Negativrenditen bei Unternehmensanleihen - Steuerungsfunktion des Kapitalmarktzinses außer Kraft

Prof. Dr. Dirk Meyer, Institut für Volkswirtschaftslehre, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg - Seit Juni 2016 kauft die EZB auch Unternehmensanleihen. Bereits die Ankündigung einer Ausweitung des Ankaufprogramms hat zu einem deutlichen Renditerückgang in diesem Marktsegment geführt. Neuemissionen von Anleihen einzelner Industrieunternehmen erzielten sogar negative Renditen. Dieses scheinbar wenig bedeutsame und eher kuriose, neue Detail der "außergewöhnlichen" Geldpolitik könnte aus Sicht des Autors weitreichende Folgen haben. Kernbotschaften seiner volks- und betriebswirtschaftlichen Analyse: Die Steuerungsfunktion des Kapitalmarktzinses wird außer Kraft gesetzt. Und Investitionen werden trotz einer negativen Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals betriebswirtschaftlich lohnend. (Red.)

Money for nothing - der Zinsentscheid der Europäischen Zentralbank (EZB) vom März 2016 wirkt nach:1) Ein Leitzins von 0 Prozent bietet den Banken kostenloses Zen tralbankgeld. Zugleich wird die Überschussliquidität mit einem Einlagenzins von minus 0,4 Prozent teuer bestraft. Vier neue Kreditprogramme (TLTRO II) mit jeweils vier Jahren Laufzeit ermöglichen den Geldinstituten seit Juni sogar eine Refinanzierung zu einem Negativzins, der so niedrig sein kann wie der Einlagenzins. Damit wird eine Kreditvorsorge im günstigsten Fall ohne die Gefahr von Strafzinsen möglich.

Schließlich wurde das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme, APP) ausgeweitet und das Anleihevolumen von monatlich 60 auf 80 Milliarden Euro seit April erhöht. Bei einem Anstieg der Bilanzsumme von 2,2 auf 3,4 Billionen Euro seit Beginn im März 2015 hat das Kaufprogramm bisher ein Volumen von 1 233 Milliarden Euro. Neuerdings darf die EZB neben Staatsanleihen (1 002 Milliarden Euro), Pfandbriefen (191 Milliarden Euro), ABS-Verbriefungen (20 Milliarden Euro) außerdem auch "gute" Unternehmensanleihen (20 Milliarden Euro) ankaufen (Stand vom September 2016).2)

Erfolg und Schadenspotenzial

Wie sieht die derzeitige Bilanz der von der EZB offiziell verfolgten Zielvorgaben der Anhebung der Inflationsrate und der Stärkung der Kreditvergabe aus, mit der die Konjunktur insbesondere der Südländer beflügelt werden soll? Aufgrund der Szenarienabhängigkeit ist eine eindeutige Antwort nicht möglich. Diese Unsicherheit steigt zudem naturgemäß mit dem gewählten Zeithorizont. In einer Simulationsanalyse, die auf zwei Modellrechnungen beruht, kommt die Deutsche Bundesbank zu folgenden Ergebnissen für den Euroraum, die die jeweiligen Unter- und Obergrenzen der Wirkungen der Anleiheankäufe markieren dürften:3)

- Der harmonisierte Verbraucherpreisindex liegt in den drei Programmjahren um 0,3 bis 0,6 (2015), 0,4 bis 1,8 (2016) und 0,2 bis 2,6 (2017) Prozentpunkte höher.

- Der Effekt für das reale Bruttoinlandsprodukt beträgt 0,6 bis 0,7 (2015), 0,5 bis 1,5 (2016) und 0,0 bis 1,0 Prozentpunkte.

- Das Wachstum der Kredite an Unternehmen und Privathaushalte beträgt aktuell 1,2 Prozent und liegt damit erheblich unter der Jahresrate des Geldmengenwachstums (M3) von 4,6 Prozent.4)

Die nach diesen Berechnungen teils nicht unbeachtlichen Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die außergewöhnliche Geldpolitik zum einen nicht die gesteckte Inflationsmarke von knapp unter 2 Prozent erreicht hat, zum anderen mit erheblichen Kosten beziehungsweise Schadenpotenzialen einhergeht. Zu letzteren zählen die stark gewachsenen Risiken für Geldinstitute, bei denen die Auswirkungen auf ihre Bilanzen und Geschäftspolitik noch nicht absehbar sind. Gleiches gilt für die Lebensversicherungen, die kapitalgedeckte Altersvorsorge und für Stiftungen, deren Geschäftsmodelle auf Zinserträgen aufbauen. Da die zusätzliche Geldmenge nicht das Güterpreisniveau, sondern die Vermögenspreise anhebt, kommen mögliche Preisblasen und Fehlbewertungen auf den Vermögensmärkten hinzu. Zukünftig dürften erhebliche Schwierigkeiten für die Staatshaushalte und Investoren im Falle einer Umkehr der Geldpolitik zu erwarten sein.

