilanzerstellung und der Beantwortung der Fragen bei Rating-Vergabe zu einer zeitlichen Harmonisierung. Der Leitfaden fordert eine Herabstufung von zwei Rating-Klassen bei Ungültigkeit des qualitativen Moduls ( 15 Monate) beziehungsweise von drei Rating-Klassen ( 24 Monate). Wenn im Idealfall alle Module einschließlich Bilanz vorliegen, erfolgt die Gewichtung mit 40 Prozent Finanzmodul sowie jeweils 30 Prozent für die anderen Module. Das qualitative Modul enthält genau eine Frage, die Kredit-Analysten zum Nachdenken über Nachhaltigkeitsthemen anregt: "Wie beurteilen Sie die Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells mit Blick auf die erwartete Marktentwicklung?", deren Beantwortungshinweisen zu entnehmen ist, dass "Marktentwicklung" auch Informationen zur Nachhaltigkeit des Unternehmens wie CO2-Emissionen im Branchenvergleich enthalten darf. Schon das sich anschließende Beispiel, das einen Zulieferer für Elektromobilität anführt, bezieht den Terminus "nachhaltig" jedoch wieder auf die für den Umbau der Produktpalette notwendigen Investitionen und damit auf einen positiven NPV der damit in Zusammenhang stehenden Cashflows.

Verbesserte Risikoabschätzung

Die Chance, Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen einen größeren und der Beurteilung von Unternehmen adäquaten Stellenwert beizumessen, wurde vertan. Auch das zunächst einleuchtend erscheinende Argument, dass die Konzipierung der beschriebenen Novelle rund drei Jahre zurückliegt und daher eine breitere Integration von Nachhaltigkeitsaspekten im Allgemeinen und Klimaaspekten im Besonderen nicht erwartet werden konnte, verliert ihre Gültigkeit, wenn berücksichtig wird, dass Forscher bereits seit Jahrzehnten vor der Klimakrise und ihren Auswirkungen warnen. Neben einer verbesserten und adäquateren Risikoabschätzung in der Kreditvergabe geht die Integration von Nachhaltigkeitsfragen in den Rating-Prozess für Banken mit weiteren Möglichkeiten einher.

Nachfolgend zeigen einige eingeflochtene Beispiele auf, wie Wesentlichkeit und Wirkketten nicht nur für eine granulare Abschätzung von Risiko und Chancen genutzt werden können, sondern auch die Datengrundlage für verwandte Beratungsmodule bieten können. Gleichzeitig bietet die Integration von Nachhaltigkeitsrisiken einen tiefen Einblick in die strategische Entscheidungswelt des Kunden und ermöglicht somit wertvolle Gespräche, auf deren Basis die Weiterentwicklung der Kundenbeziehung aufbauen kann.

In Deutschland sind Naturkatastrophen im globalen Vergleich selten. Im Sommer 2021 haben allerdings die Flutkatastrophen auch hier daran erinnert, dass durch die globale Klimaveränderung auch lokal die Schwankungen im Wettergeschehen zunehmen, selbst wenn sich historische Mittelwerte nur langsam verändern. Mit der Winston Churchill zugeschriebenen Aussage "never let a good crisis go to waste" wollen wir dies als Anlass nehmen, über eine beschleunigte Einführung von Nachhaltigkeitskriterien im Rating von Firmenkunden nachzudenken.

Durch die zunehmende Aufhebung des klassischen "tragedy of the commons" Problems haben Nachhaltigkeitsaspekte wesentlichen Einfluss auf die Tragfähigkeit von Geschäftsmodellen, die Wertentwicklung von Immobilien und damit auch auf die Werthaltigkeit von Sicherheiten für Kredite.

Daher müssen diese ganzheitlich innerhalb der verschiedenen Risikosteuerungsprozesse und innerhalb der Gesamtbanksteuerung berücksichtigt werden. Das Bonitäts-Rating stellt in diesem Zuge eine wesentliche Stellschraube dar. Schon bei isolierter, beispielhafter Betrachtung von Klimarisiken wird deutlich, dass eine ganzheitliche Betrachtung notwendig ist: Transitorische und physische Risiken hängen stark voneinander und der politisch vorgeschriebenen Umsetzungsgeschwindigkeit auf dem Weg zur CO2-Neutralität ab. Aus Klimasicht ist eine schnelle Absenkung von THG-Emissionen erforderlich. Diese führt jedoch wiederum zu erhöhten transitorischen Risiken, da den Unternehmen für die Umsetzung weniger Zeit bleibt und generell höhere Kosten zu erwarten sind. Diese Notwendigkeit wird umso deutlicher, wenn der Blickwinkel auf andere SDGs erweitert wird.

