Standortvergleich: Deutschland rutscht ab

Dr. Jörg Krämer Foto: Commerzbank AG

Die derzeit gute Konjunktur macht die hiesige Politik und die breite Öffentlichkeit aus Sicht der Autoren zu sorglos. Wenn die deutsche Wirtschaft weiterhin so florieren soll, wie das derzeit der Fall ist und auch in den kommenden zwei oder drei Jahren bleiben dürfte, halten sie es für dringend geboten, heute schon die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um strukturelle Probleme des Standorts Deutschlands zu beheben. Nachholbedarf sehen sie im Vergleich zu anderen Ländern etwa bei der Effizienz der öffentlichen Verwaltung und der Unternehmensbesteuerung: Um dem sich - trotz Digitalisierung - immer mehr abzeichnenden Fachkräftemangel effektiv entgegenzuwirken, plädieren sie für ein zweckmäßiges Einwanderungsgesetz. (Red.)

In Deutschland herrscht Hochkonjunktur. Ein Beschäftigungsrekord jagt den nächsten. Aber unter dieser glänzenden Oberfläche erodiert die Wettbewerbsfähigkeit auf breiter Front. Schon jetzt ist Deutschland als Wirtschaftsstandort in der EU nur noch Mittelmaß. Zu spüren sein wird diesen Wettbewerbsnachteil allerdings erst, wenn Deutschland sich aus dem nächsten Abschwung nur quälend langsam herausarbeiten wird. Frankreich lässt grüßen.

Gute Lage, gute Aussichten

Die deutsche Wirtschaft brummt. Angetrieben von ordentlich steigenden Löhnen und niedrigen Zinsen expandiert die deutsche Wirtschaft zurzeit mit einer Rate von mehr als 2 Prozent. Damit ist Deutschland der Leistungsträger der Euro-Wirtschaft. Deutschland alleine hat im vergangenen Jahr mehr als ein Viertel zum Wirtschaftswachstum der Euro-Länder beigetragen, dies dürfte 2018 nicht anders sein. Die Vorzeichen dafür stehen gut.

Das weltwirtschaftliche Klima ist ausnehmend freundlich und beschert deutschen Unternehmen volle Auftragsbücher. Deshalb ist auch für 2018 ein Wirtschaftswachstum von deutlich über 2 Prozent zu erwarten sowie neue Beschäftigungsrekorde. Diese erfreuliche wirtschaftliche Lage und die ausgesprochen guten Aussichten sorgen für ein ausgeprägtes Wohlbefinden, das allerdings die Politik einlullt und nachlässig macht. Diese Selbstzufriedenheit ist gefährlich.

So lässt sich seit Jahren beobachten, dass Deutschland in puncto Standortqualität im internationalen Vergleich zurückfällt. Während Deutschland sich vor zehn Jahren noch auf den vorderen Rängen unter EU-Ländern behauptete, ist es mittlerweile ins Mittelfeld abgerutscht (Abbildung 1).1) Das ist das Ergebnis der Analyse von Daten der Weltbank, die im Rahmen des Doing-Business-Berichts der Commerzbank im Herbst jeden Jahres veröffentlicht werden, der die Standortqualität eines Landes aus der Sicht klein- und mittelständischer Unternehmen bewertet.

Öffentliche Verwaltung behäbiger

Beispielsweise beklagen die von der Weltbank regelmäßig befragten Experten - darunter Unternehmer, Juristen, Berater, Wirtschaftsprüfer sowie Staatsbedienstete -, dass die öffentliche Verwaltung in den vergangenen Jahren behäbiger geworden sei. So dauerten etwa Gerichtsverfahren spürbar länger als vor zehn Jahren. Auch die Bearbeitung der Steuerunterlagen nehme für die Unternehmen immer mehr Zeit in Anspruch; in zwei Drittel der EU-Länder gelingt die steuerliche Abwicklung zum Teil erheblich schneller. Firmen in Großbritannien, Schweden oder den Niederlanden benötigen in etwa nur die Hälfte der Zeit.