Ankauf von Unternehmensanleihen - eine letzte Stellschraube?

Die Inflationserwartungen werden durch das Handeln der Notenbank und den Reaktionen der Märkte bestimmt. Da das Inflationsziel mittelfristig aus Sicht der Marktteilnehmer nicht erreichbar sein wird, steht das Handeln der EZB unter einem Glaubwürdigkeitsverlust. Mit einem Hauptrefinanzierungssatz von 0,0 Prozent dürfte die Zinsuntergrenze erreicht sein. Der negative Einlagenzinssatz dürfte die Höhe der Grenzkosten der Bargeldhaltung (Safe, Versicherung) erreicht haben, sodass auch hier eine Steigerung ohne Ausweichreaktion kaum mehr denkbar ist. Damit scheint das Ende der Möglichkeiten der besonderen geldpolitischen Maßnahmen erreicht zu sein.

Trotz der Ausweitung der Anleiheankäufe auf ABS-Verbriefungen und Pfandbriefe hat die EZB zunehmend Probleme, geeignete Wertpapiere für das APP zu bekommen. Von den zirka 6 000 Milliarden Euro Staatsanleihen des Euroraumes haben 4 260 Milliarden Euro eine negative Rendite (September 2016).5) Auch um ihren Einfluss als marktbeherrschender und preisbeeinflussender Akteur selbst zu begrenzen, beschränkt die EZB ihre Ankäufe bei Staatsanleihen auf Laufzeiten von 2 bis 30 Jahren, wobei maximal 33 Prozent des Emissionsvolumens in das Portfolio genommen werden darf.6) Auch um dem Argument einer staatendiskriminierenden Zinsmanipulation entgegenzuwirken, müssen die Anleihequoten dem Kapitalanteil an der EZB entsprechen. Darüber hinaus kauft die EZB keine Schuldverschreibungen mit einer Rendite niedriger als dem Einlagenzins von minus 0,4 Prozent, um eigene Verluste zugunsten von risikolosen Gewinnen der Banken zu vermeiden, die ihrerseits die Erlöse der Überschussliquidität zuführen würden.

Welche Stellschrauben bleiben der Zentralbank noch? Eine Absenkung des Hauptrefinanzierungssatzes unter 0 Prozent würde der EZB Verluste bringen. Wie die Überschussliquidität in Höhe von 1 023 Milliarden Euro (September 2016) außerdem zeigt, bestehen vonseiten der Geschäftsbanken kaum Anreize einer Inanspruchnahme, da die Anlage beispielsweise in als sicher geltende Bundespapiere teilweise eine noch höhere Negativrendite erbringt. Dies kann als ein Kontrollverlust der Zentralbank über die Geldschöpfungsaktivitäten der Geschäftsbanken gewertet werden.7) Die Höhe des Strafzinses wird zudem durch die Grenzkosten der Bargeldhaltung begrenzt. Eine Ausweitung auf kurzlaufende Anleihen unter zwei Jahren würde die Zinsstrukturkurve steiler werden lassen und die Renditen langlaufender Papiere weiter in den negativen Bereich bewegen. Wohl auch deshalb hat der EZB-Rat mit Wirkung vom 7. Juni 2016 beschlossen, als weitere Wertpapierklasse Unternehmensanleihen anzukaufen.

Damit erschließt die EZB ein zusätzliches Marktsegment von etwa 800 Milliarden Euro. Im Unterschied zu Staatsanleihen können bis zu 70 Prozent einer Emission erworben werden, neuerdings auch direkt am Primärmarkt. Ähnlich wie bei Pfandbriefen ist die EZB nicht an die Quoten der nationalen Kapitalschüssel gebunden. Die Markterwartungen liegen bei monatlichen Kaufvolumina zwischen 3 und 10 Milliarden Euro.8) Bereits mit der Ankündigung vom 10. März 2016 sanken die Renditen entsprechender Papiere. Ähnlich wie im Markt für Pfandbriefe hat die EZB die Anleihepreise nach oben getrieben. Sodann haben insbesondere Großunternehmen die Gelegenheit genutzt, um vermehrt Neuemissionen einzuführen.