Wie können nun diese Zusammenhänge in einem ganzheitlichen Modell berücksichtigt werden? Und welche Nachhaltigkeitsaspekte sind unternehmensseitig schlussendlich bonitätsrelevant und über welche Mechanismen? Welche Aspekte führen unter welchen Umständen beispielsweise zu höheren Betriebskosten, einem akuten Investitionsbedarf, potenziellen Umsatzeinbrüche oder Schadenskosten? Welche Aspekte wiederum wirken auf die Werthaltigkeit etwa einer Immobilie, die als Sicherheit hinterlegt ist?

Die Antwort liegt in der Verwendung von Szenarien. Je nachdem, welches Szenario zugrunde gelegt wird, resultieren daraus verschiedene Risikotreiber. Diese können physischer oder transitorischer Art sein. Welche Art der Risikotreiber überwiegt, ist je nach Szenario unterschiedlich. Gehen wir davon aus, dass ab der Bundestagswahl ein sehr ambitionierter Klimakurs in der Politik eingeschlagen wird, mögen die transitorischen Risiken kurzfristig zunächst zunehmen, weil zum Beispiel von einem rasant steigenden CO2-Preis sowie von klaren CO2-Obergrenzen ausgegangen werden muss. Dafür werden die physischen Risiken, die ins Unermessliche steigen, wenn wir einen "Weiter-wie-bisher"-Kurs einschlagen, eingedämmt. Gleichzeitig würden die transitorischen Risiken in einem Szenario, in dem verzögert, aber dann noch disruptiver gehandelt wird beziehungsweise werden muss, noch weitaus größer werden als bei einem sofortigen ambitionierten Handeln.

Klimaszenarien vom NGFS

Eine Beurteilung der Risikotreiber ohne Definition des zugrunde liegenden Szenarios ist somit offenkundig sinnlos. Dies gilt nicht nur für eine Beurteilung der Ausprägung der Risikotreiber (hoher oder niedriger CO2-Preis), sondern auch für die Identifikation der relevanten Risikotreiber an sich. Während ein möglicher CO2-Preis vor einigen Jahren noch nicht als Risikotreiber für die Geschäftsmodelle von Unternehmen wahrgenommen wurde, werden in einem Szenario, in dem die Biodiversitäts- und Bodenfruchtbarkeitskrise absehbar stärker in den Blick genommen werden, plötzlich Stickstoffausstöße von Unternehmen zu einer relevanten Kennzahl, da es neue Risikotreiber wie eine Stickstoff(überschuss)abgabe geben wird. Gleiches gilt für die Versauerung der Ozeane, die Verletzung von Menschenrechten, Kinderarbeit und so weiter. Daher gilt es, dieses Denken in möglichen Szenarien und den davon abzuleitenden Risikotreibern auf alle Bereiche zu übertragen, in denen wir (a) planetare Grenzen bereits heute oder in absehbarer Zeit überschreiten und (b) soziale Fundamente schwächen oder bereits in einen kritischen Zustand geführt haben.

Als Ausgangsbasis für verschiedene Klimaszenarien bietet sich die vom Network of Central Banks and Supervisors for Greening the Financial System (NGFS) kuratierte Sammlung von Modellen und Szenarien an. Mithilfe der unterschiedlichen Simulationsrechnungen kann die Entwicklung von verschiedenen Risikotreibern abgeleitet werden.

Neben den bereits ausgearbeiteten Sets an Szenarien (beispielsweise des NGFS) kann es auch sinnvoll sein, eigene Szenarien zu entwickeln - etwa, wenn kein Szenario die eigene vermutete Realität abbildet oder bestimmte Faktoren und Einflüsse nicht oder nicht ausreichend in ihren Wechselwirkungen berücksichtigt werden.

Die aus den Szenarien resultierenden Risikotreiber müssen in der Folge über eine Betroffenheitsanalyse auf verschiedene Branchen, einzelne Unternehmen und/ oder individuelle Objekte übertragen und hinsichtlich ihrer Wirkungen überprüft werden. Die Betroffenheit ergibt sich dabei aus einem Zusammenspiel zwischen (1) der Abhängigkeit von sozialen und ökologischen Faktoren und Leistungen, (2) dem Einfluss auf diese Faktoren und Leistungen und (3) der Anpassungsfähigkeit hinsichtlich (1) und (2).