Im Gegensatz dazu haben andere Länder, allen voran osteuropäische Staaten, Boden gut gemacht und in den vergangenen Jahren Unternehmen das Leben spürbar erleichtert. Beispielsweise haben Länder wie Lettland, Litauen, Slowenien und Tschechien konsequent das Credo verfolgt, den Staat zu verschlanken und effizienter zu gestalten. Das ist ihnen gelungen. Unternehmer können heute im Vergleich zu Deutschland in der Hälfte der Zeit Firmen gründen, und das zu einem Drittel der Kosten.

Außerdem ist Energie nur halb so teuer wie hierzulande. Und angesichts der deutschen Energiepolitik ist wohl eher damit zu rechnen, dass die Preise für Strom in den kommenden Jahren steigen und die Kosten für sämtliche Verbraucher - private Haushalte wie Unternehmen - in die Höhe treiben werden.

Steuerwettbewerb: im Hintertreffen

Auch bei den Steuern ist Deutschland ein kostspieliges Land. Das zeigen internationale Vergleiche unabhängig davon, welche Steuerabgrenzung zugrunde gelegt wird. Nach Daten der Weltbank, die die gesetzlichen Steuersätze eines typischen mittelständischen Unternehmens im Rahmen einer Fallstudie bestimmt, befindet sich Deutschland im EU-Vergleich im oberen Drittel. Gemäß der jährlichen Unternehmensteuererhebung von KPMG, die auf den höchsten gesetzlichen Steuersatz für Unternehmen in einem Land abstellt, steht Deutschland unter EU-Ländern sogar an vierter Stelle.

Ein ähnliches Ergebnis liefern die Daten der OECD und der EU-Kommission. Der Rechnungshof des US-amerikanischen Kongresses betrachtet in einer Untersuchung den Grenzsteuersatz für Unternehmen, also die Steuer auf die Gewinne einer sich gerade noch rentierenden Investition. Der Grenzsteuersatz beeinflusst die Entscheidung eines Unternehmens, ob in einem Land bereits bestehende Projekte ausgeweitet werden sollen. Auch diese Studie, die sich allerdings auf Daten von 2012 bezieht, siedelt Deutschland im Vergleich zu anderen wichtigen Ländern der Welt unter den Hochsteuerländern an.

Massive Steuerentlastungen im Ausland

Was Deutschland nicht verkennen darf, ist, dass der internationale Steuerwettbewerb schärfer wird. Besonders prominent ist die US-amerikanische Steuerreform, mit der Präsident Trump die Unternehmen um etliche Milliarden entlasten will. Kernelement dieser Reform ist eine permanente Senkung des Körperschaftsteuersatzes ab 2019 von 35 Prozent auf etwas über 20 Prozent. Zusätzlich sollen 100-prozentige Sofortabschreibungen bei bestimmten Investitionen möglich sein.

Italien hat bereits 2017 den Steuersatz für Industrieunternehmen um ein Fünftel verringert und liegt damit nur noch knapp über dem Mittel der OECD-Länder. In Frankreich plant Emmanuel Macron, in den kommenden fünf Jahren seiner Präsidentschaft den Steuersatz für Unternehmen sogar um ein Viertel zu senken. Auch die niederländische Regierung will die Unternehmensteuer schrittweise um einige Prozentpunkte verringern.

Deutschland täte gut daran, sich diesem Trend nicht zu verschließen. Deutsche Produkte sind international ausgesprochen konkurrenzfähig. Ebenso wettbewerbsfähig sollte die deutsche Steuerlandschaft sein. Allerdings steht zu befürchten, dass in der kommenden Legislaturperiode kaum mit Steuerentlastungen für Unternehmen zu rechnen sein wird. Auf der politischen Agenda steht wohl eher eine Umverteilungspolitik, allen voran in Form von höheren Sozialleistungen wie Renten und verbesserten Kranken- und Pflegeleistungen.

Verschärfter Fachkräftemangel

Darüber hinaus beklagen immer mehr Unternehmen in verschiedenen Branchen einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Zwar betont die Bundesagen - tur für Arbeit (BA) regelmäßig in ihren halbjährlich erscheinenden Fachkräfteengpassanalysen, dass es "keinen flächen deckenden Fachkräftemangel in Deutschland" gebe. Allerdings zeigt eine distanzierte Betrachtung der Daten der BA, dass jedenfalls ein ausgeprägter partieller Fachkräftemangel diagnostiziert werden kann, und zwar für sämtliche Qualifikationsstufen (Facharbeiter, Techniker/Meister, Akademiker) ausgenommen der ungelernten Arbeitskräfte.