Innerhalb der ersten fünf Wochen (8. Juni bis. 15. Juli 2016) wurden 458 Anleihen von 175 Unternehmen mit einem Volumen von 10,4 Milliarden Euro angekauft.9) Davon waren 3 Milliarden Euro Anleihen französischer Unternehmen (29 Prozent, unter anderem Renault) und 2,6 Milliarden Euro Anleihen deutscher Unternehmen (25 Prozent, unter anderem Allianz, Bayer, BASF, VW, Siemens, Linde). Jede achte Unternehmensanleihe, insgesamt Anleihen im Umfang von 2 Milliarden Euro von zumeist staatsnahen Unternehmen (Deutsche Bahn, Deutsche Post), hatte eine negative Rendite. Bei einem Ankauf zu Kursen über 100 Prozent des Nominalwertes fährt die EZB bei der Tilgung Verluste ein. Im September 2016 gelang erstmals zwei Privatunternehmen eine Neuemission mit Negativzins. Die Henkel AG begab eine zweijährige Anleihe im Umfang von 500 Millionen Euro mit einer Emissionsrendite von minus 0,05 Prozent. Die Sanofi AG konnte mit einer dreijährigen Anleihe ebenfalls minus 0,05 Prozent erzielen.10) Zu welchen betriebs- und volkswirtschaftlichen Konsequenzen führt diese - doch scheinbar relativ bedeutungslose - Ausweitung des APP?

Die ökonomische Steuerungsfunktion des Anleihezinses ...

Der Anleihezins als Preis für die zeitliche Kapitalüberlassung an die Anleiheemittenten ergibt sich vonseiten des Kapital-/Kreditangebotes aus den Präferenzen der Sparer und - soweit eine Kreditgeldschöpfung des Geschäftsbankensystems besteht - aus der Datensetzung der Zentralbank. Ersparnisse, gemeinhin definiert als Konsumverzicht, resultieren aus der Zeitpräferenz der Wirtschaftssubjekte. Sie ist Ausdruck der Präferenz eines Konsumenten für den Konsum in der Gegenwart gegenüber künftigem Konsum. Wertend wird sie auch als Gegenwartspräferenz bezeichnet, da das Warten in der Regel belohnt werden muss. Weil das bereitgestellte Kapital für Investitionen verwendet wird, ist die Rückzahlung zum vereinbarten Termin zudem nicht sicher. Hier hängt es vom Informationsstand und der Risikoneigung der Anleihezeichner ab, welche Opportunitätskosten sie dafür veranschlagen. Im Regelfall liegt Risikoaversion vor, das heißt, eine sichere Alternative wird bei gleichem Risikoerwartungswert einer unsicheren Alternative vorgezogen. Die Übernahme von Risiko muss belohnt werden.

Im Ergebnis ist der Anleihezins umso höher, je länger eine Unternehmensanleihe läuft und je höher das mit der Anleihe verknüpfte Risiko ist. Insbesondere in der kurzen Frist besteht für die Notenbank zusätzlich die Möglichkeit der Zinsbeeinflussung. Beispielsweise kann die Zentralbank den Kreditzins weiter senken, indem sie die Refinanzierung für die Banken erleichtert, so dass diese zur Kreditgeldschöpfung durch Giralguthaben angeregt werden.

Die Kreditnachfrage für Investitionen wird über die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals gesteuert. Zur Ermittlung der Vorteilhaftigkeit einer Investition werden alle projektbezogenen Nettoerlöse auf den Investitionszeitpunkt diskontiert, um den Kapital- beziehungsweise Gegenwartswert zu ermitteln. Die Grenzleistungsfähigkeit des Investitionsprojektes entspricht demjenigen internen Zinsfuß (r), bei dem ein Kapitalwert von null resultiert, das heißt die Summe der mit dem Kalkulationszinssatz (i) abgezinsten künftigen Nettoerlöse gerade den Anschaffungsbetrag der Investition deckt. Ist der interne Zinssatz größer als der Kalkulationszinssatz, so lohnt sich das Vorhaben betriebswirtschaftlich.