Die resultierende Betroffenheit wiederum muss auf ökonomische Treiber übersetzt werden. Dies können o.g. Aspekte wie höhere Betriebskosten, ein akuter Investitionsbedarf, potenzielle Umsatzeinbrüche oder auch ein plötzlicher Anstieg der Schadenskosten sein. Diese Übersetzung ermöglicht eine Berücksichtigung in den Bestandteilen des Ratings, wobei sich die Wesentlichkeit der einzelnen Aspekte und Risikotreiber dabei je nach Branche, Geschäftsmodell, geografischer Lage, Bilanzstruktur sowie der Position in der globalen Lieferkette unterscheidet.

So sind etwa für die Agrarwirtschaft (NACE A.01) Faktoren wie maximale Temperatur und Niederschlag von wesentlicher Bedeutung, wohingegen diese für eine IT-Beratung (NACE J.62) zunächst eine untergeordnete Rolle spielen. Bereits an diesem naiven Beispiel lässt sich erkennen, dass die Beurteilung von Nachhaltigkeitsrisiken auf der Ebene einzelner Geschäftsmodelle und -strategien erfolgen muss. Nur so können unternehmensspezifische Faktoren wie Bilanzstruktur, Investitionen in neue Technologien, Mitarbeiterzahl, Umsatzklasse und Industrie- beziehungsweise Sektorzugehörigkeit berücksichtigt werden.

Position in der Lieferkette

Darüber hinaus spielt auch die Position eines Unternehmens in der Lieferkette eine Rolle. Als Beispiel sei hier ein Automobilzulieferer (NACE C.29) genannt, der selbst kaum CO2 (als Proxy für THG) erzeugt, jedoch Zulieferer (Upstream) hat, die selbst einen hohen CO2-Fußabdruck aufweisen. Sind diese in einem Land mit hohen zukünftigen Emissionspreisen beheimatet, stellt sich die Frage, wer die zusätzlichen Kosten trägt. Dies gilt auch für unseren Automobilzulieferer selbst, der zusätzlich mit der EU-Carbon-Border-Tax belastet wird - übernimmt er diese Kosten selbst oder ist eine Weitergabe an seine Kunden (Downstream) möglich? Ähnlich wie in der aktuellen Diskussion um CO2-Kosten bei Mieten, wird der Kreditanalyst individuell beantworten müssen, durch wen die zusätzlichen Kosten je nach Szenario getragen werden.

Die oben bereits geschilderte zwingende Verwendung von Szenarien ergibt sich in diesem Zusammenhang auch daraus, dass historische Daten in einer politisch, klimatisch und regulatorisch veränderten Zukunft nur sehr bedingt für Prognosen herangezogen werden können. Da genau solche Entwicklungsschritte zur ganzheitlichen Berücksichtigung wesentlicher Nachhaltigkeitsaspekte jedoch bislang noch fehlen, soll im Folgenden ein pragmatischer Ansatz aufgezeigt werden, der es innerhalb der bestehenden neuen Rating-Systematik erlaubt, Nachhaltigkeitsaspekte zu integrieren. Aufsatzpunkt bilden die oben erwähnten 13 neuen, qualitativen Fragen. Hier ermöglicht die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells schon heute eine Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in den Rating-Prozess, auch wenn die Gewichtung dieser einen Frage im Gesamtkontext deutliche Diskussionspotenziale bietet.

Die Extremwetterereignisse, Überflutungen und Hitzewellen der letzten Monate haben wiederholt gezeigt, dass kaum mehr ein Geschäftsmodell vor Klimarisiken geschützt ist. Neben diesen physischen Risiken werden in naher Zukunft auch vermehrt transitorische Risiken auf Unternehmen zukommen. Die Resilienz einzelner Geschäftsmodelle kann nur durch ambitionierte Transformationsmaßnahmen gesteigert werden.

Gerade dieses Thema stellt für viele Mitarbeiter in seinen mannigfaltigen Facetten und finanziellen Auswirkungen Neuland dar und ist hinsichtlich der damit verbundenen Chancen und Risiken noch nicht in Gänze zu überblicken. Als Orientierungshilfe können pro Szenario folgende Leitfragen bei der Beantwortung der Frage nach der Zukunftsfähigkeit dienen. Die Untergliederung der Leitfragen nach Betroffenheit sowie Anpassungsfähigkeit der Branche, relativer Position des Unternehmens innerhalb der Branche sowie die Aufteilung nach Risikoarten kann hierbei eine breite Beurteilung aus unterschiedlichen Blickwinkeln beurteilen. Gleichzeitig ist auf diese Weise die Generierung von Kontrollfragen möglich, die mithilfe Künstlicher Intelligenz ausgewertet werden können.