Beispielsweise stehen laut Fachkräfteengpassanalyse vom Sommer 2017 im Tiefbau gerade einmal 70 arbeitssuchende Meister beziehungsweise Techniker 100 offenen Stellen gegenüber. So ist es schon jetzt in verschiedenen Berufen schwer und erst nach mehreren Monaten möglich, eine vakante Stelle zu besetzen. Angesichts der guten Konjunktur und der zunehmenden Beschäftigung, die die deutsche Wirtschaft an die Vollbeschäftigung heranbringen, ist dies wenig verblüffend.

Dieser Fachkräftemangel wird sich in den nächsten Jahren verschärfen. Denn die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften wird weiter hoch bleiben. Gleichzeitig ist die Bevölkerungsentwicklung im Trend rückläufig. Unter den sieben größten Volkswirtschaften der EU verzeichnet Deutschland zusammen mit Italien den stärksten Rückgang der Personen im erwerbsfähigen Alter, nämlich durchschnittlich 0,5 Prozent bis 2025 und sogar 0,7 Prozent bis 2030. Dabei rechnen die Statistiker schon mit einer jährlichen Netto-Zuwanderung nach Deutschland von 200 000 Personen.

Steigender Lebensstandard in Osteuropa

Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren zwar rund 300 000 Personen pro Jahr zugezogen - wenn man von der Flüchtlingswelle absieht. Aber es ist zu bezweifeln, dass dieser starke Zustrom aus dem Ausland auf Dauer anhalten wird. Denn die Gründe, die Menschen dazu veranlassten, aus ihren Heimatländern nach Deutschland auszuwandern - allen voran die Euroländer, die unter der Finanzkrise besonders gelitten haben, sowie osteuropäische Länder - entfallen zusehends.

Die wirtschaftliche Erholung der von der Finanzkrise besonders gebeutelten Euroländer, aus denen in den vergangenen Jahren rund 60 000 Personen jährlich nach Deutschland zugewandert sind, setzt sich fort und die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern fällt. Bereits seit 2014/2015 ist ein Rückgang des Zuzugs aus diesen Ländern zu beobachten. In den Ländern Osteuropas, aus denen sogar weit mehr Personen als aus den Krisenländern eingewandert sind, bietet der stetig steigende Lebensstandard den Landsleuten einen Anreiz, nicht ins Ausland zu gehen. So ist auch in Polen seit 2014 eine Trendumkehr zu verzeichnen.

Auch die im Zuge der Flüchtlingskrise Zugewanderten dürften das Problem des qualifizierten Arbeitskräftemangels nur schwerlich abfedern können. Denn laut einer gemeinschaftlichen Analyse2) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben 20 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge, die zwischen 2013 und Anfang 2016 nach Deutschland gekommen sind, maximal eine Grundschule besucht; weitere 10 Prozent waren zwar auf einer Mittelschule, haben allerdings keinen Abschluss. Hinsichtlich der Berufs- und Hochschulbildung haben mehr als zwei Drittel der über 18-jährigen Geflüchteten keine Ausbildung.

Zweckmäßiges Einwanderungsgesetz

Ein Teil der Lösung wäre ein zielgerichtetes Einwanderungsgesetz etwa nach kanadischem Vorbild, das das bisherige komplexe und umständliche Regelwerk ersetzt. Beispielsweise könnte ein Punktesystem einen schnellen Überblick über die Qualifikationen etwa in den Bereichen Sprache, Alter, Schulbildung, Berufsbildung eines Bewerbers aus dem außereuropäischen Ausland gewährleisten.

Mit einem entsprechenden Tableau auf der Unternehmensseite kann deren konkreter Bedarf ermittelt und mittels Matching-Verfahren - derartige statistische Prozesse werden sehr erfolgreich im Personalmanagement eingesetzt - passgenau gedeckt werden. Mit einer entsprechenden Ausgestaltung kann mit justierbaren Schwellwerten flexibel auf sich verändernde Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft reagiert werden.

Digitalisierung: Jobvernichter und Jobmaschine zugleich

Dass die voranschreitende Digitalisierung Teil der "Lösung" sein kann, ist nicht zu erwarten. Sicherlich werden digitale Prozesse in einigen Bereichen Fachkräfte ersetzen und damit den Engpass bei qualifizierten Arbeitskräften mildern. Gleichzeitig entstehen durch die Digitalisierung neue Berufsbilder, was an dieser Stelle die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften wiederum erhöht.