(1) Investitionskalkül:

interner Zinsfuß (r) > Kalkulationszinssatz (i) -> Kapitalwert >= 0 Prämisse: r, i >= 0

Für die nachfolgenden Ausführungen ist die Ermittlung des Kalkulationszinssatzes von wesentlicher Bedeutung. Er wird durch die Möglichkeiten alternativer Kapitalanlagen bestimmt, wobei häufig der Marktzins (m) einer "sicheren Anlage" als Referenz genommen wird. Demnach würde ein Investor jede Realinvestition vornehmen, bei der die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals größer als der Marktzins ist. Dies erklärt die negative Zinsabhängigkeit der Investitionsnachfrage sowohl einzel- wie auch gesamtwirtschaftlich.11)

... führt bei negativen Kapitalmarktzinsen zur Fehlallokation

Eine Besonderheit liegt in dem außergewöhnlichen Fall negativer Kapitalmarktzinsen vor. Da Bundesanleihen derzeit je nach Laufzeit gegen null oder im negativen Bereich rentieren, ergibt sich - gegebene Ertragserwartungen vorausgesetzt - ein entsprechend hoher Kapitalwert respektive interner Zinsfuß. Allerdings würde sich - entgegen Ungleichung (1) - bei einem negativen internen Zinssatz, der zwar größer ist als der ebenfalls negative Kalkulations-/ Marktzinssatz, eine Finanzierung unter Einsatz von Eigenkapital nicht lohnen. Der Kalkulationszins fände bei null seine Untergrenze, da eine Bargeldhaltung (Hortung) günstiger käme als eine (Teil-)Kapitalvernichtung bei negativem Kapitalwert.

(2) interner Zinsfuß (r) > Kalkulationszinssatz (i) = Marktzinssatz (m) -> Kapitalwert <= 0 Prämisse: r, i, m <= 0

Sollte das Unternehmen allerdings die Möglichkeit haben, die Investition mit Fremdkapital finanzieren zu können, so wäre das Vorhaben gemäß (2) betriebswirtschaftlich lohnend. Obwohl die Investition zu Verlusten führt, können diese durch den niedrigeren Tilgungsbetrag überkompensiert werden. Der negative Kapitalwert weist jedoch darauf hin, dass volkswirtschaftlich gesehen eine Einkommens-/Kapitalvernichtung stattfinden wird, da der reale Ressourceneinsatz durch die Wertschöpfung nicht verdient wird. Volkswirtschaftlich wird Wohlstand vernichtet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt.

Negativzins bei Staats- und Unternehmensanleihen

Anzumerken ist, dass in der volkswirtschaftlichen Bewertung zwischen einem Negativzins bei Staatsanleihen und dem bei Unternehmensanleihen ein wesentlicher Unterschied besteht. Der Staatskredit wird für konsumtive Zwecke, Transfers/ Subventionen oder Investitionen verwendet. Alle Verwendungen beruhen auf politischen, demokratisch legitimierten Haushaltsentscheidungen der Parlamente.

Bei den staatlichen Investitionen ist zudem davon auszugehen, dass sie unter privatwirtschaftlichen Bedingungen entweder nicht, nicht in dem Umfang beziehungsweise nicht in der Qualität vorgenommen würden, da eine entsprechende privatwirtschaftliche Rentabilität nicht zu erwarten wäre. So haben Investitionen etwa in Kitas, Schulen, Straßen und Krankenhäuser hohe positive externe Nutzenstiftungen, die am Markt jedoch nicht den notwendigen Preis erzielen würden, der für das gesellschaftlich erwünschte Angebot notwendig wäre. Daneben ist mit einer Bereitstellung von staatlichen Dienstleistungen zumeist implizit eine Umverteilung verbunden. Von daher können hier keine eindeutigen negativen Wohlstandseffekte abgeleitet werden, wenn eine Finanzierung zu Negativzinsen erfolgt.

Eindeutig dürfte hingegen die Anreizwirkung auf das Niveau der staatlichen Kreditfinanzierung sein. So wird das Staatsdefizit infolge der Niedrig-/Negativzinsen um 1 bis 2 Prozentpunkte niedriger geschätzt, als es ohne die quantitative Lockerung wäre.12) Es bestehen insofern An reize, von einer direkten Besteuerung auf eine Kreditfinanzierung auszuweichen. Auch könnten Effekte zu ausgedehnteren Staatsausgaben und einer gegebenenfalls weniger effizienten Bereitstellung einhergehen.