Somit ergeben sich folgende Frageblöcke:

1. Wie hoch bewerten Sie das Klimaübergangsrisiko der Branche/des Unternehmens (im Vergleich zu allen anderen Branchen/Unternehmen der Branche) in Bezug auf Betroffenheit/die Anpassungsfähigkeit?

2. Wie hoch bewerten Sie das identifizierte regulatorische Risiko/Marktrisiko/ technologische Risiko/Reputations-Risiko?

3. Wie hoch bewerten Sie das physische Risiko des Unternehmens (im Vergleich zu anderen Unternehmen in derselben Branche) in Bezug auf Betroffenheit / Anpassungsfähigkeit?

Bei Skalierung und Scoring der Antworten sollte nicht nur die Möglichkeit zur Erfassung negativer Einflüsse in Form von Risiken, sondern auch die Ermittlung positiver Einflüsse berücksichtigt werden.

Als Beispiel kann der Energieerzeuger E.ON dienen. Während hier vor nur wenigen Jahren die Betroffenheit aufgrund der Fokussierung auf Erzeugung brauner Energie noch sehr hoch war und die Zukunftsaussichten entsprechend kritisch beurteilt werden mussten, haben Investitionen in technologischen Wandel dazu geführt, dass E.ON heute deutlich resilienter gegenüber Klimarisiken aufgestellt ist. Eine Beschränkung auf negative Einflüsse hätte hier ex-post zu einer falschen Beurteilung geführt und die Finanzierung von Investitionen erschwert. Aber gerade die Finanzierung nachhaltiger Investitionen in Zukunftsfähigkeit ist ein erklärtes Ziel des nachhaltigen Bankings. Die damit einhergehende Chancenperspektive wird ebenfalls deutlich, wenn auf den für das Gelingen der Transformation notwendigen Investitionsbedarf geschaut wird, der für Deutschland auf 6 Billionen Euro oder rund 7 Prozent des BIP bis 2045[4] geschätzt wird.

Die Berechnung des Kreditportfolio-Risikos erfolgt innerhalb des BVRs überwiegend nach einer Variante des CreditRisk+ Modells. Dieses wurde Ende der neunziger Jahre von der Credit Suisse als Ein-Sektoren-Modell entwickelt und für die Verwendung mit mehreren Sektoren durch die von Bürgisser et al. [2] entwickelte Methodik für die Verwendung mit mehreren Sektoren erweitert. Hierbei wird die Korrelation zwischen verschiedenen Sektoren in einer symmetrischen Matrix zusammengefasst und in ihrer Dimensionalität auf eins reduziert, sodass sie im Modell direkt verwendet werden können.

Die zuvor beschriebene Erfassung qualitativer Faktoren kann mittelbar ermöglicht werden, indem ein kalibriertes Scoring-Modell zur Übersetzung verwendet wird. Auf diese Weise lassen sich Rating-Notches für jedes einzelne Portfolio-Unternehmen ermitteln und können im bestehenden Modell als PD-Shift1) integriert werden.

Stärkere Gewichtung der Nachhaltigkeit im Rating nötig

Die direkte Integration quantitativ erfassbarer Faktoren ist jedoch auch unmittelbar möglich, setzt aber weitere Annahmen voraus. Idealtypisch liegen hierfür Szenario-basiert für jedes Unternehmen GuV, Bilanz und Cashflow-Planung für mindestens die Dauer der zu betrachtenden Kreditlaufzeit vor. Zu erwartende zusätzliche Kosten beispielsweise aus CO2-Preisen können so mit direktem Einfluss auf die Tragfähigkeit des Geschäftsmodells modelliert und in Form angepasster Ausfallwahrscheinlichkeiten in die Portfolio-Simulation integriert werden. Gleiches gilt für Marktchancen, die sogar innerhalb der gleichen Branche zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen können.

Als Beispiel seien zwei Erzeuger von Wasserstoff, W1 und W2, angeführt. W1 erzeugt braunen Wasserstoff aus Naphtha mithilfe eines Steam-Crackers2) und W2 erzeugt grünen Wasserstoff aus Off-Peak Windenergie-Strom und Elektrolyse. Es liegt auf der Hand, dass die Zukunftsfähigkeit beider Geschäftsmodelle stark vom CO2-Preis abhängt, der je nach verwendetem Szenario bis zu mehreren tausend Euro pro Tonne betragen kann.