Dabei sind die neuen Berufe recht vielseitig: Der E-Learning-Konzepter beispielsweise entwickelt Lern- und Schulungslösungen, die online durchgeführt werden. Was früher der Teamassistent war, ist heute der Virtuelle Assistent, der - ausgerüstet mit einem Notebook, Onlinetools und Internetverbindung - vor allem ortsunabhängig arbeitende Teams unterstützt. Mobile Developer haben sich darauf spezialisiert, Apps für mobile Geräte zu entwickeln und programmieren. Der IT-Security Manager plant und konzipiert die IT-Sicherheitsarchitektur und -infrastruktur von Unternehmen. Der Big Data Scientist entwickelt und etabliert Verfahren für die Verarbeitung großer Datenmengen, um wichtige Entscheidungen durch Daten zu unterstützen. Insofern wird der Fachkräftemangel insgesamt wohl nicht entschärft, sondern zumindest verlagert, wenn nicht verschärft.

Italienische Lohnstückkosten

Ein weiterer ernüchternder Aspekt des Standortvergleichs ist, dass Deutschland bereits seit Jahren seinen Vorsprung bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit schrittweise einbüßt, den das Land sich zuvor erarbeitet hat. Während zu Beginn der 2000er Jahre die Lohnstückkosten in den restlichen Euroländern ordentlich zulegten, blieben diese in Deutschland bis 2005 weitgehend unverändert und gingen sogar in den beiden Folgejahren wegen der allseits geübten Lohnzurückhaltung zurück (Abbildung 2). Dies hat mit dazu beigetragen, dass Deutschland sich aus der Wachstumsschwäche zwischen den Jahren 2002 und 2005 befreien und wiedererstarken konnte.

Allerdings steigen die Lohnstückkosten in Deutschland seit etlichen Jahren ähnlich schnell wie in Italien zu Beginn der 2000er Jahre und damit spürbar schneller als in den anderen Euro-Partnerländern. Ein maßgeblicher Grund dafür ist das Zurückrollen der Schröder'schen Arbeitsmarktreformen. Einschränkungen bei der Zeitarbeit oder etwa die striktere Regulierung bei Werkverträgen haben die Kosten der Unternehmen spürbar erhöht, zu denen ebenfalls der 2015 eingeführte Mindestlohn sein Quantum beiträgt.

Das böse Erwachen wird kommen

Vor diesem Hintergrund hat Deutschland alleine in den vergangenen fünf Jahren bereits die Hälfte seines Wettbewerbsvorsprungs eingebüßt. Der Blick nach vorn lässt allerdings ebenso wenig Optimismus aufkeimen. Denn die derzeitige politische Konstellation macht es wahrscheinlich, dass die neue Bundesregierung den Arbeitsmarkt stärker regulieren

wird und damit die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft

weiter erodiert.

Während der ein oder andere schon das Unheil ahnt, macht die gute Konjunktur zurzeit viele noch sorglos. Tatsächlich wird sich die gute Konjunktur in den kommenden zwei, drei Jahren fortsetzen und man wird noch nichts von den unterliegenden strukturellen Problemen spüren. In die Bredouille wird Deutschland erst dann geraten, wenn die Wirtschaft nach dem nächsten Abschwung nicht wie nach der Finanz- und Schuldenkrise wie Phönix aus der Asche rasch und glänzend aufersteht, sondern Deutschland - ähnlich wie die Peripherieländer oder Frankreich oder Italien - sich aus der nächsten Rezession nur quälend langsam und mit großer Mühe herausarbeiten wird. Dann könnte es Deutschland nicht anders ergehen als Frankreich nach der Finanzkrise.

Fußnoten

1) Siehe "Standortqualität: Mittelmäßiges Deutschland", Economic Insight vom 9. November 2017.

2) IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten, BAMF-Kurzanalyse, Mai 2016.

Dr. Jörg Krämer Chefvolkswirt, Commerzbank AG, Frankfurt am Main
Dr. Marco Wagner Senior Economist, Commerzbank AG, Frankfurt am Main
 

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