Folgen und Konsequenzen aus volkswirtschaftlicher Sicht

Die EZB wird durch die Ankäufe zu einem marktmächtigen, preisbeeinflussenden oder gar preissetzenden Akteur.13) Gegenüber dem Markt für Staatsanleihen der Euroländer ist die Marktbeeinflussung durch den Ankauf von Unternehmensanleihen wesentlich spürbarer, da sie bis zu 70 Prozent einer Emission aufkaufen kann und die Marktenge hier insgesamt wesentlich ausgeprägter ist. Bereits mit der Ankündigung der Ankäufe sanken die Renditen für Unternehmensanleihen von März bis Juni 2016 im Durchschnitt um 0,32 Prozentpunkte, ohne dass in diesem Zeitraum Käufe getätigt wurden.14) Die Marktenge verstärkt die Kursausschläge und erhöht die Spanne zwischen Geld- und Briefkurs (Spread). Der Liquiditäts engpass verdrängt außerdem Versicherer und Pensionsfonds als traditionelle Käufer und deren Marktbewertung. Im Ergebnis wird die Marktkontrolle außer Kraft gesetzt und durch die zentralwirtschaftlichen Entscheidungen des EZB-Rates ersetzt.

Darüber hinaus kommt es zu Preis- und Wettbewerbsverzerrungen bei der Fremdfinanzierung von Unternehmen. Den Zugang zum Anleihemarkt haben lediglich große und mittelständische Unternehmen, während kleine Unternehmen auf Bankkredite angewiesen sind. 58 Prozent der Notenbank-Transaktionen bei Unternehmensanleihen hatten ein Volumen kleiner als 10 Millionen Euro, 34 Prozent lagen zwischen 10 und 50 Millionen Euro und 8 Prozent der Käufe waren größer als 50 Millionen Euro, sodass Großemissionen vom Volumen her bevorzugt werden.15) Auch länder- und sektorspezifische Verzerrungen sind nicht ausgeschlossen.16) Außerdem erleichtert die EZB durch den Zugang zu günstigen Finanzierungsmitteln Unternehmensübernahmen und fördert die Marktkonzentration. Aktuell finanziert die Bayer AG die Übernahme der Monsanto AG unter anderem durch einen Brückenkredit der Banken in Höhe von 57 Milliarden Dollar. Sehr wahrscheinlich wird dieser durch eine günstigere Unternehmensanleihe abgelöst werden. Sollte die EZB bis zu 70 Prozent dieser Emission erwerben, würde sie zum größten Kreditgeber dieser Unternehmensübernahme. Dies wäre als industriepolitischer Eingriff zu werten.

Weil ein Großteil der Staatsanleihen aus dem Euroraum noch niedriger rentieren als Unternehmensanleihen, ist dieses Marktsegment wie auch der Pfandbriefmarkt für Banken und Kapitalanlagegesellschaften attraktiv, um der Überschussliquidität mit noch höheren Strafzinsen auszuweichen. Dass die EZB im Gegensatz zu Staatsanleihen bei Pfandbriefen und Unternehmensanleihen auch auf dem Primärmarkt tätig ist, verschärft die Konkurrenz und damit den Renditedruck nach unten. Bei Pfandbriefen kommt hinzu, dass die EZB die emittierende Bank zugleich beaufsichtigt und damit eine de facto hervorgehobene Nachfrageposition als Aufkäufer einnimmt.17) Ein Interessenkonflikt wird von der EZB auch als Grund angeführt, bislang keine Bankanleihen kaufen zu wollen.18)

Insbesondere für Versicherer und Pensionsfonds bleiben schlechtere Bonitätsklassen als BBB (Investmentgrad), die als Ankäufe für die EZB nicht infrage kommen. Dies hat neben einem generellen Renditedruck auch zu einer Einebnung der Risikoprämien zwischen den Ratingklassen geführt.19) Die Negativrenditen zwingen darüber hinaus die Banken zu einer Fristen- und Risikotransformation in längerfristige und riskantere Anlagen, um überhaupt noch Zinserträge zu erwirtschaften. Steigen jedoch die Refinanzierungskosten zukünftig infolge einer Umkehr der Geldpolitik, könnten die Geldinstitute von zwei Seiten her in Schwierigkeiten geraten.

Zum einen müssen sie sich bei gleichen Anlageerträgen teurer refinanzieren, zum anderen kann es bei den Kreditnehmern zu Ausfällen kommen, soweit sie teurere Anschlussfinanzierungen mit ihren niedrig kalkulierten internen Investitionsrenditen nicht mehr bedienen können.20) Schließlich könnten die Hypothekenkredite für "Betongold" zu einem Problem werden, wenn die Immobilienpreise wieder sinken und Privatkunden Laufzeiten kürzer als den Tilgungszeitraum gewählt haben. Es drohen massive Fehlbewertungen finanzieller Vermögenswerte ("Vermögensblasen"), die bei einer Rückkehr der Geldpolitik auf Normalmaß einer Korrektur unterliegen und erhebliche Risiken für die Realwirtschaft bilden.