W1 und W2 fallen in der Branchen-Klassifizierung sowohl BVR-intern als auch auf NACE-Ebene in dieselbe Kategorie. Hier wird bereits anhand dieses einfachen Beispiels deutlich, wie dringend auch auf internationaler Ebene eine Reform der Branchenklassifizierungen in Zusammenarbeit mit den national statistischen Ämtern erforderlich ist, wenn vergleichbare Beurteilungen durch Regulatoren ermöglicht werden sollen.

Dies macht deutlich, dass wir eine umfängliche Erneuerung der Rating-Systematik benötigen, die eine szenariobasierte Integration von Risikotreibern und deren Auswirkungen auf die GuV, Bilanz und Cashflow-Planung des jeweiligen Unternehmens für mindestens die Dauer der zu betrachtenden Kreditlaufzeit ermöglicht. Dies erfordert eine Anpassung des Zeithorizonts, der den Ratings zugrunde liegt, der Dimensionalität, der zu befüllenden Datenfelder, um Nachhaltigkeitsaspekte und die spezifische Betroffenheit der Unternehmen adäquat abbilden zu können sowie die Möglichkeit, verschiedene Szenarien als Ausgangsbasis einfließen lassen zu können.

Während die oben aufgeführten Bei spiele klimaspezifische Aspekte innerhalb physischer und transitorischer Risiken herausgreifen, lässt sich die Methodik mit dem gleichen Schema auf andere Aspekte der 17 SDGs erweitern. Hier kommen auf den ersten Blick Themen rund um Biodiversität, Arbeitgeber-Attraktivität und Arbeitsbedingungen, Wasserverbrauch und Dürre in den Fokus. Allerdings darf für eine quantitative Analyse im Rahmen der Ermittlung eines Kreditportfolio-Risikos die Verfügbarkeit belastbarer Daten in der benötigen regionalen und sektoralen Auflösung nicht außer Acht gelassen werden.

Ebenso sollte die Ausweitung der Analyse über nationale Grenzen hinaus nicht hintenangestellt werden. Insbesondere die Position eines Unternehmens innerhalb internationaler Lieferketten kann wesentlichen Einfluss auf die Trag- und Zeugungsfähigkeit von Geschäftsmodellen haben. Die kürzliche Blockierung des Suez-Kanals hat deutlich gezeigt, dass allein die zeitliche Verzögerung signifikante Auswirkungen haben. Diese waren jedoch nur kurzfristig von Bedeutung, wohingegen Kosteneffekte entlang von Lieferketten sehr langfristige Auswirkungen haben können.

Die Novelle der Rating-Methodik enthält mit der Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Unternehmen einen ersten Ansatz, über den potenziell Nachhaltigkeitsrisiken einfließen können. Dies setzt voraus, dass die Kreditanalysten auf die Integration entsprechender Fragestellungen geschult sind und "Zukunftsfähigkeit" auch im Sinne der Nachhaltigkeit auslegen.

Die Gewichtung von Nachhaltigkeit als Aspekt des Firmenkunden-Ratings, insbesondere im Vergleich mit der internationalen Bedeutung des Themas muss jedoch einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen, wenn langfristige ökonomische Tragfähigkeit zur Maxime werden soll - und dies nicht nur im Bonitäts-Rating, sondern auch in allen anderen Aspekten der Gesamtbanksteuerung.

Fußnoten

1) Veränderung der Ausfallwahrscheinlichkeit (PD - Probability of Default) einzelner Unternehmen.

2) 95 Prozent des globalen Wasserstoffbedarfs werden im SMR Prozess erzeugt (steam methane reforming process)

Literaturverzeichnis

BVR-Jahresbericht. Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, 2019.

Peter Bürgisser, Alexandre Kurth, Armin Wagner, and Michael Wolf. Integrating correlations. Risk Magazine, 12(7), July 1999.

Dhar, Vasant and Stein, Roger, FinTech Platforms and Strategy (December 14, 2016). MIT Sloan Research Paper No. 5183-16, Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2892098 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2892098

McKinsey (Sep. 2021): Net-Zero Deutschland. https://www.mckinsey.de/~/media/mckinsey/locations/europe%20and%20middle%20east/deutschland/news/presse/2021/2021-09-10%20net-zero%20deutschland.... Abgebrufen am 15.09.2021

Prof. Dr. Björn Holste , Managing Partner , Liminalytics GmbH
Dr. Laura Mervelskemper , Co-Leiterin Wirkungstransparenz & Nachhaltigkeit , GLS Bank e G, Bochum

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