Betriebswirtschaftliche Beurteilung

Ausgehend von den Prämissen (a) einer Mischfinanzierung aus Eigen- und Fremdkapital, (b) positiven Opportunitätskosten des Eigenkapitals sowie (c) einem moderat negativen Unternehmensanleihezins, der zu einem durchschnittlichen Finanzierungszins größer null führt, muss der interne Zinsfuß für die betriebswirtschaftliche Rentabilität der Investition positiv sein. Nur bei relativ hohen negativen Fremdkapitalzinsen und/oder einer vollständigen Fremdkapitalfinanzierung könnte eine Investition trotz eines negativen internen Zinsfußes betriebswirtschaftlich profitabel sein. Betriebswirtschaftlich zeigt der Finanzierungszins eine relativ geringe Knappheit der Kapitalüberlassung/Kapitalnutzung an, sodass - aus volkswirtschaftlicher Sicht - ein überoptimaler und ineffizienter Einsatz, also Kapitalverschwendung naheliegt. Der Kostendruck für die Unternehmen lässt nach und die Risikoneigung steigt.

Eigenkapital wird gegenüber Fremdkapital relativ teuer und deshalb unattraktiv. Neben den neuen Investitionsvorhaben kommt es auch im bestehenden Kapitalstock zu einer Substitution von teurem Eigenkapital durch Fremdkapital. Unternehmen nehmen Fremdkapital auf, um damit den Rückkauf von eigenen Aktien zu finanzieren.21) Der Vorteil für die Anteilseigner: Der Aktienkurs steigt, da die erzielten Unternehmensgewinne auf weniger Anteilsscheine verteilt werden müssen. Bei einem gesunkenen Verhältnis von Eigen- zu Fremdkapital und einer Gesamtkapitalrentabilität größer als der Fremdkapitalzins bewirkt ein Anstieg des Verschuldungsgrades einen Anstieg der Eigenkapitalrentabilität.

Diverse Nachteile des Leverage-Effektes

Dieser auch als Leverage-Effekt22) bezeichnete Gewinnhebel des Fremdkapitals hat jedoch verschiedene Nachteile. Der Risikopuffer des Eigenkapitals als Haftungskapital schrumpft. Das generell höhere Risiko kann zu einer Ratingabstufung führen und die Finanzierungskosten wiederum anheben. Steigen die Marktzinsen und muss bei einem Verstoß gegen den Grundsatz der Fristenkongruenz von Investitionslaufzeit und Kreditlaufzeit teuer refinanziert werden oder es sinkt die Gesamtkapitalrentabilität aufgrund einer verschlechterten Geschäftslage, so kann sich der Leverage-Effekt umkehren. Sollte gar die Notwendigkeit bestehen, aufgrund der unerwarteten Verluste eine Eigenkapitalerhöhung vornehmen zu müssen, so wird diese Phase sehr schwierig und kann den Fortbestand des Unternehmens gefährden.

Einen weiteren, das Eigenkapital schmälernden Effekt verursachen die sinkenden Renditen für Unternehmensanleihen im Rahmen der Bilanzierung von Pensionsrückstellungen.23) Gemäß den International Financial Reporting Standards (IFRS) wird die Diskontierung für Pensionszusagen auf der Basis des Rechnungslegungszinses für hochwertige, auf Euro lautende Unternehmensanleihen (AA) vorgenommen.24) Durch die mit den EZB-Ankäufen gesunkenen Zinsen sinkt zugleich der Rechnungslegungszins und somit steigen die Rückstellungen für Betriebspensionen. Im Jahresvergleich (Stand September 2016) ist dieser Zins um gut einen Prozentpunkt von 2,42 Prozent auf 1,33 Prozent gesunken. Entsprechend stiegen die Pensionsrückstellungen der 30 Dax-Unternehmen von 361 Milliarden Euro (2015) auf 428 Milliarden Euro (2016).

Der durchschnittliche Anstieg von 18,6 Prozent wird von einzelnen Unternehmen wie Lufthansa (63 Prozent), BASF (52 Prozent) und Commerzbank (46 Prozent) erheblich überschritten. Mit den steigenden Pensionsrückstellungen sinkt das Eigenkapital, allerdings zunächst nur rein rechnerisch und erfolgsneutral. Demgegenüber wirken sich Änderungen in der Höhe der Pensionsrückstellungen im handelsrechtlichen Abschluss (HGB) direkt als erfolgswirksamer Aufwand auf den Gewinn/Verlust aus. Der HGB-Rechnungslegungszins unterliegt jedoch einer abweichenden Erhebungsmethode. Indem der Durchschnitt der letzten zehn Jahre genommen wird, kommt es zu einem Verzögerungs- beziehungsweise Glättungseffekt. Seit Jahresbeginn ist dieser Zins deshalb lediglich von 4,31 Prozent auf 4,04 Prozent gesunken.25) Nach alter Berechnungsgrundlage wäre der Zins von 3,89 Prozent auf 3,28 Prozent gesunken - mit entsprechenden Auswirkungen auf das Unternehmensergebnis und einen Druck auf die Eigenkapitalquote.

Negativrenditen für Unternehmensanleihen infolge einer Ausweitung des Ankaufprogramms der EZB setzen die volkswirtschaftliche Steuerungsfunktion des Kapitalmarktzinses außer Kraft. Investitionen werden trotz einer negativen Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals betriebswirtschaftlich lohnend. Gemäß dem Leverage-Effekt substituieren die Unternehmen Eigen- durch Fremdkapital, um ihre Eigenkapitalrentabilität zu steigern. Zugleich erhöht ein gestiegener Verschuldungsgrad das unternehmerische Ausfallrisiko bei sinkenden Geschäftserwartungen und wieder anziehenden Marktzinsen. Da rüber hinaus werden Banken, Versicherer und Pensionsfonds zu einer Risiko- und Fristentransformation bei einer flacher ver laufenden Zinsstrukturkurve gezwungen, um überhaupt noch Zinserträge zu erwirtschaften.

Quellenverzeichnis

Binswanger, Mathias (2015), Geld aus dem Nichts – Wie Banken Wachstum ermöglichen und Krisen verursachen, Weinheim 2015.

Bofinger, Peter (2015), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Hallbergmoos 2015, 4. Aktualisierte Auflage.

Braunberger, Gerald (2016), Geldschwemme ohne Inflation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Juni 2016, Seite 32.

Deutsche Bundesbank (Hrsg.) (2016), Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der quantitativen Lockerung im Euro-Raum, in: Monatsberichte, 68. Jahrgang (2016), H. 6., Seite 29 – 54.

Ettel, Anja und Zschäpitz, Holger (2016), Geschäftsmodell Schulden, in: Welt am Sonntag, Berlin, 11. September 2016, Seite 38.

Frühauf, Markus (2016a), Der EZB gehen die Staatsanleihen aus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. September 2016, Seite 27.

Frühauf, Markus (2016b), EZB kauft Unternehmensanleihen unter null, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 2016, Seite 29.

Frühauf, Markus (2016c), EZB lässt Staatshaushalte künstlich gesunden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juni 2016, Seite 17.

Frühauf, Markus (2016d), Die Angst vor den verstopften Fluchtwegen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt a. M., 30. September 2016, Seite 35.

Frühauf, Markus und Braunberger, Gerald (2016), Banken fürchten Verzerrungen durch EZB-Käufe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 2016, Seite 32.

Frühauf, Markus und Plickert, Philip (2016), Unternehmensanleihen im Sog der Zentralbank, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. April 2016, Seite 23.

Hertle, Matthias (2016), 430 Milliarden Euro für Pensionen in Dax-Konzernen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt a. M., 14. Oktober 2016, Seite 22.

Meyer, Dirk (2010), Die EZB als „Marktmacher“, in: BankArchiv, 58. Jahrgang (2010), Seite 555.

Smolka, Klaus Max (2016), Billiggeld der Notenbanken fördert Unternehmenskrisen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt a. M., 14. Oktober 2016, Seite 19.

Wöhe, Günter, Döring, Ulrich und Brösel, Gerrit (2016), Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, München 2016, 26. überarbeitete und aktualisierte Auflage.

Fußnoten

1) Die Entscheidung wurde ohne die Beteiligung des Präsidenten der Deutschen Bundesbank getroffen, der turnusmäßig wegen der Rotation bei 19 Euro-Mitgliedsstaaten auf dieser Sitzung kein Stimmrecht hatte.

2) Vgl. Frühauf (2016a).

3) Vgl. Deutsche Bundesbank (2016), S. 39 ff.

4) Vgl. Braunberger (2016).

5) Vgl. Frühauf (2016a).

6) Bei Titeln mit einer Collective Action Clause (CAC)-Klausel sinkt die Quote auf maximal 25 Prozent, damit die EZB keine Sperrminorität ausüben kann.

7) Siehe ausführlich zum Kontrollverlust der Notenbanken der USA, der Schweiz und des Euroraumes hinsichtlich der Geldmenge bei Binswanger (2015), S. 257 ff.

8) Vgl. Frühauf und Braunberger (2016).

9) Vgl. Frühauf (2016b).

10) Vgl. Ettel und Zschäpitz (2016).

11) Siehe hierzu Bofinger (2015), S. 372 ff. sowie Wöhe, Döring und Brösel (2016), S. 492 ff. Begrifflich verwenden Volkswirte die Grenzleistungsfähigkeit beziehungsweise Grenzproduktivität des Kapitals und den Marktzins, während Betriebswirte zumeist den Begriff des internen Zinsfußes und den allgemeinen Kalkulationszins nutzen.

12) Nach einer Studie der Ratingagentur Standard & Poor´s würde Deutschland statt eines leichten Haushaltsüberschusses ein Defizit/BIP von 1,5 Prozent tragen und Frankreichs Defizit stiege von aktuell 3,5 auf 5,5 Prozent. Vgl. Frühauf (2016c).

13) Siehe auch ausführlich zur EZB als Marktmacher durch selektive Ankäufe von Staatsanleihen der Krisenstaaten – insbesondere Griechenlands – bei Meyer (2010).

14) Vgl. Frühauf und Braunberger (2016).

15) Vgl. Frühauf (2016b).

16) Vgl. Frühauf und Plickert (2016). Diese Probleme werden auch im EZB-Rat kritisch diskutiert. Da beispielsweise Frankreich einen Anteil am EZB-Kapitalschlüssel von 20,3 Prozent hält, französische Unternehmen aber etwa 30 Prozent der infrage kommenden Unternehmensanleihen stellen, wurde die Ankaufbindung an diesen Schlüssel aufgehoben.

17) Vgl. Frühauf und Braunberger (2016).

18) Vgl. Frühauf (2016d).

19) Vgl. die flacheren Zinsstrukturkurven nach Risikoklassen und Laufzeiten bei Frühauf und Plickert (2016).

20) Siehe auch Smolka (2016), der aus einer Diskussionsrunde von Restrukturierungsexperten berichtet.

21) Dieses Phänomen ist bislang vornehmlich bei amerikanischen Unternehmen zu beobachten. Vgl. Ettel und Zschäpitz (2016).

22) Zum Leverage-Effekt vgl. ausführlich auch Wöhe, Döring und Brösel (2016), S. 602 f.

23) Siehe Hertle (2016) sowie zu den Zahlenangaben auch die Unternehmensberatung Mercer http://www.mercer.de/our-thinking/rechnungszins-fuer-ifrs-us-gaap-bilmog-bewertungen. html (Abrufdatum 25. Oktober 2016).

24) Die IFRS-Standards sind internationale Rechnungslegungsvorschriften für Unternehmen, die vom Internatio-nal Accounting Standards Board (IASB) herausgegeben werden. Unabhängig von nationalen Rechtsvorschriften sollen sie eine international vergleichbare Rechnungslegung gewährleisten. Für die 30 DAX-Unternehmen ist die Anwendung nach EU-Recht zwingend. Die Ratingagenturen Standard&Poor’s, Fitch und Moody’s müssen die Anleihen des Rechnungslegungszinses im Durchschnitt mit AA bewerten, damit sie in den Rechnungslegungszins einfließen.

25) Bis einschließlich 2015 wurde ein siebenjähriger Durchschnitt genommen. Ab 2016 wurde – auch auf politischen Druck hin – auf einen zehnjährigen Durchschnitt erhöht, um den aktuellen Niedrigzins weniger ins Gewicht fallen zu lassen. Siehe auch Mercer http://www.mercer.de/ourthinking/ aenderung-beim-hgb-rechnungszinsverabschiedet. html (Abrufdatum 25. Oktober 2016). Vornehmlich mittelständische Unternehmen müssen ausschließlich nach HGB ihren Jahresabschluss ausweisen.

Prof. Dr. Dirk Meyer , Institut für Volkswirtschaftslehre , Helmut-Schmidt-Universität
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